Am Gipfel: An einem wolkigen Tag in Kalifornien traf sich der Atheist Sam Harris mit dem christlichen Pastor Rick Warren
um die „größte Frage des Lebens“ zu besprechen: Gibt es Gott?
Rick Warren ist so groß wie ein Bär, mit dröhnender Stimme und unbekümmertem Charme. Sam Harris ist gedrungen, zurückhaltend und, trotz des polemischen Tonfalls in seinen Büchern, freundlich und sanftmütig. Warren, einer der bekanntesten Priester der Welt, gründete die Saddleback Church 1980. Heutzutage besuchen 25.000 Menschen jeden Sonntag seine Kirche. Harris spricht leiser; Details sprudeln aus ihm heraus, komplex und faktenreich, wie es sich für jemanden geziemt, der in Neurowissenschaften promovieren möchte. Eingeladen von NEWSWEEK trafen sie sich kürzlich in Warrens Büro und plauderten, größtenteils freundlich, vier Stunden lang. Jon Meacham moderierte. Hier einige Auszüge.
JON MEACHAM: Rick, da Sie den Heimvorteil haben, fangen wir mit Sam an. Sam, gibt es einen Gott, wie ihn sich die meisten [US-]Amerikaner vorstellen?
SAM HARRIS: Es gibt keinen Beleg für solch einen Gott. Es ist aufschlussreich, anzumerken, dass wir alle Atheisten sind in Bezug auf Zeus und die tausenden anderen toten Götter, die jetzt keiner mehr verehrt.
Rick, welchen Beleg gibt es für die Existenz eines abrahamitischen Gottes?
RICK WARREN: Ich sehe überall Gottes Fingerabdrücke. Ich sehe sie in der Kultur. Ich sehe sie in den Gesetzen. Ich sehe sie in der Literatur. Ich sehe sie in der Natur. Ich sehe sie in meinem eigenen Leben. Der Versuch, Gottes Ursprung zu verstehen, ist wie der Versuch einer Ameise, das Internet zu verstehen. Sogar die geistreichsten Wissenschaftler würden zustimmen, dass wir nur einen Bruchteil eines Prozents vom Wissen des Universums kennen.
HARRIS: Jeder Wissenschaftler muss eingestehen, dass wir das Universum nicht vollständig verstehen. Aber weder die Bibel noch der Koran geben unser aktuelles Verständnis des Universum wieder. Das ist glasklar.
WARREN: Für Sie.
Sam, muss der Christ, den Sie in Ihren Büchern ansprechen, glauben, dass Gott die Bibel schrieb und sie wörtlich zu nehmen ist?
HARRIS: Nun, es gibt eine gewisse Bandbreite an Textvertrauen. Ich meine, es gibt das „Es ist buchstäblich wahr, nichts darf symbolisch interpretiert werden“ und es gibt das „Das ist einfach das beste Buch, das wir haben, geschrieben von den klügsten Menschen, die jemals gelebt haben, und es ist nach wie vor gerechtfertigt, unser Leben – unbeeinflusst von anderen Büchern – davon leiten zu lassen“. Überall in dieser Bandbreite habe ich ein Problem, weil die Bibel und der Koran meiner Meinung nach nur Bücher sind, die von Menschen geschrieben wurden. Es gibt Bibelabschnitte, die absolut brilliant und, glaube ich, in ihrer Lyrik unerreicht sind. Es gibt aber auch Bibelabschnitte, die schieres Barbarentum sind, aber behaupten, eine göttlich beauftragte Moral vorzuschreiben. Wo soll ich anfangen? Nach dem 2., 3. oder 5. Buch Moses, dem 1. und 2. Buch der Könige oder dem 2. Buch Samuel müssten die Hälfte aller Könige und Propheten Israels vor [das Kriegsverbrechergericht in] Den Haag gebracht und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden, wenn diese Ereignisse zu unserer Zeit geschehen wären.
[An Warren] Ist die Bibel fehlerfrei?
WARREN: Ich glaube, sie ist fehlerfrei in dem, was sie behauptet. Die Bibel behauptet in vielen Bereichen nicht, ein wissenschaftliches Buch zu sein.
Glauben Sie, dass die Schöpfung so geschah, wie das 1. Buch Moses sie beschreibt?
WARREN: Wenn Sie mich fragen, ob ich an die Evolution glaube, ist meine Antwort „nein“, mach ich nicht. Ich glaube, dass Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt den Menschen geschaffen hat. Ich glaube, dass die Genesis wörtlich zu nehmen ist, aber ich weiß auch, dass metaphorische Begriffe benutzt werden. Kam Gott herunter und blies in die Nase des Mannes? Wenn Sie an Gott glauben, haben Sie kein Problem damit, Wunder zu akzeptieren. Also, wenn Gott es so machen möchte, ist es für mich auch in Ordnung.
