Der Name des Winkels und Zirkels

PARIS. (hpd) Am 13. Januar entschied das Berufungsgericht von Paris, aufgrund der Klage einer Gruppe dissidenter Brüder, dass die Ämter des Großmeisters und des Präsidenten einer Großloge der Freimauerer identisch sind. Was für Außenstehende zunächst irrelevant erscheint, wirft ein Schlaglicht auf die Freimaurerei in Frankreich.

Nach dem Urteil ist François Stifani, der als Präsident der GLNF (Grande Loge nationale française - Nationale Großloge Frankreichs) bereits 2010 abgedankt hatte, mit allen daraus folgenden Konsequenzen auch nicht mehr Großmeister der Großloge. Das bildet das vorläufige Ende eines Umberto Eco würdigen brüderlichen Politkrimis mit zugleich allen Elementen eines Lehrstückes für die Probleme weltanschaulicher Organisationen und für das Spannungsfeld zwischen Weltanschauung und Staat.

Spiritualität oder Pekuniarität?

Fast alle weltanschaulichen Strömungen dieser Welt begannen als geistige Vorstellungen über gesellschaftliche Zusammenhänge, die dann zu hochgelehrten Geflechten spiritueller bzw. geweihter Überlegungen ausuferten. Offensichtlich kann aber das sich entwickelnde, geheiligte Spirituelle nicht ohne eine nackte materielle Grundlage existieren. Sie zwingt das Spirituelle, sich mit einer wachsenden sachlichen Infrastruktur zu versehen. Meistens fängt es mit einem Schutzhäuschen für die spirituell-göttliche Idee an, dann muss das Häuschen gepflegt werden und braucht man Tempeldiener, die müssen aber honoriert werden und verlangen immer neue Häuschen. Deshalb muss die Zahl der opfernden Tempelbesucher mit allen möglichen Mitteln gesteigert werden. Das alles wird ständig komplizierter und verlangt eine strenge Hierarchie mit einer entsprechenden Leistungs-, Vergütungs- und Bestrafungsskala.

Als System ist das alles jedoch nur noch regierbar, wenn es sich lohnt, der Spiritualität zu dienen. Das wird zunächst erfolgreich durch die weltweite Implementierung der pekuniären Erfolgsträger der Marktwirtschaft garantiert. Durch sie werden das Spirituelle und seine sachlichen Träger zu immanenten Bestandteilen des sogenannten Fetischcharakters der Waren-Geldbewegung. Ihre sachliche Infrastruktur daher folgerichtig zu Quelle der kollektiven und privaten Geldanhäufung. Und hier kommt dann das Sachliche meistens in ethischem Konflikt mit dem Spirituelle. Bis hin zu Betrug und Totschlag!

Mit dem Übergang zum Kapitalismus steigert sich der Warenfetischismus der Marktwirtschaft: Die Scheinwelt der Waren wird nun zum Moment der verkehrenden Scheinwelt der kapitalistischen Kreditwirtschaft. Der für die störungsfreie Bewegung des Kapitals notwendige Schein der irdischen Unendlichkeit der Kapitalverwertung gibt den Hang nach sachlich organisierter Spiritualität nun ganz neue Bewegungsräume. Er ermöglicht das neue Bürgertum seine an sich nicht religiösen, sondern eher aufklärerischen ideellen Beweggründe mit anachronistischen Denkweisen, Formritualen und vulgären stofflichen Fundamenten zu bemänteln. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entsteht dann auch eine Reihe bürgerlicher Organisationsformen der spirituellen Weltanschauungen, wie z. B. die großen Freimauererlogen.

