99 Prozent Grundangefressenheit

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Collage F. Lorenz

WIEN. (hpd) So geht es nicht weiter. Das bekunden wahrscheinlich hunderttausende Teilnehmer an Demonstrationen in der westlichen Welt. Sie drücken eine Grundstimmung aus, die auch jene erfasst hat, die den Protesten vielleicht skeptisch gegenüberstehen. Christoph Baumgarten versucht sie zu artikulieren.

Wenn bei uns in Österreich hunderttausend Metallarbeiterinnen und -arbeiter in einen befristeten Ausstand treten, was hat das mit der „Occupy Wall Street“ Bewegung zu tun? Auf den ersten Blick wenig: Hier eine für hiesige Verhältnisse sehr radikale Reaktion auf schleppende Lohnrunden, dort eine allgemeine Unzufriedenheit mit Spar- und Bankenrettungspaketen. Hier die organisierte Gewerkschaft, die von den unorganisierten Massen dort vielfach als Teil des Establishments gesehen wird, gegen das sie protestieren. Auf den ersten Blick überwiegen die Widersprüche. Erst die Analyse zeigt, dass beide Reaktionen auf einer gemeinsamen Grundstimmung aufbauen.

In einem Interview mit einer Aktivistin der Audimax-Bewegung vor zwei Jahren in Wien habe ich diese Stimmung als „Grundangefressenheit“ bezeichnet. Im regionalen Idiom ein emotional sehr präziser Ausdruck, der außerhalb erklärt werden muss. Angefressen sein ist eine aggressivere Form der Unzufriedenheit, bedeutet, genug von etwas zu haben, bedeutet, sich über einen Missstand zu ärgern, bedeutet häufig (aber nicht immer), das zu artikulieren. Ein Gefühl, das ein gutes Stück weit weg ist vom offenen Zorn, wie er in Rom und Athen ausgetragen wird. Wenn man so will, ein potentielles Verbindungsstück zwischen bloßer Unzufriedenheit und Zorn – sofern sich die Angefressenheit nicht im Raunzen erschöpft, in der (fälschlicherweise) für typisch österreichisch gehaltenen Form des Klagens über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen.

Diese Grundangefressenheit steckt seit Jahren in den Menschen. In den vergangenen Wochen hat sie sich offen gezeigt. Ob es die Gewerkschafter sind, die die Schnauze voll haben von unbefriedigenden Lohnangeboten oder „bloße Betroffene“ der Wirtschaftskrise bzw. Studierende, ist egal. Beide Gruppen ergreifen Maßnahmen, die vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Siehe auch die Streiks der Beamten von Wisconsin. Beide Gruppen motivieren einander mit ihren Protesten. Zumindest fallweise.

Der Faden ist gerissen

Die Grundangefressenheit hat sich über die vergangenen Jahrzehnte aufgebaut. Den 99 Prozent, die wenig oder gar nichts haben, fehlt es an Perspektiven aller Art. In der mehr oder weniger sozialen Marktwirtschaft war die Vorstellung, mit Bildung und harter Arbeit könne man es „zu etwas bringen“ unverzichtbarer sozialer Kitt. Die Vorstellung schien sich auch lange zu bewahrheiten. Allein, irgendwann vor 20 oder 25 Jahren ist der Faden dieses westlichen Narrativs gerissen. Sichtbar wird es an steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Lohnquoten. Egal in welchem westlichen Land man lebt, man muss immer härter arbeiten, um zumindest den Status Quo zu halten. Davon, dass es einem besser geht oder wenigstens den eigenen Kindern, ist lange keine Rede mehr. Die heute junge Generation geht nach Umfragen in so gut wie allen Ländern davon aus, einmal weniger zu haben als ihre Eltern. Das stärkt nicht unbedingt den Optimismus.

Auch nicht gerade förderlich ist es, wenn der Sozialstaat mehr oder weniger schleichend abgeschafft wird. Sei es mit dem Argument „wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ (siehe Griechenland) oder mit dem zynischen Zusatz, weniger Sozialstaat befähige den Einzelnen, die soziale Leiter hinaufzusteigen, die längst abgebaut wurde – siehe Hartz IV. Das betrifft weit mehr als die Menschen, die in die Mühlen des staatlich verwalteten Sozialabstiegs kommen. Das Mantra: „Sei froh, dass du einen Job hast“, hat jeder im Kopf.

Je größer die Unsicherheit, desto unmittelbarer die Angst vor dem staatlich verordneten Abgleiten in die Armut. Das macht auch nicht gerade optimistisch. Genauso wenig wie die Dauer-Ankündigungen, die Pensionen (in Deutschland: Renten, Anm.) seien nicht gesichert. Schülerinnen und Schülern wird regelmäßig eingeimpft, dass es „für euch keine Pension mehr“ geben werde. Vertraut auf die Kapitalmärkte, lautet die Botschaft. Legt dort an. Das mutete schon vor der Finanzkrise zynisch an. Wer wenig verdient, hat kein Geld, um es irgendwo anzulegen. Zynisch wirkt die Aufforderung, die gerade wieder laut wird, auch nicht nur angesichts der Verluste, die die Entwicklung auf den Finanzmärkten den „kleinen“ Sparern gebracht hat. Sie haben verloren, was zu verlieren war. Großinvestoren sind reich wie nie zuvor, mit Ausnahme einiger weniger Pleitiers. Die Wirtschaftskrise hat einen Konzentrationsprozess mit sich gebracht, der bislang unvorstellbar war.

