Barmherzigkeit und Menschenwürde

ASCHAFFENBURG. (hpd) Der vierte Band der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin ist erschienen. Darin geht es um Selbstbestimmung, Sterbekultur und Spiritualität. In welchem Zusammenhang diese Begriffe mit dem weltlichen Humanismus stehen, darüber sprach der hpd mit Herausgeber und Akademie-Direktor Horst Groschopp.


hpd: Das Buch heißt „Barmherzigkeit und Menschenwürde“. Den Begriff der „Barmherzigkeit“ werden die meisten Leser eher dem Christentum zuordnen als dem weltlichen Humanismus...

Horst Groschopp: Das steht bewusst provozierend im Titel, weil es zur Menschenwürde dazugehört. Als ich im Frühjahr dieses Jahres katholischen Weltanschauungsbeauftragten die neueren Befunde der Humanismusforschung vortrug, erweckte genau diese „Vereinnahmung“ des, wie sie meinten, „eigentlich ihnen gehörenden“ Begriffs, einiges Erstaunen, also die „Barmherzigkeit“, nicht die Rede vom weißen Schimmel des „weltlichen Humanismus“.

Humanismus ist per se eine zunächst heidnische, dann säkulare, über den „Neuhumanismus“ der Aufklärung historisch gewordene Kulturauffassung von „Barmherzigkeit“ und „Menschlichkeit“. Der Beitrag von Hubert Cancik in diesem Sammelband verfolgt philologisch genau die Entstehung des Begriffs. Für den praktischen Humanismus hatten wir im Humanistischen Verband schon immer die Ahnung, als wir uns sozialen Dienstleistungen zuwandten, es ginge um mehr als Bildung, Antikepflege und Menschenrechte.

Nun haben wir wissenschaftliche Belege dafür, dass das Christentum hier etwas übernommen hat, worauf wir unbefangen zurückgreifen können. Unsere Vorfahren, etwa Cicero, waren in diesem Sinne damals weniger praktisch – im Gegensatz zu den frühen Christen, die von den Juden die Einrichtungen der Fürsorge abschauten, was dann den Römischen Kaisern so nützlich erschien, dass sie das Christentum verstaatlichten.

Cancik zeigt nun, dass wir „Erdlinge“ – homo und humanus kommen von humus („Erde“) – über humanitas zur „Humanität“ fanden, die „Bildung und Barmherzigkeit“ bedeutet. Das Wort „Barmherzigkeit“ selbst ist dann die genaue Übersetzung von miseri-cordia.


hpd: Im Zentrum des Bandes steht die Auseinandersetzung mit Alter und Tod, insbesondere mit den Aspekten Leid und Leiden. Wo liegen die grundlegenden Unterschiede eines humanistischen Konzeptes zu den derzeit vorherrschenden Vorstellungen?

Horst Groschopp: Vor einigen Jahren flogen wir in Berlin aus der sehr wichtigen Arbeitsgemeinschaft Hospiz beim Berliner Senat, weil man uns von christlicher Seite vorwarf, wir seien Befürworter des ärztlich begleiteten Suizids. Das traf selbstverständlich zu. Wir hatten das 2003 beschlossen, denn wir setzen – dies schon bei den Patientenverfügungen – auf „Autonomie am Lebensende“.

Doch dass wir diese Haltung mal so einfach eins zu eins in unsere Hospizpraxis umsetzen würden, in Berlin ist der HVD inzwischen ein großer Anbieter, das war Verleumdung. So einfach ist die Sache mit der „Umsetzung“ dieser Position nämlich nicht. So scheinradikal kann auch im säkularen Spektrum nur reden, wer selbst nicht Hospize betreibt, nicht selbst mit Sterbenden täglichen Kontakt hat.

Aber dass wir zu unserem Wort stehen wollen, dass wir darüber nachdenken, wie das zu machen ist – das war ein Anlass zu Tagungen der Humanistischen Akademie, die der Band im Wesentlichen dokumentiert. Der lange Beitrag von Gita Neumann fasst bisherige Überlegungen zusammen und macht zugleich einige neue Fässer auf – auch im HVD selbst. Deshalb habe ich als Herausgeber hier nicht das Streichwerkzeug eingesetzt.


hpd: Gibt es Altersbilder oder Altersrollen, die explizit humanistisch geprägt sind? Oder, um mit Joachim Kahl zu sprechen: Worin besteht die humanistische Lebenskunst im Alter?

