Es bewegt sich manches. Weiß man wohin?

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Blick in den Garten / Fotos © Evelin Frerk

LONDON. (hpd) Das „Große Sommerinterview“, mit dem der hpd traditionell seine Sommerpause beginnt, ist dieses Jahr ein längeres Gespräch mit der Schriftstellerin Esther Vilar über ihre Bücher und Theaterstücke, über die Freiheit und den widersinnigen Wunsch, sie aufzugeben, über Abenteuer und Lügen, über Erfolge, das Alter, das Arbeiten und die Vorstellung vom Paradies.

 

 

 

hpd: Esther, gibt es Städte, in denen du noch nicht gewohnt hast?

Esther Vilar: Ja, es gibt noch ein paar ... in jede italienische Stadt würde ich gerne gehen. In ein paar habe ich schon gewohnt. ... Nach Italien! Das ist vielleicht mein nächster Plan?

In diesem Buch hier steht: Heute lebt sie in Europa.

(Alle lachen) Na bitte!

Nun schlage ich das andere Buch auf, und was steht da drin? Sie lebt in Dublin.

(Lachen) Wunderbare Stadt. In Europa!

Als es klar war, dass wir nach London kommen würden, um mit dir zu sprechen, habe ich mich natürlich sehr gefreut, dich zu treffen. Meine Vorfreude galt aber auch vielen Dingen, die ich schon mehrmals in London gesehen habe, wie z. B. die Horse Guards in Whitehall. Das war für mich stets die Konstante in Großbritannien. Die Könige wechseln, die Regierungen in schnellerer Abfolge, die Wirtschaft geht rauf und runter, aber die Horse Guards, die waren da und sind immer da.

Ja, daran ist nichts zu ändern.

Und was war gestern? Wir stehen in Whitehall, aber keine Horse Guards.

Nein? Wie kommt denn das?

Das haben wir auch gedacht. Was ist denn überhaupt noch beständig in England und überhaupt in der Welt?

Auf nichts ist mehr Verlass, da muss ich doch gleich an die Queen schreiben. (Alle lachen) Ich habe sie übrigens tatsächlich einmal kennen gelernt, aber nicht richtig, nicht um ihr einen Brief zu schreiben. Sie war einmal in der Probe eines Stücks von mir. Es war an einem Tag, an dem sie Theater besucht hat. Und dann kam sie, und ich durfte ihr die Hand geben. Das war im Almeida Theatre hier in London, wo das Stück aufgeführt wurde.

War es das Stück über Albert Speer?

Ja, sie haben das hier auf Englisch produziert. Es war sehr gut gelungen, inszeniert vom Brandauer und er selbst spielte die Rolle des Speer. Das ging hier in England, weil niemand so genau weiß, wie der aussah. Aber in Deutschland wäre es wohl eine zu große Diskrepanz zwischen der Erscheinung von Brandauer und der von Speer. Hier hat es gut funktioniert.
Ja, so geht das, nun sind wir schon bei der Arbeit. (Alle lachen)

Kommst du selten in die Stadt? Du meintest vorhin, der Weg wäre so lang?

Doch! Normalerweise, wenn ich in London bin, fahre ich jeden Tag in die City. Ich bin Mitglied der London Library und das ist ein sehr schöner Ort zum Arbeiten. Es ist dort alles sehr traditionell und eng. Churchill soll da auch gearbeitet haben. Es ist alles sehr elegant und die Königin ist die Patronin. Das fasziniert mich einfach, weil das etwas so Englisches ist. Es ist auch eine sehr gemütliche Bibliothek und ich arbeite ohnehin gerne in Bibliotheken.

Karl Marx hatte, soviel ich weiß, im Lesesaal der Bibliothek des Britischen Museums einen festen Arbeitsplatz, ich meine es war der Platz Nr. 7, und es soll dort eine Plakette geben ...

(Lächelt) Da muss ich ja mal hin und mir das anschauen ...

Sitzt du in der London Library auch immer an dem gleichen Platz?

Nein, ich sitze dort, wo ein Platz frei ist. Und eine Plakette bekomme ich bestimmt nicht ... (Lachen)

Das weiß man aber nicht zu Lebzeiten, sondern immer erst wenn man gestorben ist, also posthum, du wirst es daher nicht wissen können....

Nun, es besteht ein starker Verdacht. Aber der Tom Stoppard, er ist der Direktor der London Library und ein berühmter Dramatiker, der wird sicherlich dort eine Plakette bekommen.

Also brauchte es eine Beharrlichkeit, immer den gleichen Platz einzunehmen,... Es passt doch eigentlich auch ganz gut zu deinem Lebenslauf, dass du einmal hier und dann dort sitzt, sofern es sich um ein künstlerisches Umfeld handelt?

Ja, das Umfeld ändert sich gar nicht so sehr bei mir, obwohl ich soviel umziehe. Aber ich bin dann ja in diesen zivilisierten Ländern, wo sich doch nicht so viel ändert durch die Umzieherei. Für total andere, zum Beispiel arabische Länder bin ich vielleicht etwas zu feige. In den Ländern Südamerikas geht es für mich natürlich auch sehr gut.

Hat das etwas mit der Sprache zu tun?

Ja, das hat auch viel mit Sprache zu tun. Ich bin schon froh, wenn ich mich unterhalten kann, wenn ich nicht in der Bibliothek sitze. Aber ich weiß so wenig über andere Kulturen ..., vielleicht sollte ich deshalb doch einmal ganz woanders hin.

 

 

Als ich meine typisch ‚deutschen’ Vorbereitungen für diesen Besuch organisiert hatte, Fahrpläne, Verbindungsdaten, Informationen ausdrucken, da habe ich mich gefragt, ob es diese Planungsdaten sind, die Länder erst zivilisiert machen. Wenn ich ins Internet gehe, dann weiß ich, dass der Bus 47 am Montag um 08:22 Uhr von der Waterloo Station abfährt, so und so lange braucht und dann dort ankommt ... Also, die Idee, dass alles so durchorganisiert ist, mit Zeitplänen, Fahrplänen, Öffnungszeiten, mit Veranstaltungskalendern ... ist das zivilisierte Kultur? Es ist doch ein umfassend geregeltes Leben.

Das interessiert mich zwar, aber ich selber lebe meist ohne diese ganzen Regeln. Ich gehe eher zum Flughafen und sage, ich nehme das nächste Flugzeug, das in die Richtung fliegt, in die ich möchte. Und wenn ich einen halben Tag warten muss, das macht mir gar nichts, ich habe ja Bücher bei mir. So bin ich eher. Aber deine Art ist natürlich viel effizienter.

Na gut (gemeinsames Lachen), ...

Ja, meine Methode ist eher ungehobelt. Ich kann sie mir auch nur leisten, weil ich so viel Zeit habe und weil ich ja irgendwie auch immer meinen Arbeitsplatz mit mir herumtrage.

Aber ich denke, dein Lebensentwurf ist dann spannender ...

Manchmal, manchmal auch nicht ... (Sie lächelt)

Schau, wenn bei dir die Dinge funktionieren ... Du willst an einem Tag noch irgendwo hin fliegen und es geht an dem Tag auch noch ein Flugzeug, dann freust du dich und sagst vielleicht: „Schön! Ich habe nur ein halben Tag warten müssen und brauchte nicht zu übernachten oder musste nicht wieder nach Hause fahren ...“. Meine Auffassung ist dagegen anders. Es ist ja alles wie am Schnürchen geplant und wenn etwas nicht funktioniert, dann bin ich ziemlich irritiert, vielleicht sogar durcheinander oder verärgert. Für Überraschungen ist in diesen Situationen, die ich aber nicht nur lebe, eigentlich kein Platz.

Ja, bei mir gibt es für Überraschungen sehr viel Platz. Aber es passiert eigentlich wenig Überraschendes. Die Schauspielerin Maria Schell hat mir einmal gesagt, man müsse sich einmal irgendwo in New York auf eine Bank setzen, ewig, und schauen, was mit einem passiert. Da kommt dann bestimmt etwas ganz Neues. Aber etwas so Extremes habe ich eigentlich noch nie gemacht.

