GREIFSWALD. (hpd) Für die DDR-Führung war die Evangelische Studentengemeinde Greifswald eine Konkurrenz bei der Erziehung der Jugend, sagen Wolfgang Gräfe und Guntram Schulze, frühere Gemeindemitglieder.
„Ein Staat, der seine Jugend derart verbiegt, hat seine historisch-progressive Rolle verspielt.“ So bilanzierte Dr. Guntram Schulze am Dienstagabend seine Erkenntnisse über die Bespitzelung der Evangelischen Studentengemeinde Greifswald (ESG) zwischen 1954 und 1973 durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR.
Rund 42 geheime Informanten hatten das Gemeindeleben der ESG während der beiden Jahrzehnte ausgeforscht. Die Identität und Arbeit von 19 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) konnten er und Wolfgang Gräfe bisher aus den Akten erschließen. Die beiden früheren ESG-Mitglieder erforschen seit 2008 die Geschichte der Gemeinde. Vor rund 30 Gästen gaben sie im großen Saal des Oberlandesgerichts, dessen Gebäude zu DDR-Zeiten Sitz des MfS war, über ihre Erkenntnisse Auskunft. Eingeladen hatten die ESG und der Verein „Gegen Vergessen — Für Demokratie“.
Wolfgang Gräfe und Guntram Schulze schilderten, was sie über das Schicksal von bespitzelten ESG-Mitgliedern wie auch das von beteiligten IM, regelmäßig selbst Studenten, herausgefunden hatten. „Für die DDR-Führung stellte die ESG eine Konkurrenz bei der Erziehung der Jugend dar“, erklärte Gräfe. „Die natürliche Offenheit der Gemeinde wurde deshalb häufig ausgenutzt.“
Sie zeigten, wie unterschiedlich die „Karrieren“ der studentischen Stasi-Helfer begannen, verliefen und endeten. Während das MfS sich anfangs erfolglos um eine „Aufklärung“ bemühte, soll zu Beginn der 1970er Jahre ein „regelrechter Zangenangriff“ stattgefunden haben. Allein zwölf der 19 IM wurden in den letzten fünf Jahren bis 1973 aktiv, so Gräfe. Mit teilweise dramatischen Folgen: Eine mit Nacktfotos erpresste Studentin kam wegen des Drucks durch Stasi-Offiziere in die Psychiatrie, nahm sich später das Leben.
Manche IM gelangten sehr schnell in den Kreis der Vertrauensstudenten, knüpften enge Kontakte zu den studentischen Pastoren. „Die Pfarrer wussten, dass sie beobachtet werden. Reagieren konnten sie kaum. Es sollte keine Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens in der Gemeinde geben.“ IM lieferten so mit Hilfe des bei ihren christlichen Kommilitonen erschlichenen Vertrauens ein „sehr umfassendes, detailliertes Bild der ESG“, berichteten auch nach dem Studium weiter. Andere wurden von Zweifeln gepackt, brachen den Kontakt zum MfS ab oder offenbarten sich.
„Uns geht es nicht um Vergeltung, sondern um die Aufdeckung der Wahrheit.“ Gräfe sagte, sie stünden nun am Scheideweg. „Schweinehund-Recherche oder eine Einordnung der IM in ihre Zeit?“ — das sei für ihn und Schulze jetzt eine wichtige Frage mit Blick auf die Fortführung des Projekts. Gäste forderten: „Arbeiten Sie weiter, forschen Sie weiter!“ Kritisiert wurde, dass sich bei der Aufarbeitung hier 20 Jahre lang fast nichts getan hätte. „In der Schule wird das nicht behandelt, die Jugend hat keine Ahnung.“ Außerdem müsse man nicht immer nur über das MfS, sondern auch den Kopf der Stasi, die SED, reden.
Hannelore Kohl, Gerichtspräsidentin und Vorstandsmitglied des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, sagte schließlich: „Ich würde mich freuen, wenn das den Anstoß gibt zu erkennen, wie wichtig auch Forschung im Kleinen ist.“ Auch eine heutige ESG-Studentin meldete sich zu Wort: „Klarnamen sind uns gar nicht so wichtig, sondern die Geschichten dahinter. Wenn man die alten Unterlagen der ESG liest, denkt man oft, es hat sich bis heute nicht viel verändert. Doch wenn man diese Berichte hört, merkt man schnell, es hat sich verdammt viel geändert.“
Arik Platzek