Was gibt uns ein Recht auf Leben?

Beispielbild
Fotos: Jutta Hof/editionpanorama
Wozu sind Rechte da: Korrespondenztheorie

Nichts von dem bisher Gesagten könnte Behindertengruppen einen Anlass dazu geben, Peter Singer zu kritisieren. Warum tun sie es dann aber? Dies hat mit seiner „Korrespondenztheorie“ zu tun. Diese Theorie ergibt sich aus der Frage, wozu Rechte eigentlich da sind. Rechte, würde Singer sagen, sind dazu da, besonders elementare Interessen zu schützen. Da wir beispielsweise ein großes Interesse an der freien Äußerung unserer Meinung haben, ist es sinnvoll, allen Menschen ein „Recht auf Meinungsfreiheit“ einzuräumen, das nicht nur von unserer Moral, sondern auch von unseren Gesetzen geschützt wird.

Wie das Beispiel der Meinungsfreiheit deutlich macht, ist es aber nur sinnvoll, solchen Wesen ein Recht auf Meinungsfreiheit zu geben, die auch ein elementares Interesse daran haben. Insofern etwa Ziegen, Schafe und Rinder kein solches Interesse haben können, wäre es abwegig, ihnen ein solches Recht einräumen zu wollen. Mit anderen Worten: Um ein bestimmtes Recht beanspruchen zu können, muss ein Wesen zumindest über dasjenige Interesse verfügen, das durch dieses Recht überhaupt erst geschützt werden soll. So wie es keinen Sinn macht, Tieren ein Recht auf Meinungsfreiheit zu gewähren, so macht es selbstverständlich auch keinen Sinn, ihnen ein Recht auf Religionsfreiheit einzuräumen - einfach, weil Tiere gar nicht über die hierzu erforderlichen Interessen verfügen.

Was für Tiere gilt, gilt aber auch für Menschen. Ein menschlicher Embryo beispielsweise ist lediglich eine kleine Ansammlung von Zellen. Da er noch kein ausgebildetes Nervensystem hat, verfügt er weder über Bewusstsein noch über Schmerzempfinden. Ohne ein Bewusstsein kann ein Wesen aber keine Interessen haben. Und wenn ein Wesen keine Interessen hat, gibt es auch keine zu berücksichtigen. Folglich hat Singer kein Problem damit, im Rahmen der künstlichen Befruchtung erzeugte Embryonen zu verwerfen oder sie für die Stammzellforschung zur Verfügung zu stellen.

Gleiches gilt für Feten. Zumindest während des ersten Trimesters verfügen auch Feten noch über keinerlei Bewusstsein. Folglich können sie auch keine Interessen haben. Und wenn sie keine Interessen haben, können sie selbstverständlich auch abgetrieben werden. Mit anderen Worten: Eine Abtreibung kann kein Interesse des Fetus verletzen, weil ein Fetus einfach noch keine Interessen hat.

Obgleich wir es nach wie vor nicht mit Bestimmtheit wissen, scheinen Feten doch zumindest im Laufe des zweiten Trimesters die neuronalen Grundlagen zu entwickeln, die für ein Bewusstsein unerlässlich sind. Ab dem Zeitpunkt, an dem sie Bewusstsein erlangen, dürften sie auch schmerzempfindlich sein. Und mit der Empfindungsfähigkeit dürften sie auch ein Interesse daran entwickeln, dass man ihnen nicht willkürlich Schmerzen zufügt.

Bewusstsein und Selbstbewusstsein

Schließlich und endlich gilt das Gesagte aber auch von Neonaten oder Neugeborenen. Ein neugeborenes Baby verfügt sicher über ein Bewusstsein und kann Schmerzen empfinden. Angesichts seiner Empfindungsfähigkeit sollten wir es deshalb selbstverständlich auch nicht unnötigen Leiden aussetzen. Doch - und das ist jetzt der springende Punkt in Singers Ethik! - ein Interesse, nicht gequält zu werden, ist nicht gleichbedeutend mit einem Interesse, nicht getötet zu werden. Um ein Recht darauf zu haben, nicht getötet zu werden, bedarf es mehr als eines Interesses nicht gequält zu werden - es bedarf eines Interesses an seinem eigenen Überleben! Ein Interesse an seinem eigenen Überleben kann jedoch nur ein solches Wesen haben, das nicht nur über eine Vorstellung von sich selbst, sondern auch über eine Vorstellung von der Zukunft verfügt. Was meiner Tötung entgegensteht, ist schließlich die Tatsache, dass ich über ein Bewusstsein meiner selbst verfüge und ein Interesse daran habe, auch morgen, übermorgen, ja sogar in Jahren noch leben und nicht getötet werden zu wollen. All dies aber setzt voraus, dass man ein "Ich" hat, eine Vorstellung von sich selbst als einer Person mit einer eigenen Vergangenheit und einer eigenen Zukunft.

Nach Singer haben also nur Wesen mit einem Selbstbewusstsein einen Anspruch auf ein Recht auf Leben. Wesen, die lediglich über Bewusstsein verfügen, haben dagegen nur ein Recht darauf, nicht willkürlich gequält zu werden.