Aber das würde heißen, man muss geduldig sein.

Ja, man muss geduldig sein, man kann es aber auch herausfordern. Ich kann jetzt nackt auf die Straße rennen und dann habe ich schon ein Abenteuer ... (Lachen) Dann passiert alles Mögliche, ... angefangen von der Polizei und ich würde dann sicherlich heute Abend nicht hier sitzen, sondern in irgendeiner Anstalt, wo sie mich ein bisschen beobachten ...

Das wäre ein Abenteuer, aber sicher keines, das man sich wünschen würde?

Nur wenn es gut ausgegangen ist, nennt man es hinterher gerne ein Abenteuer ..., wenn es schlecht ausgeht, dann hat man andere Wörter dafür, dann war es zumindest ein Unglück. Ganz steuern lässt sich eben nicht alles ... Bis jetzt.

Ich habe in diesem Moment, wie auch im Allgemeinen, den Eindruck, dass sich Komödien und Tragödien im Theater nicht in ihrer Ausgangssituation unterscheiden, sondern nur dadurch, dass an einer bestimmten Stelle jemand etwas sagt oder eben nicht sagt, und aus diesem Nicht-Sagen entsteht häufiger eine Tragödie ... wenn jemand es sagt, dann bleibt es einfach lustig. Hinsichtlich des Aspekts Abenteuer oder Nicht-Abenteuer ist die Grundsituation die gleiche: Es handelt sich um eine ungewöhnlichen Situation einer Bedrängung oder eines Erlebens, und je nachdem was dann passiert, wird es dann das Abenteuer in der Rückerinnerung oder ein dramatisches, schlimmes Erlebnis, was einen das ganze Leben niederdrücken kann. Aber der Ausgangspunkt ist möglicherweise derselbe.

Es ist richtig, dass die Situation, dass einem jemand keine Antwort gibt, sofort etwas Ungewöhnliches ist. Wenn die Antwort ausbleibt, kann sich in einem Stück vieles verändern. (Denkt nach) In Stücken hab ich es schon ausprobiert, im Leben fällt mir das Riskieren schwerer.

Was heißt Risiko? Risiko wird doch so gebraucht, dass man nicht weiß, wie sich etwas entwickelt, ob es sich zum Guten oder zum Schlechten entwickelt, ...

Ja. Aber ich habe ein gewisses Talent zum Glück. Ich denke immer, dass es sich zum Guten entwickeln muss oder sogar zum Noch-Besseren ..., zumindest wenn ich wieder einmal umziehe.

Wie ist es, wenn du eine Arbeit begonnen hast und in dieser Zeit deinen Wohnort veränderst, würde die Geschichte, die Handlung dann einen anderen Verlauf nehmen?

Wenn ich an etwas schreibe, würde ich nicht umziehen, bevor es fertig ist. Aber ich bin schon mit ganz starken Plänen umgezogen, das und das wird gleich nach der Ankunft in Angriff genommen, wird jetzt geschrieben, und dann machte ich etwas ganz Anderes. Das passiert. Die ganze Zeit eigentlich.

Verändert der Raum also den Menschen?

Ein bisschen. Aber mehr die Leute, mit denen man zusammen ist. Die verändern einen schon .

Mein Eindruck für mich ist, dass ich viele Facetten habe und welche davon zum Tragen kommen, das hängt sehr stark von der Resonanz der Menschen ab, mit denen ich zusammen bin.

Ja, eben, man verändert sich, je nachdem mit wem man zusammen ist ... Nicht ganz, aber ein bisschen. Und das macht vielleicht das Umziehen interessant, zu sehen, wie man sich dabei verändert ... Aber ich denke, dass ich mich im Laufe meines Lebens nur wenig verändert habe. Ich hatte mein ganzes Leben lang die Möglichkeiten, mich zu entscheiden. Deshalb ist vielleicht auch die Freiheit eines meiner Hauptthemen geworden ... Wenn ich schreibe, kommt irgendwo auch immer die Freiheit vor.
Es ist schon eine große Herausforderung in totaler Freiheit zu leben, wie ich es die meiste Zeit in meinem Leben versucht habe ... Natürlich nicht als Kind. Es ist eine so schwierige Sache, weil man für alle Folgen - für das, was man selbst entschieden hat, in aller Freiheit - auch wieder selbst verantwortlich ist. Viele Leute schwärmen so von der Freiheit, ich schwärme nicht davon, ich bin froh, wenn ich etwas habe, was mich festhält. Zumindest ein paar Verhaltensregeln. Als ich eine junge Mutter war, musste ich dort bleiben, wo mein Kind zur Schule ging, und so weiter. Das war eigentlich gar nicht so schlecht. Sonst wäre ich wahrscheinlich auch schon damals herumgereist.

 

 

Heißt reisen auch suchen?

Tja, ich weiß es nicht, eigentlich Nein. Im Grunde bin ich ein recht zufriedener Mensch. Ich suche nicht etwas, was mir fehlt, sondern ich denke, nun habe ich das gesehen und die Welt ist so groß und so interessant, dass ich vielleicht noch etwas anderes anschauen sollte. Nicht, dass ich unzufrieden werde. Höchstens unruhig. Ich bin noch nie unzufrieden von irgendwo weggezogen ... Mit Ausnahme von Deutschland, als die Feministinnen hinter mir her waren, da war das natürlich anders.

Es gibt das berühmte Lied von Janis Joplin „Me an Bobby McGee“ in dem es heißt: „Freedom's just another word for nothing left to lose...“ (Dt.: „Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts mehr zu verlieren hat“). Das ist nicht dein Freiheitsbegriff?

Es klingt so traurig. Und das ist es natürlich auch. Wenn ich irgendwo weggezogen bin, dann gab es eigentlich nichts zu verlieren. Es gibt Leute, die diesen Satz so positiv auslegen, dass ich die Welt nicht mehr verstehe. Da sie aber diesen positiven Freiheitsbegriff haben, geht das gar nicht so nah an sie heran. Ich sehe Freiheit eher als etwas Beängstigendes, weil jede frei getroffene Entscheidung immer so vielfältige Folgen hat. Da kann man dann zu niemandem sagen: Das hast du mir eingebrockt. Du selbst warst der Schwachkopf.

Wenn ich es richtig verstehe, dann sagst du: Es gibt ein Kontinuum, auf dessen einem Ende sich die totale Freiheit befindet und auf dem anderen Ende die totale Bindung und da ist jetzt die Frage ...

Ja, wieweit geht man, in welche Richtung? Die absolute Freiheit, die mag niemand. Sobald sie da ist, rennen wir von ihr davon. Nehmen wir die Liebe: Kaum sind wir frei, verlieben wir uns in die nächste Person und nutzen unsere viel gelobte Freiheit einfach nur für eine Entscheidung zur nächsten Unfreiheit. Wir bleiben nicht frei. In totaler Freiheit zu leben ist etwas ganz schwer Erträgliches. Ich bin es auch nicht, aber bis zu einem gewissen Grad schon. Insofern bin ich eine Expertin und kann sagen: Es ist nicht so leicht. Wir kämpfen für die Freiheit, wir töten oder sterben für sie. Aber mit ihr leben, das kann keiner. Wir nutzen unsere Freiheit zur Unfreiheit

Wenn du nicht schreiben würdest, könntest du dann so leben?

Nein! Nein. Meine Ungebundenheit hängt sehr mit diesem Beruf zusammen. Diese Privilegien haben nur Wohlsituierte oder Schriftsteller bzw. Künstler. Die anderen Leute sind ja an eine Stelle, eine Ausbildung, ein Diplom gebunden und die können nicht einfach immer wieder weit weg. Schon allein ein Schauspieler, der muss ja in seinem Sprachraum bleiben, wenn er als Schauspieler arbeiten will ...

