HEIDELBERG. (hpd) Den Spitznamen „Meister Popper“ verdankt er nicht nur seinem Charakterkopf, der an eine bekannte Werbefigur erinnert, sondern auch der Tatsache, dass er Poppers „Kritischen Rationalismus“ mit unerreichter Klarheit auf den Punkt brachte. Heute feiert Hans Albert seinen 90. Geburtstag. Michael Schmidt-Salomon gratuliert.
Als ich Hans Alberts Klassiker „Traktat über kritische Vernunft“ Anfang der 1990er Jahre das erste Mal las, betrachtete ich das zunächst einmal als „Feindlektüre“. Im „linkem Milieu“ sozialisiert, schien mir klar zu sein, auf welche Seite ich mich im sog. „Positivismusstreit“ zu schlagen hatte: natürlich auf die Seite der „Kritischen Theoretiker“ Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm, Bloch oder Habermas, die der „bösen Welt“ ein entschiedenes „Nein“ entgegenschleuderten. Die „Kritischen Rationalisten“ hingegen – allen voran Karl Popper und Hans Albert – residierten für mich (wie für die meisten „Linken“) auf der „anderen Seite“ des ideologischen Grabens, standen sie doch unter dem Verdacht, alle Ungerechtigkeiten dieser Welt mittels oberflächlicher Sozialtechnologie konservieren zu wollen.
Man kann also sagen, dass ich Alberts „Traktat über kritische Vernunft“ mit einer ordentlichen Voreingenommenheit zur Hand nahm: Ich wollte dieses Buch einfach nicht gut finden! Nur: Dieses Vorhaben ließ sich beim besten Willen nicht umsetzen! Kaum hatte ich die Einleitung „Rationalität und Engagement“ gelesen, begannen meine Vorurteile zu bröckeln. Nach dem ersten Kapitel „Das Problem der Begründung“, in dem Albert anhand des „Münchhausen-Trilemmas“ aufzeigt, dass die Suche nach einem „archimedischen Punkt der Erkenntnis“ zum Scheitern verurteilt ist, war ich tief beeindruckt, nach der Lektüre des zweiten Kapitels „Die Idee der Kritik“ mit seiner schnörkellosen Darstellung des „Prinzips der kritischen Prüfung“ regelrecht begeistert. Schon nach der Lektüre des dritten Kapitels „Erkenntnis und Entscheidung“ stellte ich verblüfft fest, dass ich gerade zum Kritischen Rationalismus „konvertiert“ war.
Eine vergleichbare Wirkung hatte auf mich kein anderes Buch, weder vorher noch nachher. Zwar habe ich viele gute Bücher gelesen, die mich stark beeindruckten, aber kein Werk hat mich je so sehr gezwungen, meine eigenen Vorannahmen zu revidieren. Kurzum: Wenn ich jemals so etwas wie ein „Heureka-Erlebnis“ hatte, dann bei der Lektüre des „Traktats“. Schlagartig wurde mir bewusst, wie sehr der Dogmatismus, der mir bei den Offenbarungsreligionen übel aufgestoßen war, auch außerhalb der traditionellen Religionen sein Unwesen trieb. Wie ich mir eingestehen musste, hatte ich selbst in der Vergangenheit alles Erdenkliche getan, um mich „gegen Kritik zu immunisieren“. Damit sollte nun Schluss sein! Ich beschloss, Alberts Rat zu befolgen und den „Kritizismus“ nicht bloß als „abstraktes Prinzip“, sondern als „Lebensweise“ zu begreifen.
Doch hielt sich Hans Albert selbst an diese Maxime? Von Karl Popper wurde ja gemunkelt, dass er seinen Antidogmatismus mitunter auf recht dogmatische Weise vertreten hat. Traf dies auch auf Hans Albert zu? Vor zehn Jahren, als ich auf einem Symposium zum 80. Geburtstag Alberts vortragen durfte, hatte ich erstmals Gelegenheit, dies empirisch zu überprüfen. Nachdem ich viele seiner Veröffentlichungen gelesen hatte (neben dem „Traktat“ zählte vor allem „Das Elend der Theologie“ zu meinen Lieblingsbüchern), war ich natürlich gespannt, den Menschen hinter dem Werk kennenzulernen. Und ich wurde nicht enttäuscht: Von akademischem Standesdünkel oder philosophischem Dogmatismus war bei Hans Albert rein gar nichts zu spüren.