HARRIS: Ich promoviere in Neurowissenschaften; ich bin mit der Literatur in der Evolutionsbiologie vertraut. Und der grundlegende Punkt besteht darin, dass Evolution durch natürliche Selektion zufällige genetische Mutationen bedeutet, über Millionen Jahre hinweg im Zusammenwirken mit Umweltbeschränkungen, wodurch Fitness ausgewählt wird.
WARREN: Wer wählt aus?
HARRIS: Die Umgebung. Sie brauchen keinen intelligenten Designer anzuführen, um die Komplexität um uns herum zu erklären.
WARREN: Sam stellt alle möglichen Arten von Behauptungen auf, ausgehend von seinen Voraussetzungen. Ich bin bereit, meine Voraussetzungen anzugeben: Es gibt Hinweise auf Gott. Ich spreche jeden Tag zu Gott. Er spricht jeden Tag zu mir.
HARRIS: Was soll das denn bedeuten?
WARREN: Einer der größten Beweise für Gott ist ein erhörtes Gebet. Ich habe einen Freund, einen kanadischen Freund, der ein Einwanderungsproblem hat. Er ist Praktikant in dieser Kirche; deshalb sagte ich: „Gott, ich brauche Dich, um mir dabei zu helfen“, als ich das Haus für meinen Abendspaziergang verließ. Während ich spazieren ging, traf ich eine Dame. Sie sagte: „Ich bin Anwältin für Einwanderungsfragen; ich kann mich des Falls gerne annehmen.“ Nun, wenn dies einmal in meinem Leben passiert wäre, würde ich sagen: „So ein Zufall.“ Wenn es zehntausende Male passiert, ist es kein Zufall.
Sie haben sicher während Ihrer Priesterschaft für jemanden gebetet, um ihn - sagen wir, ein kleines Mädchen mit Krebs – von der Krankheit zu befreien und es hat nicht funktioniert.
WARREN: Ja, absolut.
Wollen wir‘s mal analysieren. Gott bescherte Ihnen einen Einwanderungsanwalt, aber Gott tötete ein kleines Mädchen.
WARREN: Nun, ich glaube an die Güte Gottes, und ich glaube, dass er es besser weiß als ich. Gott sagt manchmal „Ja“, Gott sagt manchmal „Nein“ und Gott sagt manchmal „Warte.“ Ich musste den Unterschied zwischen „nicht“ und „noch nicht“ lernen. Der Punkt hier ist die Demut. Eine Menge Atheisten verstecken sich hinter dem Rationalismus. Wenn Sie nachfassen, werden Sie merken, dass ihre Reaktionen ziemlich emotional sind. Wirklich, ich habe noch keinen Atheisten getroffen, der nicht wütend war.
HARRIS: Lassen Sie mich der erste sein.
WARREN: Ich denke, Ihre Bücher sind recht wütend.
HARRIS: Ich würde es eher ungeduldig als wütend nennen. Lassen Sie mich auf diese Bemerkung über erhörte Gebete antworten, weil diese – um es mal statistisch auszudrücken – ein klassischer Stichprobenfehler sind. Wir wissen, dass Menschen ein unzulängliches Gespür für Wahrscheinlichkeiten haben. Häufig glauben wir, unsere Vorurteile über die Welt bestätigt zu bekommen, und wir glauben dies, weil wir nur die Bestätigungen wahrnehmen und Widersprechendes nicht registrieren. Sie könnten zur Genugtuung jedes Wissenschaftlers mit einem einfachen Experiment beweisen, dass fürsprechende Gebete funktionieren. Sorgen Sie dafür, dass eine Milliarde Christen für einen einzelnen Amputierten beten. Lassen Sie sie beten, dass Gott die fehlenden Gliedmaßen nachwachsen lässt. Salamander gelingt dies jeden Tag, vermutlich ohne Gebet; das gehört zu Gottes Fähigkeiten. [Warren lacht.] Ich halte es für bemerkenswert, dass gläubige Menschen dazu neigen, nur für Zustände zu beten, die sich selbst begrenzen.
WARREN: Hier liegt ein Missverständnis vor.
HARRIS: Lassen Sie uns zur Bibel zurückkehren. Der Grund, weshalb Sie glauben, dass Jesus der Sohn Gottes sei, ist Ihr Glaube, dass das Evangelium einen verlässlichen Bericht der Wunder von Jesus darstellt.
WARREN: Das ist einer der Gründe.