Ich meine noch eine andere Facette. Erika Pluhar hat einmal geschrieben, dass ein Schauspieler immer eine Öffentlichkeit, eine Bühne, ein Publikum braucht, um seine Kunst zu zeigen. Wenn er zu Hause spielen würde, nützt das nichts für seine Profession, wenn niemand dort ist. Ein Schriftsteller kann allein arbeiten, ...

Ja, er muss es sogar, ...

... die Frage, ob es viele Leute lesen werden, ist dann eine andere. Das ist aber nicht das Primäre, wenn man daran arbeitet. Man ist als Schriftsteller ja nicht allein. Bereits die Figuren, mit denen man sich beschäftigt, sind ja Wahlverwandtschaften, mit denen man sich geistig austauscht.

Ja, aber auch die sind ja selbst erfunden. Erlogen sozusagen. Das Zuverlässigste sind noch die Leser, denen man das alles sagen möchte. Man hofft, dass es wenigstens einen gibt, den das interessiert.

Hast du schon einmal erlebt - am Flughafen, in der Bahn, wo auch immer -, dass jemand ein Buch liest und du bemerkst erst dann, es ist ein Buch von dir?

Einmal. Von Argentinien bin ich zurückgeflogen nach Europa und da saß ein Mann vor mir, der den „dressierten Mann“ gelesen hat. Es war ein Nachtflug und er hat immer wieder aufgelacht. Das war ein wunderbares Gefühl. Am nächsten Morgen, ich weiß nicht, man hat dann doch ein bisschen geschlafen und findet dann nicht den Mut, dass man dem sagt: Ach übrigens, das war ein Buch von mir, das Sie da gelesen haben ... Aber es war ein sehr schönes Gefühl.

Bei der Vorbereitung auf dieses Gesprächs haben wir ein paar deiner Bücher gelesen, alle konnten wir leider nicht lesen – es gab sie zum Teil auch gar nicht mehr im Buchhandel -, und bei dem „dressierten Mann“ hatten wir den Eindruck: Was für eine wunderbare Parodie.

Parodie? (Allgemeines Lachen)

Du beschreibst dort die Männer mit der schwarzen Kleidung, die doch soviel kleckern und deshalb muss die Kleidung dunkel sein, damit man die Flecken nicht so sehen kann, ... (Lachen) Das war vor vierzig Jahren. 1971 ist „Der dressierte Mann“ zum ersten Mal erschienen. Und wenn ich in dein Werkverzeichnis schaue: Das erste Buch 1969 in Deutschland war: „Mann und Puppe. Ein Comic-Roman.“ Danach kam dann „Der Sommer nach dem Tod von Picasso. Ein Spiel.“ und anschließend bereits das Freiheitsthema mit „Die Lust an der Unfreiheit“. Alle beim Caann Verlag in München erschienen.

Ja, ich habe damals in München gelebt.

Auf dem „dressierten Mann“, folgte dann „Das polygame Geschlecht. Das Recht des Mannes auf zwei Frauen“, 1974, und „Das Ende der Dressur. Modell für eine neue Männlichkeit“, 1977.

Das ist eine Trilogie. Sie ist vor einiger Zeit auch neu in einem Band erschienen.

Die nächsten Bücher sind dann: „Die Fünf-Stunden-Gesellschaft. Argumente für eine Utopie“, 1978, und „Alt. Manifest gegen die Herrschaft der Jungen“, 1980.

Das sind Folgethemen. Im „dressierten Mann“ ging es ja auch um Problemlösungen und dazu zählte auch die Regelung der Arbeitszeiten.

 

 

Es gibt von einem südamerikanischen Autoren die Aussage: „Alle Schriftsteller sind diskrete Exhibitionisten.“

Ja, bestimmt. Und Oscar Wilde hat gesagt: „Jede Literaturkritik ist eine Autobiographie.“

Natürlich spielen beim Schreiben die eigene Biographie, die eigenen Gedanken, das eigene Leben eine Rolle, wie man eine Geschichte entwickelt und entfalten kann, denn man kann sie ja nur in seinem eigenen Horizont entwickeln. Mir ging es nun bei der Lektüre deiner Bücher so, dass ich, bei den wenigen Büchern, die ich von dir gelesen habe, beim ersten meinte: Ah ja, das ist es also, was Esther Vilar beschäftigt und ausmacht; beim zweiten dachte ich: Nun aber, das ist aber ganz anders; und beim dritten war ich dann ganz überrascht, denn meine Erwartung, ich könnte dich darüber, dass ich die drei Bücher gelesen habe, mehr verstehen, sich in das Gegenteil verwandelt hatte. Nämlich in die Erkenntnis: Du hast so viele Facetten, so viele Themen, dass es nicht möglich ist, dich auf eine Hauptlinie, auf ein Hauptthema zu fixieren.

Ja und Nein. Das mit der Freiheit kommt immer wieder vor, aber sonst – auch wenn du die Stücke dazu kennen würdest -, das sind ja auch mittlerweile fünfzehn...

...Achtzehn! (Allgemeines Lachen)

... alle behandeln verschiedene Themen.

Oh, ich sehe gerade, du hast „Reden und Schweigen in Palermo“, den Erotik-Thriller, auch als Theaterstück bearbeitet.

Das kann man natürlich niemals auf die Bühne bringen, das geht nicht ... Man kann einen Film machen, irgendwann einmal ...

Doch, auf der Bühne geht das vielleicht mit Paravents? Wo du im Roman aufhörst, gehen die beiden hinter einen Paravent, und die Zuschauer können sich fünf Minuten lang vorstellen, was da nun passiert, ...

Ja? Es gibt ein paar Theaterleute, die sich dafür begeistert haben, aber das ist zu kompliziert. Als Film ja, da kann man entscheiden, was man zeigen will ...

Da wäre ich zuversichtlicher. Wir haben jetzt in Berlin einmal eine Serie gesehen „Pornografie von Frauen“. Das war ein spannendes Thema. Wenn Frauen Sexualität und Kopulation zeigen, ist das nicht anzüglich, nicht obszön oder etwas in der Art, es ist natürlich ... Nun gut, das ist in dem „Reden und Schweigen“ nun gerade nicht das Thema, da dort der Mann Gewalt ausübt, was passiert, eben nicht harmonisch ist, ...

Das alles ist nicht autobiographisch bei mir ... Und pornografisch ist es eigentlich auch nicht.

... Ich fand die Geschichte in zweierlei Hinsicht spannend. Das erste ist die Geschichte, wie sie eben läuft, mit dem Mann, der plötzlich im Hotelzimmer steht und dann Gewalt über die Frau ausübt. Das zweite ist das lange Nachwort, in dem du damit beginnst, dass du schreibst: Es hat anscheinend interessiert, sonst hätten Sie als Leser nicht bis hierher gelesen. (Lachen) Das heißt, du hast ein Anliegen, und darüber schreibst du ja auch ausführlich im Nachwort. Dort sagst du, dass diese übersexualisierte Gesellschaft den Mann aus der Rolle des Jägers, der die Frau erobert, herausgenommen hat, weil die Frau ihm in der Werbung ständig als bereit, „Nimm mich!“, „Fick mich!“ präsentiert wird. Durch diese Übersexualisierung wird der Geschlechtsverkehr wiederum uninteressanter, denn der Sex erscheint ja ständig verfügbar. Ich fand dann jedoch spannend, dass du in dieser Novelle im Bereich der Monogamie verblieben bist und schilderst, wie ein Paar versucht, seine Leidenschaft monogam zu leben. Meine Frage dazu ist, warum quälen sich die Leute so? Ich habe eine Freundin, auch in unserem Alter, alleine lebend, zu der ich meinte: Das Beste wäre doch jetzt ein gutes ‚Bratkartoffelverhältnis’: Du suchst dir einen Mann, der in vielerlei Hinsicht zu dir passt – emotional, intellektuell, gesellschaftlich, finanziell -, und ihr beide habt ein friedliches, fröhliches und kultiviertes Leben miteinander ... Sie hat mich angeschaut, als ob sie sagte wollte: Was erzählt dieser Mann mir?! und meinte dann: Nein, mich muss es packen, es muss mich überraschen, er muss mich begeistern, ...