Eine Frage der Moral

Wem will man vorwerfen, dass er oder sie keinen allzu großen Optimismus versprüht? Jenen, die seit Jahren immer härter arbeiten und immer weniger bekommen. Zumindest machen das die, die haben. Der Bevölkerung mangele es an Optimismus, Risiko- und Opferbereitschaft, hört man allerorten. Und vor allem an „unternehmerischem Denken“, was auch immer das genau sein soll und was auch immer eine Supermarktkassiererin mit einer 45-Stunden-Woche (inklusive fünf unbezahlter Stunden) damit machen soll. Einen Buchhaltungskurs belegen und sich als Ich-AG anmelden?

Bei den österreichischen Studierenden ist es nicht anders: Die Unis werden kleingespart und die „Motivation“ der Studierenden wird zum Thema gemacht. Wenn die „Einstellung“ stimmt und genügend fertig studieren, steigt die Akademikerquote, heißt es. Um das zu erreichen sollte es möglichst wenig Studierende geben. Und die sollten nach Möglichkeit a) büffeln, b) Schnauze halten und c) nebenbei „praktische Erfahrung“ sammeln. Kein Wunder, dass die 2009 auf die Barrikaden gingen. Der erste Ausdruck der Grundangefressenheit, der sich in mehr erschöpfte als bloßer Protestgeste wie man sie von den „Globalisierungskritikern“ kennt und größere Beachtung in der westlichen Welt fand. Bemerkenswert angesichts der ausgeprägten Aversion der Österreicherinnen und Österreicher gegen alles, was nur entfernt an Revolution erinnert. Und wieder stehen die Studierenden auf den Barrikaden. Die Zustände an den Unis reichen nicht, es soll noch mehr gespart werden. Zu Lasten der Studierenden, versteht sich. Geht es nach der Politik, sind sie an der Misere schuld. Was wollen sie auch eine höhere (Aus-)Bildung?

Dass es Politik und Wirtschaft unisono sind, die höhere (Aus-)Bildung zum einzigen Kriterium erklärt haben, von dem die „Chancen am Arbeitsmarkt“ abhängen, die Fähigkeit des Einzelnen für einen mehr oder weniger angemessenen Lebensunterhalt zu sorgen, wird geflissentlich verschwiegen. Oder wurde von der breiten Masse offenbar nur falsch verstanden. Wie überhaupt das ganze System. Das manifestiert sich aus Sicht der Betriebswirte darin, dass die „Masse“ „niedere“ Jobs macht und nicht alle Unternehmensberater werden. Der Nicht-Aufstieg wird zur individuellen Frage erklärt. Man ist zu blöd oder moralisch verkommen. Wahlweise beides. Übersehend, dass die Macht, die Betriebswirte in dieser Gesellschaft haben, der bestmögliche Beweis gegen eine moralische oder auch nur intellektuelle Überlegenheit des Neoliberalismus/Kapitalismus ist. (Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass sich die Menschheit kollektiv in einem derartigen Ausmaß von einer Bande Halb- und Eingebildeter gängeln lässt.)

Das Mehr ist nicht vorstellbar

Gleichzeitig wird ständig gemeldet, die Zahl der Millionäre steige, die Gesellschaft sei so reich wie nie. Von krisenhaften Dellen vielleicht abgesehen. Wer Geld hat, für den ist ein Mehr nicht nur vorstellbar. Es ist realistisch. Wenn man viel Geld hat, sogar zwingend, es sei denn, man stellt sich über alle Maßen dumm an. Für die 99 Prozent wirkt es beinahe wie ein unverdienter Glücksfall, wenn es für sie nicht noch härter wird. Ein Mehr ist nicht denkbar. Das drückt sich auch in der Politik aus. Die Sozialdemokratie in ganz Europa war einst Trägerin des Gedankens an eine einigermaßen gerechte Verteilung des Wohlstands. Heute funktioniert sie meist auch explizit nach dem Motto: „Wir nehmen euch nicht gar so viel weg wie die anderen.“ Selbst der rote Griff in die Taschen der Allgemeinheit war tief, siehe Hartz IV. Ideologie hat Pragmatismus Platz gemacht, der zum Zynismus geworden ist.