Horst Groschopp: Das werden die Menschen selbst herausfinden, das leben sie zum großen Teil schon, wenn man sie lässt.

Humanistisch ist zunächst, den Menschen nicht noch mehr vorzuschreiben, als es Institutionen (und dazu gehören auch Moral- und Rechtsgebäude) es jetzt schon tun. Humanitär ist es, ihnen zu helfen, wenn sie es wollen, aber auch, wenn sie nicht mehr wollen können, wegen Demenz, körperlichem Verfall... – dann gilt erst recht: Milde und Barmherzigkeit.

Joachim Kahl hat einmal Theologie studiert und ist dann ein für den Humanismus wichtiger Philosoph geworden, der auch sprachlich beeindruckt. Er sagt an keiner Stelle, was humanistische Lebenskunst zu sein hat. Er trägt uns aber altersgereifte Gedanken vor, wie er das sieht. Selbstredend gibt es auch andere humanistische Vorschläge, aber wichtig ist doch, dass wir uns im Humanismus nicht nur am Papst abarbeiten, sondern Leute, denen das Christentum und jede Religion ziemlich egal sind, nicht alleine lassen mit ihren Bedürfnissen, Gefühlen, Ängsten, Hoffnungen, Sorgen... Davon wird abhängen, ob der Humanismus eine Zukunft hat. Die Frage steht, wenn man so will, wie im Alten Rom – noch so spannende Humanismustheorie ersetzt noch keinen Pfarrer.

hpd: Gehört dazu auch ein Tod zum „richtigen Zeitpunkt“?

Horst Groschopp: Die „Lehre vom richtigen Zeitpunkt“ gehört in die Esoterik. Dennoch ist hier etwas Wichtiges gefragt. Zunächst: der Tod kommt immer zur Unzeit und jedes beendete Leben ist ein Verlust, auch wenn der Betroffene davon keine Folgen hat – er oder sie ist ja tot und das ist das Ende der Gefühle, der Gedanken, des Körpers. Aber wir Menschen wissen, dass wir sterben und denken mal mehr oder mal weniger darüber nach, wann es uns denn passen täte. Aus dieser Geschichte – X trifft den Tod – ist große Kunst geworden. Darum dreht sich der eine große Gedankenkreis, wann könnte es mich, ihn, sie „erwischen“.

Ein anderer Gedankenkreis nimmt das mit dem „richtigen Zeitpunkt“ ernst. Und wenn wir die Idee der Selbstbestimmung konsequent zum Ende hin denken, dann ergibt sich daraus eine ebenso humane wie humanistische Aufgabe, vielleicht sogar Pflicht, nämlich: Wann und wie darf ich, muss ich jemandem helfen, der oder die den festen Wunsch hat, die begründete Entscheidung einer Person, die dann die wohl abgewogene Absicht ausführen möchte und zu sich und ihrer Umwelt sagt: Dies ist jetzt mein „richtiger Zeitpunkt“, helft mir zu gehen.

Da sich – deshalb haben wir das Buch ja gemacht – kulturhistorisch gesehen eine neue Lebensphase ausbildet, die Zeit zwischen dem länger als früher dauernden rüstigen Rentnerdasein und dem Ende eines möglichen Siechtums, wo keine Reparaturarbeiten am Körper mehr helfen. Diese Phase, die zuerst in modernen „westlichen“ Gesellschaften sich stellt, in denen ein „Humanismus ohne Gott“ sich breit macht, gestalten wir als Menschen derzeit selbst. Die Leute wollen, dass ihnen Einrichtungen des Humanismus dabei helfen, Wege zu finden, weil das derzeitige Christentum sich noch zu oft verschließt.

Auch das wird sich ändern. Christentum war immer anpassungsfähig. Aber zunächst ergibt sich hier eine Gestaltungschance für den organisierten Humanismus, der sich aber zu sehr an einem neuen Kirchenkampf abarbeitet anstatt sich den Menschen barmherzig zuzuwenden.