Nun ja, das wollen wir doch alle...

Ja?

Ja!

Ich nicht!

Ja, das gibt’s auch. (Allgemeines Lachen) Aber da muss man auch vorsichtig sein. Die Leute schwindeln sehr viel, wenn es um die Sexualität geht und sagen nur selten die Wahrheit.

Das passt nun aber wunderbar zu dem, was du über die eigenartigen Geschichten geschrieben hast, die der Protagonistin in „Die Mathematik der Nina Gluckstein“ von der Presse zugeschrieben werden und von denen sie sagt, dass sie die zum Teil selber erfunden hat, um die Öffentlichkeit von sich selber abzulenken. Sie sagt dazu: Das ist „mein Vergnügen und mein gutes Recht. Außerdem finde ich es blamabel, wenn einer, dessen Beruf darin besteht, möglichst widerspruchsfreie Lügen zu erfinden, ausgerechnet über sich selbst die Wahrheit erzählt. Was würde man von einem Schneidermeister halten, der nackt herumgeht?“

Im Grunde leben wir alle vom Lügen

Ja, das stimmt auch für Schriftsteller. Die ganze Unterhaltungsbranche lebt vom Lügen. Wir erfinden Geschichten über uns, über andere, spielen sie so, als seien sie wirklich passiert und dann heißt es: Was für ein toller Schriftsteller! Welch herrlicher Schauspieler!

Es gibt dazu eine bezeichnende Geschichte, ich denke von Matthias Claudius, über einen naiven Menschen in Hamburg, der zum ersten Mal im Theater ist, zutiefst betrübt über den Tod des Helden nach Hause geht und am nächsten Abend total empört ist, dass der Mann immer noch lebt und eine andere Rolle auf der Bühne spielt.

Kann es das wohl noch geben? Sicher nicht. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Schriftsteller und Schauspieler davon leben, Lügen-Kunstwerke zu verkaufen. Und wer am besten lügt, bekommt den Nobelpreis für Literatur.

Bei dem Erfinden würde ich ja voll mit dir mitgehen. Aber Lügen ist doch eine viel schärfere Form. Lügen heißt doch, etwas bewusst zu erfinden, etwas bewusst Falsches zu sagen, um Vorteile zu erlangen oder Nachteile zu vermeiden ...

Man erfindet etwas möglichst echt, so dass es möglichst glaubwürdig ist. Und diese Glaubwürdigkeit bringt natürlich Bewunderung und andere Vorteile. Doch die Tätigkeit ist lügen.

 

 

Ich würde lieber Phantasie sagen.

Ja, warum nicht. Es gibt so viele Wörter dafür, warum nicht auch Phantasie? Lügen gebrauche nur ich.

Das nicht. Volker Sommer hat vor einiger Zeit einen Rundfunkbeitrag für Kinder geschrieben „Warum Affen lügen können“, in dem er auf die genetische Nähe von Primaten und Menschen hinweist und es in dem Beitrag an der Fähigkeit der Menschenaffen demonstriert, dass sie wie auch die Menschen lügen können. Da ist das Lügen sehr positiv besetzt, denn das macht den Menschen aus, dass er das kann. Die Empathie, das Mitfühlende des Menschen, sei gerade deshalb entwickelt worden, um bewerten zu können, ob der Andere einen nun anlügt oder nicht.

Diesen Text muss ich mir unbedingt besorgen.

(Verblüfft) Ist das nun sehr britisch?

Nein, es ist einfach schriftstellerisch, egal welcher Kultur oder Sprache. (Fröhliches Lachen) Die meisten Schriftsteller würden das sofort zugeben.

Was mich an dem Begriff der Lüge stört, das ist der Kontext von Vermeidungs- oder Belohnungsstrategien, wenn man etwas Falsches, also die Unwahrheit sagt. Wenn ich etwas schreibe, also etwas kreiere, ...

... was nicht wirklich passiert ist, ...

... ja, da sind wir einer Meinung, aber ich sage dann von meinen Gefühl her nichts Falsches. Aus meinem Wissen oder aus der Recherche oder dem Gefühl heraus, stelle ich die Figuren so dar, dass sie korrekt und fair dargestellt sind. Das sie erfunden sind, das hat damit nichts zu tun, ...

Nun, du bekommst doch aber Vorteile, wenn du als Schriftsteller bewusst lügst. Wenn du gute Geschichten zusammenlügst, werden deine Sachen verkauft, du kannst davon leben und wirst sogar noch gefeiert. (Fröhliches Lachen)

Für mein Empfinden ist bei dir eine Distanz zu dem, was du schreibst, die ich zu dem, was ich schreibe, so nicht habe.

In Sachbüchern kann ich nicht lügen, da kann ich keine Wahrheiten erfinden. Das muss schon an der Realität orientiert sein. Sonst wäre es kein Sachbuch. Aber heutzutage schreibe ich ja viel mehr Fiktion.

Liegt es vielleicht auch daran, dass du in manchen Fragen „quer“ zum Mainstream der Gesellschaft denkst? Dass du weiter denkst, aus einer anderen Perspektive heraus? Das ist es wohl auch, was die Feministinnen damals so gegen dich aufgebracht hat, dass du als Frau nicht ihrer Meinung warst?

Das liegt vielleicht auch an dem vielen Umziehen. Man ist dann nicht so vor Ort verankert, bleibt immer ein Außenseiter. Das hilft natürlich beim quer denken, weil man leichter relativieren kann. So verschieden sind die Kulturen schon, in denen ich lebe, dass man relativieren muss.

Du meinst, wenn du immer an einem Standort gewesen wärst, dort anerkannt wärst, dann würdest du dort auch eingebunden gewesen sein in eine bestimmte Auffassung von Korrektheit, die du dann wahrscheinlich weniger einfach aufgegeben hättest?

Mmh...

Denn die Konsequenz, hinaus geworfen zu werden aus dieser Community, ...

So bin ich schon als Kind aufgewachsen. Meine Mutter hat mit mir mehrmals das Land und den Erdteil gewechselt. Ich bin in Argentinien geboren, dann hat meine Mutter Heimweh gehabt und wir sind wieder zurück nach Deutschland und nach ein paar Jahren sind wir dann wieder nach Argentinien und so hat sich von Anfang an alles immer relativiert. Und das ging dann so weiter. Auch in Argentinien war ich ja nicht so ‚eingebaut’, da ich ja alles auch schon in Deutschland anders erlebt hatte. Von da aus ging es wieder zurück und hin und her, innerhalb Europas, aber ich habe auch zwei Jahre in New York gelebt, und so geht es immer etwas an der dortigen Realität vorbei, was ich dann mache.

So habe ich es nicht gemeint, denn wenn es an der Realität vorbei gehen würde, würde sich niemand dafür interessieren ...

... und niemand würde sich darüber aufregen. Ich meinte, dass es an der Realität bestimmter Kreise vorbei geht, sich nicht anpasst. Ich spreche verschiedene Sprachen, habe verschiedene Berufe ausgeübt, es gibt so viele Variationen in meinem Leben, dass ich immer ein bisschen ein Außenseiter war. Nicht sehr, ein bisschen.

Die Angriffe der Feministinnen waren damals ja so hart – das Haus, in dem du wohntest, wurde mit Farbbeuteln beschmissen und du bekamst Morddrohungen -, dass du Deutschland verlassen hast. Hast du für dich das Gefühl gehabt, du gehst ins Exil?

Nein, da es ein Umzug war, war es nicht ganz so schlimm. Ich bin damals ja auch nur in die Schweiz gegangen, das war nicht so weit weg und kein Exil. Damals, als erstes, bin ich im deutschsprachigen Raum geblieben.

 

 

Und du schreibst heute auch noch in Deutsch?

