WIEN. (hpd) So geht es nicht weiter. Das bekunden wahrscheinlich hunderttausende Teilnehmer an Demonstrationen in der westlichen Welt. Sie drücken eine Grundstimmung aus, die auch jene erfasst hat, die den Protesten vielleicht skeptisch gegenüberstehen. Christoph Baumgarten versucht sie zu artikulieren.
Wenn bei uns in Österreich hunderttausend Metallarbeiterinnen und -arbeiter in einen befristeten Ausstand treten, was hat das mit der „Occupy Wall Street“ Bewegung zu tun? Auf den ersten Blick wenig: Hier eine für hiesige Verhältnisse sehr radikale Reaktion auf schleppende Lohnrunden, dort eine allgemeine Unzufriedenheit mit Spar- und Bankenrettungspaketen. Hier die organisierte Gewerkschaft, die von den unorganisierten Massen dort vielfach als Teil des Establishments gesehen wird, gegen das sie protestieren. Auf den ersten Blick überwiegen die Widersprüche. Erst die Analyse zeigt, dass beide Reaktionen auf einer gemeinsamen Grundstimmung aufbauen.
In einem Interview mit einer Aktivistin der Audimax-Bewegung vor zwei Jahren in Wien habe ich diese Stimmung als „Grundangefressenheit“ bezeichnet. Im regionalen Idiom ein emotional sehr präziser Ausdruck, der außerhalb erklärt werden muss. Angefressen sein ist eine aggressivere Form der Unzufriedenheit, bedeutet, genug von etwas zu haben, bedeutet, sich über einen Missstand zu ärgern, bedeutet häufig (aber nicht immer), das zu artikulieren. Ein Gefühl, das ein gutes Stück weit weg ist vom offenen Zorn, wie er in Rom und Athen ausgetragen wird. Wenn man so will, ein potentielles Verbindungsstück zwischen bloßer Unzufriedenheit und Zorn – sofern sich die Angefressenheit nicht im Raunzen erschöpft, in der (fälschlicherweise) für typisch österreichisch gehaltenen Form des Klagens über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen.
Diese Grundangefressenheit steckt seit Jahren in den Menschen. In den vergangenen Wochen hat sie sich offen gezeigt. Ob es die Gewerkschafter sind, die die Schnauze voll haben von unbefriedigenden Lohnangeboten oder „bloße Betroffene“ der Wirtschaftskrise bzw. Studierende, ist egal. Beide Gruppen ergreifen Maßnahmen, die vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Siehe auch die Streiks der Beamten von Wisconsin. Beide Gruppen motivieren einander mit ihren Protesten. Zumindest fallweise.
Der Faden ist gerissen
Die Grundangefressenheit hat sich über die vergangenen Jahrzehnte aufgebaut. Den 99 Prozent, die wenig oder gar nichts haben, fehlt es an Perspektiven aller Art. In der mehr oder weniger sozialen Marktwirtschaft war die Vorstellung, mit Bildung und harter Arbeit könne man es „zu etwas bringen“ unverzichtbarer sozialer Kitt. Die Vorstellung schien sich auch lange zu bewahrheiten. Allein, irgendwann vor 20 oder 25 Jahren ist der Faden dieses westlichen Narrativs gerissen. Sichtbar wird es an steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Lohnquoten. Egal in welchem westlichen Land man lebt, man muss immer härter arbeiten, um zumindest den Status Quo zu halten. Davon, dass es einem besser geht oder wenigstens den eigenen Kindern, ist lange keine Rede mehr. Die heute junge Generation geht nach Umfragen in so gut wie allen Ländern davon aus, einmal weniger zu haben als ihre Eltern. Das stärkt nicht unbedingt den Optimismus.
Auch nicht gerade förderlich ist es, wenn der Sozialstaat mehr oder weniger schleichend abgeschafft wird. Sei es mit dem Argument „wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ (siehe Griechenland) oder mit dem zynischen Zusatz, weniger Sozialstaat befähige den Einzelnen, die soziale Leiter hinaufzusteigen, die längst abgebaut wurde – siehe Hartz IV. Das betrifft weit mehr als die Menschen, die in die Mühlen des staatlich verwalteten Sozialabstiegs kommen. Das Mantra: „Sei froh, dass du einen Job hast“, hat jeder im Kopf.
Je größer die Unsicherheit, desto unmittelbarer die Angst vor dem staatlich verordneten Abgleiten in die Armut. Das macht auch nicht gerade optimistisch. Genauso wenig wie die Dauer-Ankündigungen, die Pensionen (in Deutschland: Renten, Anm.) seien nicht gesichert. Schülerinnen und Schülern wird regelmäßig eingeimpft, dass es „für euch keine Pension mehr“ geben werde. Vertraut auf die Kapitalmärkte, lautet die Botschaft. Legt dort an. Das mutete schon vor der Finanzkrise zynisch an. Wer wenig verdient, hat kein Geld, um es irgendwo anzulegen. Zynisch wirkt die Aufforderung, die gerade wieder laut wird, auch nicht nur angesichts der Verluste, die die Entwicklung auf den Finanzmärkten den „kleinen“ Sparern gebracht hat. Sie haben verloren, was zu verlieren war. Großinvestoren sind reich wie nie zuvor, mit Ausnahme einiger weniger Pleitiers. Die Wirtschaftskrise hat einen Konzentrationsprozess mit sich gebracht, der bislang unvorstellbar war.