HARRIS: Ja. Das ist einer der Gründe. Nun, es gibt viele Zeugnisse über Wunder, jedes einzelne so erstaunlich wie die Wunder von Jesus, in der Literatur anderer Weltreligionen. Sogar Wunder unserer Zeit. Es gibt Millionen Leute, die glauben, dass Sathya Sai Baba, der südindische Guru, von einer Jungfrau geboren wurde, Tote auferweckt hat und Gegenstände materialisiert. Ich meine – Sie können einige seiner Wunder auf YouTube ansehen. Stellen Sie sich darauf ein, unterwältigt zu werden. Er ist ein Bühnenmagier. Als Christ können Sie entgegnen, Sathya Sai Babas Wundererzählungen seien nicht interessant, ignorieren wir sie. Wenn Sie sie aber in das vorwissenschaftliche, religiöse Milieu des Römischen Reiches im ersten Jahrhundert versetzen, erscheinen plötzlich Wundererzählungen besonders unwiderstehlich.
Sam, was sind die weltlichen Quellen eines akzeptablen Moralkodex?
HARRIS: Nun, ich glaube nicht, dass religiöse Bücher die Quelle sind. Bezogen auf die Bibel richten wir darüber, was gut ist. Wir erkennen die Goldene Regel [“Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ (d. Übers.)] als großartige Destillation der ethischen Antriebe an, aber die Goldene Regel ist nicht alleinig der Bibel oder Jesus zuzuordnen. Sie treffen sie in vielen, vielen Kulturen an – und in bestimmten Formen ist sie auch bei nichtmenschlichen Primaten anzutreffen. Ich bin überhaupt kein Werte-Relativist. Ich denke, dass unter religiösen Menschen der Glaube recht verbreitet ist, dass Atheismus moralischen Relativismus nach sich zieht. Ich glaube, dass es ein absolutes „richtig und falsch“ gibt. Meiner Meinung nach sind Ehrenmorde eindeutig „falsch“ - Sie können das Wort „böse“ gebrauchen. Eine Gesellschaft, die Frauen und Mädchen wegen sexueller Verfehlungen ermordet, sogar wegen dem Fehler, vergewaltigt zu werden, ist eine Gesellschaft, die Mitleid getötet hat, die versagt hat, Männer zu lehren, Frauen zu achten und in der jegliches Mitgefühl ausgemerzt wurde. Mitgefühl und Mitleid sind unsere grundlegendsten moralischen Antriebe und wir können die Goldene Regel lehren, ohne uns oder unseren Kindern irgendetwas vorzumachen über den Ursprung gewisser heiliger Bücher oder die Jungfrauengeburt bestimmter Leute.
Rick, das Christentum hat sich von Zeit zu Zeit in einer verwerflichen, bösartigen Weise gezeigt. Wie bringen Sie dies mit dem christlichen Evangelium der Liebe in Übereinstimmung?
WARREN: Ich fühle mich nicht in der Pflicht, Sachen zu verteidigen, die zwar im Namen Gottes begangen wurden, die aber meiner Meinung nach Gott weder gut hieß noch verteidigte. Wurden im Namen des Christentums manche Dinge falsch getan? Ja. Sam behauptet in seinem Buch, dass die Religion für die Welt schlecht sei, aber weitaus mehr Menschen sind durch Atheisten als durch alle Religionskriege zusammen getötet worden. Tausende starben durch die Inquisition; Millionen starben unter Mao, Stalin und Pol Pot. Heute gibt es in der Welt eine Heimat für Atheisten – Nord Korea. Ich kenne keine Atheisten, die dorthin wollen. Ich lebe lieber unter Tony Blair, oder sogar George Bush. Das Fazit ist, dass Atheisten, die Christen wegen ihrer Intoleranz angreifen, gleichermaßen intolerant sind.
HARRIS: Inwiefern bin ich intolerant? Ich bin nicht dafür, dass wir Menschen wegen ihres Glaubens einsperren. Sie können in Westeuropa eingesperrt werden, wenn Sie den Holocaust leugnen. Meiner Ansicht nach eine furchtbare Art, um dem Problem zu begegnen. Dies ist wirklich eines der größten Irrtümer in der religiösen Auseinandersetzung, die Idee, dass die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts aufgrund des Atheismus verübt wurden. Das Kernproblem ist für mich entzweiender Dogmatismus. Es gibt viele Arten von Dogmatismus. Da gibt es Nationalismus, Stammesdünkel, Rassismus und Chauvinismus. Und es gibt Religion. Religion ist hierbei die einzige Sphäre der Auseinandersetzung, in der „Dogma“ als guter Begriff gewertet wird, wo es als edelnd gilt, etwas auf der Basis von starkem Glauben zu vertreten.