Ja, es ist Deutsch geblieben. Das heißt, ich habe zuerst auf Spanisch geschrieben, aber da bekam ich keinen Verleger und nichts. Wenn man damals Manuskripte nach Argentinien schickte, bekam man keine Antwort. Durch die Heirat habe ich dann später ja auch eine deutsche Staatsangehörigkeit bekommen und damit ist vieles einfacher geworden.

Ich bin nicht ins Exil gegangen

Die Europäische Union müsste sich für dich doch zum eigentlichen Lebensraum erweitert haben? Weniger lästige Grenzen, vielfach das gleiche Geld, ... Eine Entwicklung, die doch durchaus in deinem Sinne sein müsste?

Ja, denn dadurch ziehe ich ja gar nicht so weit, sondern bleibe ich immer im gleichen Umfeld ... in letzter Zeit bin ich auch öfters in Polen und anderen östlichen Ländern. Es ist noch gar nicht so lange her, dass es so einfach möglich ist, auch dorthin zu reisen.

Was machst du jetzt in Polen?

Dort werden viele meiner Stücke gespielt, es kommt dort immer wieder etwas.

Die Polen mögen halt geniale Sachen.

Ich weiß nicht ..., jedenfalls hat es sich gut angelassen und ein Stück von mir haben alle berühmten älteren polnischen Schauspielerinnen gespielt. TEE IN RICHMOND heißt es auf Deutsch. Und jetzt im September kommen wieder zwei Stücke von mir und dann werde ich wieder dort sein. Das ist schon eine sehr schöne Sache, nur verstehe ich leider kein Wort! Unter den Schauspielern gibt es auch dort tolle Leute. Ich bin immer gern in einem Milieu, in dem ich mit Schauspielern zusammen komme.

Es gibt jetzt ein ganz neues Stück?

Es ist das Stück über Nobel, „Mr. and Mrs. Nobel“ und das wurde am Nationaltheater in Oslo angenommen.

Worum geht es in dem Stück?

Das geht um Alfred Nobel und die Bertha von Suttner. Sie war eine bekannte Friedensaktivistin und sie haben sich kennen gelernt, als sie 33 war und er 43. Er hat sich sofort in sie verliebt und ihr sofort einen Antrag gemacht. Sie muss eine sehr einzigartige Person gewesen sein. Im letzten Moment ist sie aber weg und hat den Herrn von Suttner geheiratet, mit dem sie dann zehn Jahre in den Kaukasus gezogen ist. Als sie von dort zurückkam, traf sie Nobel wieder und da ging die eigentliche Beziehung erst los, auf jeden Fall die intellektuelle Beziehung. Sie war die erste, die ihm die Idee mit den Nobelpreisen vorgeschlagen hat. Das seltsame war ja, dass er Dynamitfabrikant war und steinreich wurde durch den Verkauf von Kriegsmaterial, sie dagegen Friedenskämpferin. Das ist eine sehr interessante Konstellation.

Intellektuell sind den beiden in der Beziehung die Themen sicherlich nicht ausgegangen ...

Ja. Es war schwierig, daraus ein Theaterstück zu machen. Ich musste zu einigen Tricks greifen.

Das hört sich nach Lügen an ...

(Fröhliches Lachen) Und ob! Obwohl, hier habe ich auch viel Realität zu verarbeiten gehabt. Insofern ist es eine Mischung von Lüge und Wahrheit.

Das erste Theaterstück, das ich auf der Bühne gesehen habe, war mein eigenes

Gibt es typische Situationen, die dich auf Themen bringen, die du dann bearbeiten willst? Etwas, was du liest, was du hörst, wovon dir berichtet wird...?

Ja! Immer mal wieder. In diesem Fall hat die Maria Becker mich gefragt, ob ich nicht ein Stück über die Bertha von Suttner für sie schreiben könnte.

Wie kam es dazu, dass du überhaupt Theaterstücke geschrieben hast?

Als ich in Buenos Aires auf die Universität ging und Medizin studierte, habe ich angefangen Stücke zu lesen. Ich hatte eine ziemlich lange Fahrtstrecke und die reichte gerade, dass ich immer ein Theaterstück lesen konnte. So habe ich viele Stücke gelesen, war aber nie im Theater, bis mein erstes Stück aufgeführt wurde. Als erstes Bühnenstück habe ich tatsächlich eines von mir gesehen. Und es war wahnsinnig schlecht inszeniert!

Esther, wann wurde für dich der Berufswechsel von der Ärztin zur Schriftstellerin klar?

(Denkt nach) Ich hatte nach dem Abschluss meines argentinischen Medizinstudiums in Deutschland ein Stipendium bekommen. Als das Stipendium nach einem Jahr ausgeschöpft war, wurde es nicht verlängert und da musste ich arbeiten. Da ich Medizinerin war wurde ich sehr leicht als Pharmareferentin genommen, die den Ärzten die neuen Medikamente angepriesen hat. Da hatte ich gleichzeitig viel Zeit und konnte noch etwas Anderes machen, da habe ich angefangen zu schreiben.
Das ging alles nicht so schnell. Erst habe ich ein Bühnenstück geschrieben, das wurde gar nicht angenommen, und dann habe ich den „dressierten Mann“ geschrieben. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich dazu gekommen bin. Jemand hat mir damals gesagt: Warum schreibst du nicht mal die Sachen alle auf, die du andauernd sagst – wir haben uns immer gestritten -, das würde sicherlich ein interessantes Buch werden und so habe ich es geschrieben. Zuerst haben es alle Verlage abgelehnt, alle Verlage! Dann habe ich selber die Druckfahnen drucken lassen, noch einmal weggeschickt und dann war ein Angebot von Bertelsmann da. Das habe ich angenommen. Am Anfang wurde es nicht viel verkauft, der Verlag hat dafür auch keine Reklame gemacht, bis dann eine Fernsehsendung kam, zu der war Germaine Greer eingeladen, die aber im letzten Moment absagte. So kam ich dorthin und habe diskutiert. Danach ging es los. Vorher war ich total anonym und als ich am nächsten Tag in Wien auf der Straße ging, da hat mich jeder, buchstäblich jeder erkannt. Es war so unglaublich, so ein Wechsel, den ich niemandem wünsche. Dann fing es mit der ganzen PR für das Buch an und als es ruhiger wurde, habe ich weiter geschrieben. Ich musste auch gar nichts Anderes mehr machen, weil ich genügend Geld verdient hatte, um als Schriftstellerin zu leben.

Dieses Buch, „Der dressierte Mann“, steht heute in der größten Buchhandlung in Berlin unter Soziologie und da das dort alphabetisch geht, steht dort Theweleit, Klaus neben Vilar, Esther und daneben Weber, Max.

Ja, gut! Sehr schön.

 

 

Wie du es vorhin erzählt hattest mit der Freiheit, habe ich den Eindruck, dass „Der dressierte Mann“ aufnimmt zu sagen: Werte Geschlechtgenossinnen, was macht ihr eigentlich aus diesen Männern?

Nnhn, ...

... Wo lasst ihr denen eine Freiheit? Es sind die angeblichen Herren der Schöpfung, die aber arbeiten gehen müssen. War da dieser Freiheitsgedanke schon das Element, genauer hinzuschauen, wie Rollenverteilungen ...

Ja, die Frage war, warum die Männer, die so frei sind, dass sie machen können, was sie wollen, warum sie diese Bindungen eingehen, wo sie dann gar nichts mehr machen können. Sie heiraten eine Frau, sie kriegen Kinder und von dem Punkt an sind sie dann ja in einer ganz engen Gasse, wo sie nur noch arbeiten können, um diese Familie zu ernähren. Denn alles andere wäre schrecklich, sie können die Familie ja nicht untergehen lassen. Warum machen sie das? Warum geben sie ihre Freiheit so gerne weg? ... Ja, es ist auch ein Kapitel über Freiheit im „dressierten Mann“

Aber in dem Titel wird doch angesagt, dass jemand diesen Mann dressieren muss. Darin ist doch angelegt, dass die Frauen den Mann dazu bringen, dass er sich so verhält.

