(hpd) Das Argument, laut dem Atheisten die schlimmsten Mörder der Geschichte seien, kommt oft, wenn die historischen Verbrechen des Christentums oder anderer Religionen in einer Diskussion aufgezählt werden. Unbestreitbar könne man der katholischen Inquisition einige tausend Tote vorwerfen, doch im Kommunismus ermordeten gottlose Führer über 100 Millionen Menschen. Stimmt es?
1. Einleitung
Dieses Argument mag seine Richtigkeit haben, wenn es verwendet wird, um die Behauptung, die Religion sei Ursache aller Gewalt und Intoleranz, zu widerlegen. Auch in einer komplett atheistischen Welt gäbe es selbstverständlich noch Kriege, denn die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Die Behauptung, dass die Abwendung von Gott zu noch nie da gewesenen Massakern führe, kann jedoch ausreichend widerlegt werden. In mehreren Schritten werden die Schwachstellen genau analysiert.
Zuerst sollen die grundsätzlichen Fehler aufgezeigt werden. Denn das Argument beruht nicht nur auf falschen Prämissen, aus denen unlogische Folgerungen gezogen werden, sondern auch noch auf einem grundsätzlich falschen Verständnis von Statistik.
Aus Gründen der Fairness sollen einerseits Atheisten genannt werden, die Großes vollbrachten, andererseits wird gezeigt, wer die Wortführer in der Debatte sind. Nicht selten entstammt die pauschale Verurteilung des Atheismus aus dem rechtsextremen Lager.
Den weitaus größten Teil dieser Ausführung nehmen jedoch historische Fragestellungen ein. Denn mögen auch viele Kommunisten Atheisten gewesen sein, folgten ihnen dennoch oft religiöse Menschen nach, deren religiöse Führer selbst dem Kommunismus verfallen waren. Außerdem wird die Realpolitik der christlichen USA beleuchtet, der man eine Mitschuld an den Diktaturen Stalins und Maos nachweisen kann.
Und nicht zuletzt soll auch deutlich werden, dass eine Religionskritik sich auch deutlich gegen totalitäre Systeme, die selbst zur Politreligion werden, muss. Das was Stalin und Mao abschaffen wollten, führten sie letztlich selbst herbei. Sie selbst wurden zu Göttern, die keine anderen Götter neben sich duldeten, hatten ihre eigenen Heiligen Schriften und Dogmen, forderten die Verbreitung ihrer Weisheit, versprachen das Paradies und sahen den historischen Materialismus als eine Art Schicksalskraft an.
Heute erscheint das erste Kapitel der Artikelreihe „Ohne Gott ist alles erlaubt?“ beim hpd. Die weiteren Kapitel werden nach der Sommerpause im wöchentlichen Rhythmus erscheinen.
2. Grundsätzliches
Die Behauptung, dass die Atheisten für die Mehrzahl aller Toten im 20. Jahrhundert verantwortlich sind, bleibt zweifelhaft, sie lässt sich vermutlich nie abschließend klären, da genaue Opferzahlen immer schwierig zu ermitteln sind. Doch angenommen, es stimmt, ließe sich dann daraus folgern, dass Kritik an religiösen Verbrechen fortan argumentativ leicht von der Hand zu weisen ist?
In Deutschland werden Morde zum überwiegenden Teil von Männern begangen (wofür Wissenschaftler unter anderem auch biologische Faktoren verantwortlich machen.) Lässt sich daraus, dass die Mehrheit aller Mörder männlich ist, schlussfolgern, dass die Mehrheit aller Männer morden? Kann man daraus schließen, dass Frauen bessere Menschen sind? Sollte man Männer unter Generalverdacht stellen? Bei jedem Mordfall die weiblichen Verdächtigen bei Ermittlungen vernachlässigen? Männer stärker bestrafen als Frauen? Männer bereits bei Verdacht verurteilen? Frauengefängnisse schließen, da es besser wäre, in ihnen nur noch Männer zu inhaftieren, weil dies mehr Sicherheit für alle bedeuten würde? Auch wenn Atheisten für die Menschheit die weit größere Gefahr darstellen sollten, hieße dies nicht, dass Kritik an religiösen Verbrechern falsch wäre.
Des weiteren wird darauf verwiesen, dass die Mehrzahl aller Kriege nicht religiöser Natur war. Wirtschaftliche Interessen wie das Bedürfnis nach Rohstoffen, nationale oder ideologische Gegensätze, teils auch der Wunsch von innenpolitischen Problemen abzulenken etc. sind in den meisten Fällen die Ursache militärischer Konflikte. Da all diese Faktoren nicht-religiös sind, wurde nur eine Minderheit der Kriege im Namen Gottes geführt. Tatsächlich stimmt es, dass die meisten Kriege keine Religionskriege waren. Heißt das aber, dass dies den Atheismus diskreditiert? Keineswegs, denn schließlich kann man aus der Tatsache, dass 10% aller Autounfälle unter Alkoholeinfluss geschehen, nicht folgern, dass 90% der Verkehrstoten auf Nüchternheit am Steuer zurückzuführen seien.
