Rezension

Die Endlichkeit als Sinnstiftung und Freiheit

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"Dieses eine Leben", so lautet der Titel von Martin Hägglunds Buch, in dem der an der Yale University lehrende Philosoph der Frage nachgeht, was ein sinnvolles Leben ausmacht. Bereits der Untertitel "Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus" deutet an, dass er einen komplexen Zugang gewählt hat: Philosophie nicht als bloße Theorie, sondern als Anregung, die eigene Lebensführung zu hinterfragen und gezielt auszurichten.

Martin Hägglund wagt mit "Dieses eine Leben" eine philosophische Gratwanderung zwischen existenzieller Dringlichkeit, religionskritischer Analyse und einer Neuverhandlung gesellschaftlicher Werte. Sein zentrales Anliegen: das Bewusstsein für die Endlichkeit unseres Lebens nicht als Bürde, sondern als fundamentale Grundlage für Sinnstiftung und wahre Freiheit zu begreifen. In einer Welt, die von religiösen Jenseitsvorstellungen und kapitalistischen Zwängen geprägt ist, entwirft Hägglund eine neue Ethik – eine, die unser diesseitiges Leben radikal in den Mittelpunkt stellt.

Es geht um Zeit und um Sinn – und letztlich geht es um die Frage: Wie können wir unsere Lebenszeit sinnvoll nutzen? Zeit ist das beherrschende Thema in Hägglunds Denken. Schon in seinem Buch "Dying for Time" hat er sich mit den Büchern von Marcel Proust, Virginia Woolf und Vladimir Nabokov beschäftigt, um mit Hilfe von Sigmund Freud und Jacques Lacan eine originelle Theorie des Verhältnisses von Zeit und Begehren, Trauer und Melancholie, Lust und Schmerz, Bindung und Verlust zu entwickeln.

Kritik am religiösen Glauben

Der gebürtige Schwede argumentiert, dass traditionelle Religionen uns mit ihren Versprechen eines ewigen Lebens paradoxerweise von der wahren Bedeutung unseres endlichen Daseins entfremden. Wenn das Leben nicht begrenzt wäre, besäße es weder Dringlichkeit noch Wert. Gerade diese Endlichkeit ist jedoch sinnstiftend. Hägglund setzt sich intensiv mit theologischen Konzepten auseinander und kritisiert das Jenseitsversprechen der Religionen. "Religiös sein und das Leben aus religiöser Perspektive zu betrachten heißt, unsere Endlichkeit als Mangel, Illusion oder untergeordnete Seinsweise zu betrachten." Vehement widerspricht er dem theologischen Postulat, dass einem säkularen Leben moralische Substanz und religiöse Fülle fehle.

Cover

Dem religiösen Ideal der Ewigkeit stellt Hägglund den Begriff des "säkulären Glaubens" entgegen. Für ihn liegt die wahre Tiefe und Bedeutung unseres Lebens nicht in einer metaphysischen Ewigkeit, sondern in der existenziellen Verbundenheit mit den Menschen, die wir lieben – in Glück und Freude, aber auch in Leid und Schmerz. Hägglund plädiert für eine neue Form des Glaubens, die nicht auf religiösen Dogmen basiert, sondern auf praktischem Engagement, wobei schwer nachvollziehbar bleibt, warum er für sein Konzept einen "Glauben" und spirituelle Freiheit bemühen muss. Hägglund versteht die Unterstützung von Armen und Bedürftigen als gesellschaftliche Aufgabe – sie bedarf keiner religiösen Begründung oder Organisation. "Diese Verpflichtung zu Freiheit als Selbstzweck – als geistige Ursache, die uns zum Handeln auffordert – ist unsere säkulare Errungenschaft und verdankt sich keiner religiösen Offenbarung."

Kapitalismus und entfremdete Zeit

Ebenso scharf analysiert Hägglund den Kapitalismus als ein System, das unsere Lebenszeit ökonomischen Interessen unterwirft. Anhand von Karl Marx und anderen Denkern zeigt er, dass der Kapitalismus uns nicht wirklich frei macht, sondern uns unserer Zeit entfremdet – sie in Arbeitskraft verwandelt, die primär dem Profit dient. Wahre Freiheit könne erst dann entstehen, wenn Menschen über ihre Zeit selbstbestimmt verfügen und sie für die Dinge aufwenden können, die ihnen wirklich am Herzen liegen. Hier entwirft Hägglund das Konzept einer "demokratischen Zeit", in der gesellschaftliche Strukturen so organisiert sind, dass sie individuelles und kollektives Wachstum ermöglichen.

Hägglund fordert ein grundlegendes Umdenken und entwirft eine – manchmal fast utopische – Vision des demokratischen Sozialismus als postkapitalistische Lebensform mit dem Ziel, dass sich der Mensch die Freiheit nimmt, sich seine Zeit jenseits von Religion und Kapitalismus zu eigen zu machen. "Uns fehlt nicht das ewige Leben, sondern gesellschaftliche und institutionelle Formen des Zusammenlebens, die uns gedeihen lassen." Im Schlusskapitel fordert er, säkuläre Zeremonien für Taufen, Hochzeiten und Bestattungen zu entwickeln.

Anspruchsvolle Theorie, inspirierende Vision

Der theoretische Anspruch des Buches ist hoch. Hägglund gelingt es jedoch, philosophische Konzepte verständlich zu erläutern, auch wenn seine ausufernden Exkurse, so zu Martin Luther King, streckenweise ermüden. Die Verknüpfung existenzieller Philosophie mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen ist inspirierend. Besonders stark ist das Buch dort, wo es sich auf die religionskritische Argumentation konzentriert – eine Argumentation, die nicht aus bloßer Ablehnung gespeist ist, sondern aus einer tiefen Wertschätzung für das Leben selbst.

"Dieses eine Leben" ist ein ebenso kluger wie interessanter Beitrag zu einer Debatte, die gerade in Krisenzeiten umso drängender wird: Wie gestalten wir ein Leben, das sich nicht an religiösen Illusionen oder Marktzwängen orientiert, sondern an echter Freiheit?

Martin Hägglund, Dieses eine Leben – Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus, C.H. Beck Verlag, München 2024, 415 Seiten, 32 Euro

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