Er sucht sich ja auch eine Frau aus, die ihn interessiert. Das ist ja nicht einseitig. Es sind einfach Fragen, Fragen an die Gesellschaft. Und die Gesellschaft sind im Grunde ja die Frauen, da die Männer ihre Freiheit dermaßen aufgegeben, dass sie sich noch nicht einmal zu protestieren trauen...
Aber das ist ja ein Buch von vor vierzig Jahren. Das ist jetzt alles ein bisschen anders geworden. Aber dass man seine Freiheit gerne weg gibt, das ist eine Tatsache: an einen anderen Menschen, eine Arbeit, eine Partei, eine Ideologie, eine Kirche.

Die Antrittsrede der amerikanischen Päpstin

Ist dir eines deiner Werke am wichtigsten?

Das kann ich so nicht sagen, aber „Die amerikanische Päpstin“ (1982) gehört sicher zu den Sachen, die ich am liebsten mag. Es kam als Buch, und zugleich habe ich es als Theaterstück geschrieben. Dieses ist bis jetzt unglaublich erfolgreich. Am Schluss wird diese Frau Päpstin, aber sie glaubt nichts mehr. Die ganze Kirche ist von ihren Vorgängern ruiniert worden, die wollten alle das Wort von Jesus Christus richtig ausführen und haben nach und nach alle Reichtümer ihrer Kirche verkauft und verschenkt. Dann war der Vatikan ganz arm und sie konnten nicht einmal mehr den Palast unterhalten, den mussten sie an eine Warenhauskette verkaufen. Es gab nur noch einen kleinen Raum, wo die amerikanische Päpstin ihre Antrittsrede halten konnte. Und da sagt sie dann, dass sie alles rückgängig machen wird, was bisher an Freiheiten eingeführt worden ist – da haben wir wieder die Freiheit -, und sie wird alles wieder so machen, wie es früher war und sein soll, sie wird wieder die traditionelle katholische Kirche etablieren. Das macht sie dann auch, obwohl sie mittlerweile Atheistin ist, macht alles rückgängig und bietet eine strenge Kirche an, denn die Leute sind in dieser liberalen Kirche ja nicht mehr geblieben. Es gab nur noch ein paar Millionen katholische Gläubige, weil die anderen alle zu strengeren Religionen abgewandert waren. Und das ist dann das Ende, sie fängt wieder ganz von vorne an mit ihrer Kirche. Und zum Schluss, als sie die Macht übernimmt, fängt sie an zu beten und man weiß nicht, ob sie tatsächlich betet oder ob es nur wieder eine Szene von ihr ist. Es kann sein, dass sie selbst wieder anfängt zu glauben, weil es schon eine Wahnsinnssache ist, wenn man als einzelne Person die Verantwortung für so viele Menschen haben soll. Man m u s s vielleicht denken, dass da oben noch jemand sitzt, der einem bei diesem gigantischen Unternehmen hilft.

Wie bist du auf die Idee zu diesem Stück gekommen?

Das kam auch von der Sache mit der Freiheit.

Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast: Es gibt einen österreichischen Komponisten, Bernd Stromberger, der hat ein Musical über den Papst geschrieben „In Nomine Patris“ - auch ein Papst braucht Liebe. Dabei geht es auch darum dass der Papst – vielleicht als Analogie zu Wojtyla, von dem ja auch gesagt wurde, dass er als junger Priester, sehr sportlich und den Lebensgenüssen nicht abgeneigt, mit einer Jugendliebe eine Tochter gezeugt haben soll -, so bekommt auch in diesem Musical der Papst mit, dass seine Liebschaft schwanger geworden war und er eine Tochter hat.

Meinst du, das ist wahr, dass der Wojtyla eine Tochter hatte?

Wenn nicht, so ist es eine gute Lüge. (Lachen) Denn das würde genau einen Erklärungspunkt setzen. Wenn er tatsächlich als junger Priester dieses Kind gezeugt hat und sich dann entscheiden muss, ob er Priester bleibt oder nicht, und es bleibt, hat er aus seiner katholischen Sicht eine Schuld auf sich geladen, mit der er sein ganzes Leben zu tun haben wird. Man hat von Wojtyla ja auch gesagt, er sei ein sehr spiritueller Papst, der halbe Tage auf dem Boden in seiner Privatkapelle gelegen und um Verzeihung gebetet habe. Und deshalb habe auch schon zu seiner Zeit als Johannes Paul II der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, das eigentliche Regiment ausgeführt und deshalb sei er dann auch Papst geworden. Deshalb wäre, wenn es denn stimmen sollte, Wojtyla die perfekte Personifizierung dieser Schuldverstrickung mit der Sehnsucht nach Vergebung, die Unterwerfung unter eine überirdische Macht ... Das wäre schon sehr passend. (Lacht) Wenn es eine Lüge ist, dann ist sie sehr gut gelogen.

Wojtyla war auch auf jeden Fall ein exzellenter Schauspieler.

Marketingtechnisch war das allerdings sehr kompliziert, denn Johannes Paul II. hatte als Person einen höheren Marketingwert als die Firmenmarke, die er vertrat, die katholische Kirche. Der Italiener Bruno Ballardini hat das in seinem Buch „Jesus wäscht weißer“ marketingtechnisch überzeugend beschrieben, welche Aufgabe Ratzinger erstmalig für einen ‚global player’, den die katholische Kirche unstrittig darstellt, erstmalig wagen musste, zwei sich widersprechende Strategien gleichzeitig zu fahren. Einerseits musste er als Person verdeutlichen: Es wird alles wieder anders, also eine Vorwärtsstrategie, und zum anderen musste er klar machen: Es geht alles wieder zurück zu dem bewährten Prinzipien vor dem II. Vatikanischen Konzil. Und das macht Ratzinger.

Macht er es gut?

Für einen Außenstehenden schwierig zu beurteilen. Aber es würde ja deine These von der Päpstin bestätigen, die sagt, wir müssen konservativer werden, wir müssen zurück. Das wäre genau die Parallelität. Er führt die lateinische Messe wieder ein, er hat die Pius-Brüder wieder aufgenommen, ...

... das macht meine Päpstin in etwa auch ... Ich glaube der hat mein Stück gesehen. (Lachen) Das ist gar nicht so absurd. Da waren schon mehrmals Bischöfe in dem Stück. Zum Schluss, als sie betet und man nicht weiß, ob sie jetzt glaubt oder nicht, ist es ja für beide Seiten akzeptabel. Es wurde auch schon in Klöstern aufgeführt. Jetzt wird es in Wien gerade gespielt und da kam – sagt man mir - der Höchste vom Stephansdom ins Theater. Solche Leute schauen sich das an. Ja, es bewegt sich manches, aber man weiß nicht, wohin.

    

 

Es ist ja manches Mal so, dass ein kritischer Blick von außen – er kommt ja meist von außen, drinnen ist man meist zu nah dran -, den Organisationen, die kritisiert werden, durchaus hilft. So hat der Springer-Konzern durch die scharfe Kritik der „68er“ sehr viel gelernt und sich besser profilieren können als vorher.

Wallraff und alle die anderen ... Ja, das hat denen genützt.

Es ist denen dadurch klar geworden, wo sie Fehler machen und sie haben es genau gelernt, bessere Optimierungsstrategien zu entwickeln.

Ich lese unterwegs oft die BILD-Zeitung. Auch wenn etwas über mich kommt ... Kürzlich war mal wieder etwas. Da war ein Foto, angeblich von mir - aber das war nicht ich, das habe ich anscheinend nur selbst bemerkt -, mit dem Kurt Jürgens, den ich nie kennen gelernt habe. Und darunter stand, ich hätte für ihn ein Lied komponiert, einen sehr bekannten Schlager. Und natürlich habe ich noch nie etwas komponiert. Für den Kurt Jürgens auch noch, nicht etwa für den Udo. Also, das ist BILD-Zeitung. (Lachen) Und ich denke, wenn ich bei denen irgendetwas anderes lese, dann ist das auf ähnliche Weise zustande gekommen. Sie erfanden seinerzeit für ihre Titelseite, dass Totenköpfe durch die Fenster meines Wohnzimmers flogen. Dabei war schon einiges Aufregende passiert, aber eben nicht das. Die Wahrheit wäre sogar aufregender gewesen. Ich versteh’s nicht.