Das Verweisen auf eine Eigenschaft eines Menschen, um daraus eben diese Eigenschaft zu diskreditieren, ist ohnehin nur wenig aussagekräftig. Beispielsweise lehnte Hitler Fleisch und Tabak ab, doch wird niemand, um des Weltfriedens willen, Vegetarier und Nichtraucher zwingen, zu Steak und Zigaretten zu greifen. Noch schwieriger wird es, wenn man eine Gruppe von Menschen nicht hinsichtlich einer gemeinsamen Eigenschaft sondern hinsichtlich einer nicht vorhandenen Gemeinsamkeit (in diesem Fall die Nicht-Zugehörigkeit zu einer Religion) untersucht. Es sei an den Witz erinnert, in dem zwei Frauen vermuten, dass sich ihre Männer kennen könnten, nachdem sie festgestellt haben, dass beide Ehepartner gemeinsam haben, niemals nach New York gereist zu sein.
Ebenso muss die Frage nach notwendiger und hinreichender Bedingung bei atheistischen Mördern geklärt werden. Angenommen, alle großen Massenmörder seien Atheisten gewesen (was nicht der Fall ist) wäre damit noch nicht gesagt, ob Atheismus tatsächlich die alleinige Ursache für die Morde ist. Denn die genannten Mörder folgten nationalsozialistischen und kommunistischen Ideologien. (Wobei wir hier vernachlässigen, dass zumindest der Nationalsozialismus nicht atheistisch war.) Wenn atheistische Kommunisten und atheistische Nationalsozialisten Verbrechen begehen, heißt das nicht, dass dies auch auf alle anderen Atheisten übertragbar ist. Man könnte in diesem Fall eingestehen, dass Atheismus zwar eine notwendige Bedingung für das Begehen von Verbrechen ist, aber erst in Verbindung mit der hinreichenden Bedingung in Form einer Ideologie zu Massenmorden führt.
Um vernünftige Aussagen zu treffen, reicht es nicht, eine Korrelation (also das Nebeneinanderbestehen zweier Faktoren) festzustellen. Stattdessen muss eine Kausalität (also der logische Zusammenhang zwischen zwei Faktoren) festgestellt werden. Wer dem Christentum die Schuld an einem Verbrechen gibt, wird vernünftigerweise nicht nur darauf verweisen, dass ein Christ an der Spitze einer Mörderbande stand. Stattdessen wird er eine Vielzahl christlicher Mörder benennen, zeigen, dass die Propaganda eines Regimes sich auf das Christentum stützte, dass die Mehrheit der Kirchenhierarchie sich zu einem Diktator bekannte, dass Täter und Opfer unterschiedlichen Religionen angehörten, etc.
Wer Stalin, Mao und Pol Pot aufzählt, wird niemals Reden finden, in denen sie behaupten, dass der nichtexistierende Gott ihre Politik gutheißt. Ein Diktator mag Atheist sein, wird aber niemals aus seinem (Nicht-)Glauben heraus Stärke beziehen können. Niemals werden ihn Angehörige einer atheistischen Kirche hochjubeln. Niemals werden Atheisten in dem Glauben in den Krieg ziehen, dass Gott ihnen nach ihrem Tod den Weg ins Paradies gewährt. Niemals werden Atheisten (im Gegensatz zu Fundamentalisten) glauben, dass alle Andersgläubigen in die Hölle kommen, so man sie nicht durch die Verkündung des Evangeliums errettet. Niemals können Atheisten davon überzeugt sein, dass ihr Gott von Religiösen verspottet wird. Es liegt daher auf der Hand, dass die explizit religiösen Verbrechen die explizit atheistischen Verbrechen übertreffen dürften.
Unbestreitbar ist jedoch, dass es in den kommunistischen Staaten, wie beispielsweise in der Sowjetunion unter Stalin, Religionsverfolgungen gab. Mehrere hunderttausende Geistliche, Mönche und Nonnen wurden ermordet oder in Arbeitslagern interniert. Doch der weitaus größte Teil der Repressionen in der Sowjetunion geschah aus machtpolitischen Erwägungen heraus. Dass sie Millionen Christen betrafen, rührt aus der Tatsache her, dass sie die Mehrheit der Sowjetbürger stellten. Aber auch innerhalb der atheistischen KPdSU führte Stalin “Säuberungen” durch, denen hunderttausende ungläubige Genossen zum Opfer fielen. Eine rein atheistische Motivation ist nicht erkennbar, selbst eine prinzipielle Religionsverfolgung gab es nicht über die gesamte Dauer der Diktatur hinweg – die Russisch-orthodoxe Kirche wurde vor allem wegen ihrer Nähe zum Zarenstaat verfolgt. Mit einzelnen Glaubensgemeinden kollaborierte die Staatsführung jedoch, sofern es politisch opportun erschien.
Den atheistischen Mördern lässt sich nur punktuell vorwerfen, ihre Verbrechen im Namen des Atheismus begangen zu haben, trotzdem werden ihre Taten pauschal dem Atheismus angerechnet. Doch wenn man gleiche Maßstäbe anlegt, müsste man nicht nur alle expliziten Religionskriege, sondern auch alle von Theisten begangenen Taten dem Theismus zur Last legen. Die eher kleine Zahl der rein religiös begründeten Kriege würde sich dann um die Zahl aller Kriege, an dessen Führung Theisten maßgeblich beteiligt waren, erhöhen. Wo ein Vergleich zwischen Verbrechen im Namen des Atheismus und Verbrechen im Namen des Christentums angebracht wäre, werden unfairerweise die Verbrechen aller Atheisten in die Waagschale geworfen. Die Verbrechen aller Christen dürften noch weit schwerer wiegen, da sie weit mehr als ein Jahrtausend umfassen.
Lukas Mihr