WARREN: Sie glauben nicht, dass Atheisten dogmatisch sind?
HARRIS: Nein, das glaube ich nicht.
WARREN: Tut mir leid, ich bin da anderer Meinung. Sie sind ziemlich dogmatisch.
HARRIS: OK, ich freue mich darauf, dass Sie meine Dogmen herausarbeiten, aber lassen Sie mich zunächst auf Stalin zurückkommen. Die Todesfelder und die Gulags waren nicht das Machwerk von Menschen, die zu vorsichtig waren, Dinge aufgrund unzureichender Belege zu glauben. Sie waren nicht das Machwerk von Menschen, die zu viele Beweise und zu viele Argumente für das brauchen, woran sie glauben. Es gibt Menschen, die Flugzeuge in unsere Gebäude fliegen, weil sie theologische Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen haben. Mir fällt auf, dass Christen explizit aus religiösen Gründen schreckliche Dinge tun – zum Beispiel, dass sie die [embryonale] Stammzellenforschung nicht fördern. Die Beweggründe sind für mich immer das Wichtigste. Noch nie hat eine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte gelitten, weil sie zu vernünftig geworden war.
WARREN: Wir stimmen hier exakt überein. Ich glaube nur, dass das Christentum die Vernunft bewahrt hat. Wir hätten keine Bill of Rights [Grundrechte der US-Verfassung, d. Übers.] ohne Christentum.
HARRIS: Das ist sicherlich ein umstrittener Anspruch. Der Gedanke, dass wir irgendwie unsere Moralvorstellungen aus der jüdisch-christlichen Tradition beziehen, zeugt von schlechtem Geschichts- und Wissenschaftsverständnis.
WARREN: Woher beziehen Sie Ihre Moralvorstellungen? Wenn es keinen Gott gibt, wenn ich nur komplizierter Schlamm bin, dann ist doch die Wahrheit: Ihr Leben zählt nicht, mein Leben zählt nicht.
HARRIS: Das ist eine komplette Karikatur des -
WARREN: Nein, lassen Sie mich das zu Ende bringen. Ich lasse Sie das Christentum karikieren. Falls das Leben nur Zufall ist, dann zählt nichts wirklich und es gibt keine Moral – es bleibt das Überleben des Stärkeren. Wenn das Überleben des Stärkeren bedeutet, dass ich Sie töten muss, um zu überleben, dann sei es so. Seit Jahren sagen Atheisten, es gibt keinen Gott, aber sie möchten so leben, als ob Gott existierte. Sie möchten leben, als ob ihr Leben eine Bedeutung hätte.
HARRIS: Unsere Moralvorstellungen, die Bedeutung, die wir im Leben finden, ist eine gelebte Erfahrung, die, meiner Meinung nach, um einen vorbelasteten Begriff einzuführen, eine spirituelle Komponente hat. Ich glaube, dass wir unsere Erfahrung der Welt radikal zum Besseren wenden können, sehr ähnlich dem, wie es jemand wie Jesus oder jemand wie Buddha bezeugten. Unsere spirituelle Literatur, unsere Erbauungsliteratur steckt voller Weisheit; und ich bin ziemlich interessiert daran, sie zu verstehen. Ich glaube, dass Meditation und Gebet auf uns verbessernd wirken. Die Frage ist, was wir auf der Grundlage solcher Bewusstseinsveränderungen vernünftigerweise glauben können?
WARREN: Sie werden nicht zugeben, dass es Ihre Erfahrung war, die Sie zum Atheisten werden ließ, nicht Vernunft.
HARRIS: Was in Ihren Erfahrungen hat Sie zu jemandem werden lassen, der kein Moslem ist? Ich unterstelle mal, dass Sie nicht schlaflos jede Nacht darüber grübeln, ob Sie zum Islam konvertieren. Und falls nicht, dann bestimmt, weil die Moslems sagen: „Wir haben ein Buch, welches das makellose Wort des Schöpfers unseres Universums ist, es ist der Koran, er wurde Mohammed in seiner Höhle vom Erzengel Gabriel diktiert“ und Sie darin eine Vielzahl von Behauptungen erkennen, die nicht durch genügend Belege untermauert sind. Wenn die Belege dagegen ausreichend wären, wären Sie genötigt, Moslem zu sein.
WARREN: Das stimmt genau.
HARRIS: Also stehen Sie und ich in einer atheistischen Beziehung zum Islam.
Übersetzer: Volker Radek
Lektor: Andreas Müller
Original: Newsweek, 9. April 2007
Hier finden Sie einen Vergleich der Originaldebatte mit Volker Radeks Übersetzung.
Die Neuen Atheisten
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