Das finde ich nun aber spannend. Du hast doch eigentlich den Ansatz, Gedanken, Überlegungen von dir den Menschen nahe zu bringen. Die werden es ja prüfen, ist das nun gelogen oder nicht gelogen. Wenn es ein Sachbuch ist, und die BILD wäre als Zeitung ja auch der Sachlichkeit verpflichtet, dürfte es nicht mit der Lüge verknüpft sein. Insofern ist die BILD dann auch keine Zeitung, die sachlich informiert, sondern nur ein billiges Unterhaltungsblättchen und das machen sie prima. Was sie dabei Besonders machen, ist, dass es jeden Tag eine Sensation gibt.

Das machen sie geschickt. Doch man darf nicht vergessen, welch unglaublich wichtige Rolle BILD mit seiner Haltung zu Israel und den Juden gespielt hat und noch immer spielt. Nicht auszudenken, wenn dieses mächtige Blatt auf der Gegenseite wäre.
Doch ansonsten ist da eine enorme Raffinesse. Der Kachelmann hat kürzlich sein erstes Interview der ZEIT gegeben und BILD brachte diese Nachricht als Schlagzeile. Da habe ich mir die ZEIT gekauft und das Interview mit Kachelmann gelesen. Der schimpft dermaßen auf BILD . Doch das stört die nicht, die bringen das als Schlagzeile. Das ist Macht.

Du weißt, wer die Chefkommentatorin im Kachelmann-Prozess für die BILD war?

Ja, die Frau Schwarzer.

Ist das für dich im Rückblick eine Genugtuung – ich denke Frau Schwarzer dürfte eine der Frauen gewesen sein, die dich aus Deutschland vertrieben haben ...

Nicht direkt natürlich ...

... das stimmt, nicht persönlich, aber als Typus der Intoleranz. Jemanden, der eine kritische These vertritt, als Faschistin zu bezeichnen, das ist doch etwas sehr gewagt.

Ja, aber ich muss doch sagen, ich habe diese Leute auch wahnsinnig gereizt. Es war auch eine Art Hilflosigkeit ... Sie konnten sich nicht mehr anders gegen mich wehren.

Du hast dich damals nicht als Opfer gesehen?

Nein. Es hatte schon eine gewisse Konsequenz, obwohl es dann doch sicherlich zu viel war, was sie gemacht haben. Es war wirklich zuviel. Aber ich habe mir auch gesagt: Nun, ich habe das ausgelöst. Ich habe danach Lesungen unter Polizeischutz gehalten, das war nicht so lustig, aber richtig Angst hatte ich nie.

Du hast einmal gesagt, das Buch hätte dir auch geschadet? Es hat dich in Zuordnungen und Zuweisungen gebracht, die andere Themen von dir nicht anerkannten?

Ja, es hat mir geschadet, denn das Thema blieb für immer an mir haften. Denn als ich weiter schrieb, heiß es: Nun schreibt sie über Dummheit. Was kann die denn dazu sagen? Ich war die Spezialistin für Männer und Frauen. Und nun schreibt sie über Gott! Warum sollen wir denn von der darüber lesen? Und das war die eigentlich negative Konsequenz für mich, dass die anderen Sachen von mir nicht wahrgenommen, ja, oft absichtlich ignoriert wurden. Damit habe ich, denke ich, als Schriftstellerin sehr hoch bezahlt. Ich bin stolz, dass ich DER DRESSIERTE MANN geschrieben habe. Es war ein wichtiges Buch. Doch meine weitere Arbeit hat es ziemlich beschwert. Und die ist doch eigentlich auch ganz interessant.

Diese, sagen wir ruhig Berühmtheit, die du im Westen bekommen hattest, ist im Osten so nicht passiert ...

Dort geht es mir mit meinen anderen Arbeiten auch weitaus besser. Für die Theaterstücke ist es in den östlichen Ländern zum Beispiel erheblich leichter.

„Der betörende Glanz der Dummheit“

Die „Dummheit“, von der du gerade gesprochen hast, ist das dein Buch über den „betörenden Glanz der Dummheit“?

Ja, und es wird jetzt auch wieder neu im Alibri Verlag herausgebracht.

Ist es ein neues Interesse?

Es gefällt dem Verleger und er meint, das sollte wieder in den Buchhandel kommen.

Kannst du kurz sagen, worum es darin geht?

In „Der betörende Glanz der Dummheit“ geht es darum, dass ich Dummheit als einen Mangel an Phantasie und einen Mangel an Sensibilität definiere, und es die phantasievollen, sensiblen Leute es sehr viel schwerer haben mit ihrem Leben und ihrer Karriere, als die Dummen. Die Dummen fragen nicht, sie schauen nicht nach links und nach rechts, sie gehen einfach weiter und einem Dummen macht es nichts aus, Direktor von einer Firma zu werden und die Verantwortung für eine Vielzahl von Menschen zu übernehmen oder General zu werden und die Leute in den Krieg zu schicken. Die haben nicht so viele Hemmungen und sie müssen nicht soviel mit sich selbst kämpfen. Statt sensibel zu sein und zu denken, was ist jetzt, wenn ich diese Leute in den Krieg schicke und sie dann umkommen? fragen sie sich das nicht. Es geht darum, dass die Dummen leichter Karriere machen als die Gescheiten. Und dass wir letzten Endes von ihnen regiert und verwaltet werden.

Mir hat einmal jemand erzählt: Wenn man nicht vereinfachen kann, dann kann man kein Unternehmen führen. Als Beispiel: Es ist aufgrund der Marktsituation oder des Wettbewerbs eine Strukturveränderung notwendig, und jetzt muss der neue Geschäftsführer entscheiden, wir müssen das jetzt so und so ändern, und wer nicht bereits ist, mitzugehen in der Veränderung, der wird entlassen. Er darf nicht darüber nachdenken, dass der Mitarbeiter, der schon seit zwanzig Jahren dort arbeitet, sein Haus noch nicht abbezahlt hat, drei minderjährige Kinder hat, dass der dann in den finanziellen Ruin gestoßen wird. Er dürfe über bestimmte Konsequenzen seines Handels nicht nachdenken, sonst wird er handlungsunfähig. Sie müssen vereinfachen, um Entscheidungen auch vor sich selbst durchbringen zu können, denn wenn sie wissen würden, in welchem Kontext sie sich bewegen, müssten sie sich anders verhalten.

Dazu gehört aber auch, dass sie sich diesen Kontext einfach auch nicht vorstellen können, diesen Angestellten, der sein Haus noch abbezahlt und dann ausziehen muss oder Kinder zu ernähren hat, auch dass die Firma pleite gehen könnte durch seine Entscheidung, das kann er sich auch nicht vorstellen. Er glaubt an sich selbst. Die anderen, die sehen das alles viel zu kompliziert. Ein Dummer hat kein Problem mit sich selbst. Das gilt für die Liebe, das gilt für die Ökonomie, das gilt für alle Berufe. Ein Arzt, der jeden Tag mit seinen Patienten leidet, kann seinen Beruf vielleicht bald nicht mehr ausüben. Die Dummen haben es im Leben eben leichter als die anderen. Ohne Phantasie ist das Leben einfacher.

Eine alte Volksweisheit besagt: „Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln!“ Dadurch wird zwar keine Begründung dafür gegeben, aber der Zusammenhang von Dummheit und Erfolg wird darin benannt.

Ja, da gehört Vieles dazu. ich bin froh, dass dieses Buch jetzt wieder in den Handel kommt.