Grete und Hans Albert / Foto © Evelin Frerk Mit seinen 80 Jahren wirkte er geistig flexibler und weltoffener als die meisten seiner oft nur halb so alten Mitdiskutanten. Vor allem aber beeindruckten mich seine große Bescheidenheit und sein ausgeprägter Sinn für Humor. (Typisch für ihn, wie er sich seiner Frau Grete beim ersten Treffen vorstellte: „Hans albert – dies ist ein vollständiger Satz!“ Charakteristisch auch seine Antwort auf die Frage von Ricarda Hinz im Darwin-Jahr 2009, warum er ein „Evoluzzer“ sei: „Weil ich im Alter das ‚R‘ verloren habe…“)
Ohne seinen Humor, seine Bescheidenheit, seine Flexibilität wäre es ihm sicherlich nicht möglich gewesen, die Freundschaft sowohl mit Karl Popper als auch mit Paul Feyerabend aufrechtzuerhalten, nachdem sich die beiden Erkenntnistheoretiker böse überworfen hatten (siehe hierzu die faszinierenden Briefbände Popper-Albert und Feyerabend-Albert, die in den letzten Jahren erschienen sind). Dem „undogmatischen Problemlöser“ Hans Albert lag Lagerdenken einfach fern. Zwar vertrat er seine Standpunkte stets in aller gebotenen Deutlichkeit, doch beanspruchte er dabei niemals, irrtumsfrei zu sein. (Theoretisch behaupteten dies viele, doch im praktischen Leben hat dies kaum jemand so konsequent umgesetzt wie er.)
Das heißt nicht, dass Hans Albert als Theoretiker bereit gewesen wäre, „faule Kompromisse“ einzugehen. Vor allem „große Worte ohne Substanz“ stachelten seine Lust an der Kritik immer wieder an. Ich erinnere mich gut an ein Symposium anlässlich seines 85. Geburtstags in Heidelberg: Ein hoch dekorierter Referent hielt damals einen typischen, geisteswissenschaftlichen Vortrag mit allerlei altgriechischen und lateinischen Zitaten, exotischen Fremdwörtern und derart kunstvoll verschachtelten Nebensätzen, dass kaum einer der Zuhörenden den Sinn des Ganzen noch zu erfassen vermochte. Als Hans Albert um ein kurzes Statement gebeten wurde, huschte ein schalkiges Lächeln über sein Gesicht. Er erklärte, dass er bedauerlicherweise nicht alles verstanden habe, doch höchst beeindruckt sei von der enormen Gelehrsamkeit des Kollegen. Nur eines hätte er am Ende doch allzu gerne gewusst: „Welches Problem wollten Sie mit ihrem Vortrag eigentlich lösen?“ (Ich musste mich in diesem Moment sehr zügeln, um nicht loszuprusten.)
Aus Alberts Aversion gegen substanzlose Argumentationen resultierten einige seiner schönsten Kritiken. Nachdem in der Vergangenheit vor allem die berühmten Philosophenkollegen Habermas und Apel sowie der Theologe Küng mit dem „Geschenk der Kritik“ bedacht worden waren, musste 2008 der Papst höchstpersönlich dran glauben: In „Joseph Ratzingers Rettung des Christentums – Beschränkungen des Vernunftgebrauchs im Dienste des Glaubens“ zeigte Hans Albert in beeindruckender Weise, dass er auch im hohen Alter nichts von seiner intellektuellen Brillanz, seiner gedanklichen Klarheit und seinem scharfzüngigen Humor eingebüßt hat.
Ich denke, im Namen der gesamten Giordano-Bruno-Stiftung (der Hans Albert seit ihrer Gründung 2004 angehört) sprechen zu können, wenn ich sage, dass es für uns alle eine ganz besondere Ehre und Freude ist, mit einem solchen Mann zusammenarbeiten zu dürfen.
Ich wünsche dir, lieber Hans, zu deinem 90. Geburtstag alles erdenklich Gute! Auf dass du die Welt noch viele Jahre mit deiner Kritik beschenken kannst: Sie hat es wahrlich verdient…