Für Konservative ist der eingeschlagene Weg ohnehin „alternativlos“. Viel besser kann man den eigenen Freunden nicht Geld zuschanzen. Den Grünen gelingt es nicht, zu vermitteln, dass es – vielleicht – ein Mehr für die breite Masse geben könnte. Da wird lieber über Konsumverzicht nachgedacht. Und selbst wenn einer der drei bestimmenden politischen Blöcke Europas so etwas wie Hoffnung aufkommen lässt – viel mehr als das Versprechen, dass es mehr Arbeitsplätze geben soll, ist da nicht. Das verbessert vielleicht die Lage von Menschen ohne bezahlte Arbeit. Wichtig, keine Frage. Perspektiven, dass es für die 99 Prozent ein besseres Leben geben könnte, sehen anders aus.

So fehlt eine politische Alternative. Egal, was man wählt, ändern wird sich wenig bis gar nichts, sind die Menschen überzeugt. Das zeigt sich in den Wahllokalen. Immer weniger Menschen finden ihren Weg dorthin. Am besten können noch Protestbewegungen mobilisieren. Meist sind es Rechtsparteien, die die Ohnmacht mithilfe mehr oder weniger offener rassistischer Ressentiments in die Illusion der subjektiven Macht verkehren können. Selbst bei rein nüchterner Betrachtung löst auch das Problem der Grundangefressenheit nicht (und bei demokratisch vernünftiger Betrachtung muss man sagen: Was für ein Glück). Sonst hätten diese Parteien schon in der ganzen westlichen Welt das Sagen. Ausnahme wäre vielleicht Deutschland.

Zivilrecht schlägt Demokratie

Auch wenn es das unmittelbare Umfeld betrifft, haben die 99 Prozent keine Perspektive, sich wehren zu können. Stuttgart 21 ist ein Ausnahmefall. Zufällig hatte die Bewegung von Anfang an eine kritische Masse erreicht und konnte nur bedingt „abgedreht“ werden. Immer mehr Menschen haben sich in den vergangenen Jahren bereit gezeigt, sich in Bürgerinitiativen zu engagieren. Und häufig weniger erreicht als Vorgängerbewegungen früherer Zeiten. Die hatten in der etablierten Politik sichtbare Gegner, die auch bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Polizisten losprügelten, hatten Demonstranten – meist – die öffentliche Sympathie auf ihrer Seite. Heute überzieht ein Heer von Anwälten jener Konzerne, die an Großprojekten verdienen, die Verantwortlichen von Bürgerinitiativen mit Klagen. Das demokratische Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wird mit Hilfe des Zivilrechts umgangen.

Ein öffentlicher Aufschrei unterbleibt. Zu sehr hat man den 99 Prozent in den vergangenen Jahren eingeimpft, dass Widerstand zwecklos ist (willkommen bei den Borg) und nebenbei schädlich für Wettbewerb und Wirtschaftsstandort. Man darf froh sei, wenn sie einem bei einem Autobahnprojekt nur das Naturschutzgebiet vor der Tür kaputtmachen und die Obstbäume im Garten umholzen und man nicht auch noch für dieses Privileg zum Wirtschaftsaufschwung beitragen zu dürfen bezahlen muss.

Es ist beinahe überraschend, wie lange das die Menschen geschluckt haben. Bei der Dauerverhöhnung einer durchschnittlichen menschlichen Intelligenz, abgesehen von der grundlegendsten menschlichen Würde, hätte schon längst ein Aufschrei durch die westliche Welt gehen müssen. Es blieb bei Einzelaktionen. (Politische) Gruppen, die mehr daraus hätten machen können, haben sich vorher für die nächsten paar Generationen selbst diskreditiert und/oder wurden zur Unkenntlichkeit diffamiert. Zumal es den 99 Prozent im Allgemeinen an der Bildung mangelt, die Zusammenhänge wenigstens einigermaßen zu durchschauen. (Wäre es anders, Bewegungen wie ATTAC hätten keinen solchen Zulauf. Sie moralisieren die Zustände und tragen wenig bei, sie verständlich zu machen.)

Wird Grundangefressenheit zum Aufstand?

Vermutlich waren es zwei Entwicklungen, die diesen möglichen Beginn einer weltweiten Protestbewegung ermöglichten: Der arabische Frühling, der aus einer sehr ähnlichen emotionalen Gemengelage geboren wurde. Das hat nicht nur die inspiriert, die seit längerem für Verbesserungen oder einen grundlegenden Systemwechsel kämpfen. Es hat viele Grundangefressene mit ins Boot geholt, die wahrscheinlich unbewusst bei ihrer Eitelkeit gepackt waren. Wenn schon die (angeblich veränderungsunfähigen) Araber aufstehen, können wir (demokratische) Westler das schon lange.

Und die Dauerkrise der vergangenen Jahre, die mich immer an das herrliche englische Sprichwort denken lässt: This adds insult to injury. Dass die Organisationen, die seit Jahrzehnten die Perspektivenlosigkeit der Masse predigen und nebenbei die Krise verursacht haben, auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden, ist empörend. Irgendwann reicht es. Dann wird aus einer Grundangefressenheit der offene Aufstand. Ob der etwas ändert, ist eine andere Frage. Das wird sich daran entscheiden, ob die Grundangefressenheit in politisches Engagement übertragen werden kann.