 

 

Ich habe noch eine andere Frage. In der „Nina Gluckstein" sagt die Protagonistin: Literaten sind Fachleute für Worte und Gefühle. Ich kam aus der Welt der Naturwissenschaften, der Mathematik, und dann schreibst du: „Es gibt - nach diesem Maßstab – keine befriedigendere Kunstform als das Gedicht.“ Nun hatten wir ja vorhin die exhibitionistischen Anteile beim Schreiben ..: Schreibst du Gedichte?

Nein, überhaupt nicht. Ich lese auch sehr wenige Gedichte. Meist muss man sich so viele Gedanken über so wenige Worte machen und nachher findet man heraus, dass der eigentliche Dichter sich nicht halb so viel dabei gedacht hat! (Allgemeines Lachen) Es gibt sicherlich wunderbare Gedichte, aber ich kenne die meisten überhaupt nicht.

Nun habe ich noch eine andere Frage. Anlässlich ihres siebzigsten Geburtstages wurde Peggy Guggenheim - die Millionenerbin, die in Venedig lebte und Kunst sammelte -, von einer jungen Journalistin gefragt, wie sie sich denn nun fühlen würde. Peggy Guggenheim antwortete: Es ist die beste Zeit meines Lebens! Worauf die ersichtlich perplexe junge Frau fragte: Wieso? Und Frau Guggenheim sagte in etwa: Früher hat mich die Sexualität manches Mal vor sich hergetrieben und mich veranlasst, unsinnige Dinge zu tun. (Lachen) Nun, mit siebzig, ist das alles zwar noch da aber ich kann es kontrollieren und mich endlich geruhsam den geistigen Dingen widmen, die mir auch immer sehr wichtig waren. Frage: Hättest du gegenüber einer solchen Aussage eine gewisse Sympathie oder  ...?

Ich finde es für die Peggy Guggenheim eine gute Aussage, aber ich habe noch gar nicht gemerkt, dass ich älter werde. (Sie lächelt) Ich ignoriere einfach das Thema Alter. So total, dass ich nicht darüber nachdenke und meist auch nicht darüber rede. Ich habe einmal ein Buch über das Altern geschrieben, das ist aber schon lange her, und da habe ich alles gesagt, was ich darüber denke. Das hat sich seitdem nicht verändert. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Art zu altern. Sagen wir so, es ist bis jetzt nichts wirklich anders geworden. Natürlich sehe ich älter aus!

Den Satz: „Wenn nichts mehr weh tut, ist man tot!“, den würdest du für dich nicht unterschreiben?

Nein. (Sie klopft leicht auf den Holztisch) Mir hat zum Gluck selten etwas wehgetan. (Kräftiges Klopfen auf das Holz) Ich bin natürlich auch mit guten Genen versorgt; meine Mutter ist jetzt mit 101 gestorben, und vielleicht habe ich eine andere Perspektive dadurch? Ich mag es auch nicht, mich über das Alter zu unterhalten und ignoriere alle Leute, die das gerne tun. Das ist kein feiges Wegschieben, ich musste bisher über das Negative einfach nicht Nachdenken. Über das Positive ja. Man lebt intensiver, wenn man weiß, man hat nicht mehr alle Zeit.

Ich brauche nicht über das Alter nachzudenken

Bei Männern heißt das ja: Der Sex wird sehr bewusst, denn jeder Orgasmus könnte der letzte sein.

Ja, Männer haben sehr viel mehr Probleme damit, alt zu werden.

Aber das könnte für einen Mann ja auch bedeuten, keusch zu werden, denn wenn der nächste Orgasmus der letzte sein könnte, dann ist es ja sinnvoll, diesen Zeitpunkt möglichst weit hinaus zu schieben?

Es ist für Frauen unter anderem einfacher, alt zu werden, weil wir nicht immer diese Angst haben müssen, dass es mit dem Sex zu Ende geht. Die müsst ihr ja andauernd haben.

Bist du dir sicher, dass dir da viele Frauen zustimmen werden?

Sie denken es unter diesem Aspekt wohl nicht durch. Aber diese Angst müssen wir Frauen einfach nicht haben. Und das ist doch schon ein enormer Vorzug, nicht wahr?

Noch eine weitere Frage. Bei deinem Erotik-Thriller hat es mich doch sehr überrascht, als ich das Motto las: „Der Mann soll seine Frau nicht vernachlässigen, und die Frau soll sich ihrem Mann nicht entziehen.“ ...

Ja, das ist aus der Bibel.

(Allgemeines Lachen) 1. Korinther, Vers 7, 3. Uuups, dachte ich, eine Frau, die noch nicht einmal fünf Minuten daran gedacht hat, religiös zu werden – so wie du es für dich in dem Buch von Fiona Lorenz „Wozu brauche ich einen Gott“ schreibst -, wie kamst du auf die Idee, einem Erotik-Thriller ein Bibelzitat voran zu stellen?

Das erschien mir so passend. (Gelächter) Und das passt auch! Aber ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Ich habe zu diesem Buch nie ein Interview gegeben, weil ich gar nicht so richtig wollte, dass man davon erfährt. Da lebte meine Mutter noch und ich wollte es ihr ersparen, dass sie erkennt, dass sie eine Tochter hat, die auch so etwas schreibt. Das hätte sie sehr wenig gefreut.

Hast du deiner Mutter auch sonst Freude gemacht?

Sie las meine Sachen immer und sie kam auch immer mit zu den Premieren von Theaterstücken. Das hat sie am meisten an mir gefreut, glaube ich. Jedenfalls hat sie sich nie bei mir beschwert.

  

 

Hast du manchmal den Anflug gehabt, dass deine Bücher wie deine Kinder sind, deine geistigen Kinder? Deren Erfolg du begleitest, deren Nicht-Anerkennung nicht begeistert ...

Nein. Für Männer kann das nahe liegend sein, Bücher als geistige Kinder zu betrachten, aber als Frau habe ich einfach andere Maßstäbe, was Kinder betrifft.

Es gibt biologische Kinder und die Bücher sind keine Kinder?

Im Grunde vergesse ich meine Bücher früher oder später. Was mir mit Kindern und Kindeskindern nicht passiert.

Samuel Beckett wurde einmal gefragt, warum er das Stück „Warten auf Godot“ geschrieben habe und er gab die meines Erachtens bezaubernde Antwort: „Wenn ich das wüsste, hätte ich es nicht geschrieben.“ Das heißt, er hat ein Thema, und wenn er es bearbeitet hat, dann ist es für ihn abgeschlossen, so dass er sich nicht mehr damit beschäftigen muss.

Das stimmt. Ja, man hat dann alles zu Ende gedacht, was damit zu tun hat. Alles was man selber zu diesem Thema denken kann, das hat man gedacht und aufgeschrieben. Man darf es vergessen.

Das heißt, du hast zu manchen Themen mittlerweile einen größeren Abstand bekommen?

Ja, zu allen Themen. Manchmal lese ich etwas von mir und bin dann erstaunt, dass es akzeptabel ist. Man denkt doch häufig, dass man früher weniger gut war und dann steht da in Druckschrift, dass man gar nicht so beschränkt gewesen ist. Gut!

Mich hat an deinen Arbeiten beeindruckt, mit welcher Konsequenz du Fragen durchdenkst und wie in einem deiner neuesten Bücher, „Die Schrecken des Paradieses“, dich mit der Frage beschäftigst, ob das Herbeigesehnte eigentlich tatsächlich so wünschenswert ist und ob das Versprechen eines ewigen Lebens nicht etwas bestürzend Langweiliges ist?

Ja, was ist dann, wenn unsere Wünsche erfüllt werden würden? Von meinem Standpunkt aus macht es keinen Sinn, ins Paradies zu kommen. Empfehlenswert ist aber der Park hier in der Nachbarschaft...

Okay, ich habe jetzt auch alle Fotos, die wir brauchen. Alles, was wir jetzt noch machen, wäre Luxus.

Ja, also! Dann erlauben wir uns jetzt etwas Luxus und gehen noch nebenan im Park spazieren, oder?

  

Das Gespräch mit Esther Vilar (am 19. Juni 2011 in London) führten Carsten Frerk und Evelin Frerk.