Zu dieser so geförderten katholischen Elite gehörten z.B. Dietmar Grimm und Paul Kirchhof (Verfassungsrichter), Hans Tietmeyers (Bundesbankpräsident), Heinz Riesenhuber (Bundesminister), Oskar Lafontaine: Physiker, Politiker. (11)
Im Klappentext von Christian Schmidtmanns im Jahr 2006 veröffentlichten Dissertation steht:
„Man könnte sie die 'Ratzinger Generation' nennen, die katholischen Akademiker, die unmittelbar nach 1945 ein Studium aufnahmen und später Schlüsselpositionen in Kirche und Politik, in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft besetzten: Rainer Barzel, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ernst Elitz, Helmut Kohl oder Josef Ratzinger."
Nachdem die katholische Kirche in Deutschland im Jahr 2010 die sexualisierte Gewalt und religiöse Einschüchterungs-Indoktrination an ihren Klosterschulen nicht mehr leugnen kann und in der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass der damalige Kardinal Ratzinger die Befehlsmacht des Geheimschreibens von Kardinal Ottavani von 1962 im Jahr 2001 erneuerte und bestätigte, indem er die „ausschließliche Kompetenz des Vatikans“ für pädosexuelle Straftaten betont und sämtlichen Bischöfen befiehlt, alle Fälle ausschließlich dem Vatikan zu melden und bei Übertretung die Exkommunikation androht, wird die „Ratzinger Generation“ aus einer anderen Perspektive gesehen. (12)
Die enge Verschmelzung zwischen Staat und Kirche und die Besetzung höchster Ämter durch katholisch sozialisierte männliche Führungskräfte erklärt die Zurückhaltung bei den Aufklärungsbestrebungen und bei der Erschließung von Hilfeangeboten. Zu groß ist die Angst vor Ansehensverlust der „Privilegierten“, wenn offenkundig würde, wie gedemütigt und entehrt zahlreiche Führungseliten sich im Inneren fühlen müssen.
In den 1970er Jahren kam es bereits zu großen Kirchenaustrittswellen, da die Bevölkerung sich unzumutbaren sexualfeindlichen Anforderungen der Kirchen widersetzte. In den 1980er Jahren wurde die Problematik der sexualisierten Gewalt durch die Frauenbewegung verstärkt öffentlich thematisiert. Aus dieser Zeit stammt auch der Slogan „Kinder ermutigen Nein zu sagen“. Das Engagement für Menschenrechte von Kindern muss ein fortdauernder Prozess sein. (13) Wie wir heute wissen (könnten), reicht es nicht aus, Kinder im Nein-Sagen-Können zu stärken, denn Kinder wehren und wehrten sich durchaus und auf vielfältige Weise, z. B. indem sie sich wegdrehen, weinen, den Mund fest zusammenpressen, nachts sicherheitshalber so lange wachbleiben, wie es nur geht, zwei Unterhosen tragen, weglaufen, betteln, „dort“ nicht mehr hingehen zu müssen. Die Idee, dass ein Kind sich hätte schützen können, wenn es nur deutlicher Nein gesagt hätte, ignoriert die realen Machtverhältnisse. Täter ignorieren dieses kindliche Nein offensiv, bis es bricht und resigniert. Angehörige und Vertrauenspersonen, so zeigen die Erzählungen von betroffenen Kindern, „halten nicht für möglich“, was „nicht sein darf“ und lehren ihre Kinder, ebenso autoritätshörig und opportunistisch zu sein wie sie selbst. (14)
Es muss also darum gehen, Kinderrechte zu stärken und damit einhergehend die empathische Verantwortung der Bezugspersonen. Diese Blindheit für die potentielle Täterschaft durch Menschen „geweihten Lebens“ (kath. Bezeichnung für Kleriker und Nonnen) (15) ist durch die Definition der Selbst-Heiligsprechung der katholischen Kirche (16) mit ihren Gehorsamkeitsansprüchen den Gläubigen quasi verordnet. Die Kirche stellt sich damit in einen rechtsfreien Raum, da sie sich als „nicht von dieser Welt“ betrachtet und erschwert den Einsatz der Eltern für ihre Kinder. (17) Daher ist eine spezifische Betrachtung der Kriminalität im religiösen Kontext notwendig.
Zu wünschen ist, dass diese durch unethische religiöse und politische Machtinteressen in Ausgestoßene und Eliten dissoziierte Gesellschaft sich solidarisieren kann und die so verschieden sozialisierten Betroffenengruppen miteinander ins Gespräch kommen.
Daniela Gerstner
Deutschland Deine Kinder (1) 17.12.2010
Redaktion: Evelin Frerk
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Anmerkungen:
(1) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Praxis der Vertuschung.
(2) Vgl: Wulf D.Hund: Rassismus, Bielefeld, 2007
(3) Vgl. z.B.: Zum Gutachten des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München durch die Juristin Marion Westpfahl.
z.B. Untersuchung am Aloisiuskolleg.
(4) Bundeskanzlerin Angela Merkel.
(5) Vgl. Franz Buggle: Ist christliche Erziehung heute noch verantwortbar? In: Yvonne Boenke: Lieber einen Knick in der Biographie als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(6) Vgl. zur Finanzierung der kirchlichen Institutionen aus allgemeinen Steuergeldern: Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen, Aschaffenburg 2010
(7) Vgl. z.B. Wanderausstellung über das Kinderheim Glückstadt; siehe auch einen weiteren Bericht.
(8) Vgl: Daniela Gerstner: Folgen intensiver katholischer Mädchenerziehung, in: Yvonne Boenke (Hrsg.): Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(9) Christian Schmidtmann: Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn, 2006 (S. 33)
(10) Geschichte des Cusanus Werk. (S.4,5)
(11) Vgl: Schmidtmann, (S. 177, 178)
(12) Vgl. Uta Ranke-Heinemann: Der Papst weint Krokodilstränen, in: Yvonne Boenke (Hrsg.): Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(13) Vgl. Kinderrechtskonvention.
(14) Vgl. Prof. Dr. Kurt Singer über Zivilcourage in der Schule.
(15) Vgl. Predigt von Papst Benedikt.
(16) Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche.
(17) Vgl. Prof. Dr. Kurt Singer: Elternsprechtag – Wie beim Beichten?