Scheinbar kontraintuitive Schlüsse

Sobald man dies in Rechnung stellt, wird auch die eine oder andere scheinbar kontraintuitive Schlussfolgerung Singers verständlich. Weshalb spricht er sich für den Vegetarismus aus? Nicht, weil Rinder, Schafe oder Schweine ein Recht auf Leben hätten, sondern weil sie ein Recht darauf haben, nicht unnötig gequält zu werden. Da sich die allermeisten Menschen statt karnivor auch vegetarisch ernähren können, sollten wir Tiere nicht den unnötigen Qualen der industriellen Massentierhaltung aussetzen.

Weshalb wäre es Singer lieber, wir würden mit menschlichen Embryonen als mit ausgewachsenen Tieren experimentieren? Weil ausgewachsene Tiere sowohl über Bewusstsein als auch über Schmerzempfinden verfügen. Sie haben ein Interesse daran, nicht willkürlich gequält zu werden. Menschliche Embryonen hingegen sind noch außerstande, irgendwelche Interessen zu haben.

Und schließlich: Weshalb betrachtet Singer die Tötung eines erwachsenen Schimpansen als ein größeres Unrecht als die Tötung eines schwerstgeschädigten Säuglings? Weil ein ausgewachsener Schimpanse über ein Bewusstsein seiner selbst und damit auch über ein Recht auf Leben verfügt. Ein Säugling dagegen verfügt noch über keinerlei Selbstbewusstsein. Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich nachweislich erst im Laufe der ersten Lebensmonate.

Mit alledem im Hinterkopf können wir jetzt auch die Missverständnisse ausräumen, denen die Behindertenbewegungen aufsitzen. Da Singer die Tötung eines Schimpansen als ein größeres Unrecht betrachtet als die Tötung eines schwerstgeschädigten Neugeborenen, meinen sie, dass er Tiere gegenüber Behinderten vorziehe. Doch dies ist falsch! Was den entscheidenden Unterschied ausmacht, ist, dass ein erwachsener Schimpanse bereits über ein Ichbewusstsein verfügt, ein neugeborenes Baby dagegen noch nicht. Es hat nichts mit der Behinderung zu tun.

Ein Recht auf Leben und auf Freiheit

Genauso falsch wie die Behauptung, dass Singer Tiere Behinderten vorziehe, ist die Behauptung, dass er Behinderten nicht die gleichen Rechte einräume wie Nicht-Behinderten. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Sobald ein Mensch über ein eigenes Ich-Bewusstsein verfügt, hat er dieselben Rechte wie jeder andere, ganz gleich, ob er nun von einer Trisomie 21, von Spina bifida oder vom Tay-Sachs-Syndrom betroffen ist. Genau wie Nicht-Behinderte haben auch Behinderte ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Leben, auf Freiheit, auf körperliche Unversehrtheit, auf Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw.

Aus dem gerade Gesagten dürfte deutlich werden, dass auch Hubert Hüppe einem fatalen Missverständnis aufsitzt, wenn er behauptet, dass Singer den Wert eines Menschen von dessen Nützlichkeit abhängig mache. Ein von Trisomie 21 betroffener Mensch mag eine geringere „wirtschaftliche Nützlichkeit“ für die Gesellschaft besitzen als, sagen wir, Angela Merkel. Dennoch haben beide dieselben Rechte. Dass der eine in einer betreuten Wohngruppe leben mag, die andere dagegen im Bundestag tätig ist, ändert nichts an der Tatsache, dass beide über ein Interesse an ihrem eigenen Überleben verfügen. Beider Leben steht daher prinzipiell auch unter dem gleichen Schutz.

Pränataldiagnostik und PID

Das vierte und letzte Missverständnis, auf das hier noch kurz eingegangen werden soll, besteht in der Behauptung, dass Singer den Wert des Lebens von Menschen mit Behinderungen geringer schätzt als den Wert des Lebens vom Menschen ohne Behinderungen. Dies wird im Allgemeinen aus der Tatsache abgeleitet, dass Singer ein Verteidiger der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik ist. Seiner Meinung nach sollten Eltern das Recht haben, selbst darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind, das von Behinderungen betroffen ist, austragen und aufziehen wollen. Die Entscheidung eines Paares, ein Kind mit Down-Syndrom abzutreiben, muss jedoch keineswegs auch ein Urteil über den Wert eines solchen Lebens enthalten. Die betroffenen Paare wissen in aller Regel sehr genau, dass das Leben eines Menschen mit Trisomie 21 genauso lebenswert ist wie das Leben eines jeden anderen Menschen.

Wenn sie sich dennoch zu einer Abtreibung entschließen, liegt dies nicht an einem moralischen Werturteil, sondern an einer persönlichen Vorliebe. Sie bezweifeln nicht, dass Down-Kinder glücklich, wenn nicht gar weit glücklicher sein mögen, doch sie denken auch an die Konsequenzen, die die Geburt eines solchen Kindes für ihr Leben hat. Ein Kind mit Down-Syndrom aufzuziehen, geht mit vielen persönlichen Einschränkungen einher - Einschränkungen, die sie nicht auf sich nehmen wollen. Man mag dies als egoistisch verurteilen, doch da weder Embryonen noch Feten ein Recht auf Leben haben, ist es durchaus zulässig.

Edgar Dahl war einige Zeit Assistent von Peter Singer an dessen Institut in Melbourne