Diese neuartigen weltanschaulichen Organisationen werden zu ideologischen Bestandteilen des scheinbar ewigen Kreislaufes des Geldkapitals und ihre Infrastruktur lässt sich daher auf vollendeter Weise pekuniär versilbern. Das organisierte Spirituelle wird besonders dann gut zu lohnendem Kapitalobjekt, wenn es zur Einbindung seiner Ritualen in die wirtschaftliche und/oder politische Macht kommt. Das zieht dann auch zwielichtige Personen an, weil man mit der materiellen Infrastruktur der spirituellen Aufgaben enorm viel Geld verdienen kann. Kriminelle Geschäfte gehören daher ab dann konsequenterweise immer dazu. Diese Vermögensprivilegien gilt es natürlich, für Familie oder Clique, über Generationen zu garantieren. Unweigerlich kommt es so zu Klüngelbildung und Korruption sowie in deren Folge zu Putschen, Abspaltungen, juristische Tricks, Verschwörungen, Diebstahl und Mord. Alles sehr schlecht für das Geschäft und so wird letztendlich meistens das Geld knapp. An diesem Endpunkt der Erfolgsstory der Pekuniarität stellt sich dann erneut die Frage nach den Prioritäten: weiter Pekuniarität oder wieder mehr Spiritualität? Danach fängt der Kreislauf meistens mit mehr Spiritualität und mit anderen Personen aber mit derselben Perspektive wieder an. Das Alles scheint die gesetzmäßige Genesis und Historie der Religionen aber auch vieler pseudoreligiösen und säkulären Weltanschauungen zu sein. Und wie die folgende heitere Geschichte beweist, sogar für solche altehrwürdigen Institutionen wie die der Freimaurerei.

Der 2009er Skandal der GLNF

1913 gegründet, ist die Nationale Großloge Frankreichs (GLNF) bis jetzt die wichtigste Großloge in der Gruppe der eher konservativen sogenannten regulären Großlogen Frankreichs (Siehe dazu später eine kurze Erklärung). Bereits Jean-Charles Foellner, der Vorgänger des heute verklagten Großmeisters der GLNF, François Stifani, herrschte über ein bedeutsames infrastrukturelles Vermögen in Form von Stiftungen, caritativen und sozialen Einrichtungen und vor allem Immobilien der Loge. Diese Machtfülle galt es zu sichern und deshalb machte er den fiskalischen Verwalter seiner Firma (die Foellner Holding), Stifani, auf autoritärer Weise zu seinem Nachfolger. Der wurde als Großmeister für die spirituelle Seite des Geschäfts zuständig, aber konnte sich als Präsident der GLNF auch um die mehr lukrative Verwaltung des Vermögens kümmern (wobei Foellner hier scheinbar noch immer mitmischt).

Lukrativ, aber von vornherein auch fragwürdig. So kämpft z.B. eine der Stiftungen seit 2006 gegen den Vorwurf des betrügerischen Erschleichens eines Millionenerbes und es sind deshalb bereits einige GLNF-Brüder verurteilt worden. Bei anderen Stiftungen musste bereits der Gerichtsvollzieher eingreifen. Insgesamt ist die Vermögenstransparenz wie bei fast allen spirituellen Vereinen natürlich nicht sehr groß und tendiert zur Unterschätzung. Das Vermögen der GLNF, welche etwa 43.000 Brüder vereint, wird aber auf etwa 50 Millionen Euro geschätzt, was ja doch interessante Verwaltungs- oder Beratungshonorare ermöglicht … Das bildet dann auch die wahre Grundlage für den Politkrimi, der bereits 2009 startete und der, als ein im Freimaurermilieu noch nie gekannter Skandal, großes mediales Interesse erlangte.

Am 4. Dezember 2009 kam der „Souveräne Große Ausschuss“ der GLNF (ein vorrangig durch den Großmeister benannter Rat im Sinne eines „Zentralkomitees“) im großen Tempel, die eines multinationalen Unternehmens würdigen Pariser Zentrale der Loge, zusammen. Unerwartet versuchte ein Sprecher im Namen von dreißig anwesenden Brüdern, eine lange Liste von kritischen Fragen zu stellen. Es ging um den für die normalen Brüder undurchsichtigen Einsatz der 17 Millionen Euro jährlichen Beiträge sowie um die Beziehungen der Loge zur Staatsmacht. "Für wen halten Sie sich?“, unterbrach der Großmeister ihn barsch, beschuldigte ihn eines Komplotts und befahl seinen Hohen Offizieren, die Namen der Kritiker zu notieren. Außerdem wurde ihnen sofort das Recht, die Schürze tragen zu dürfen, aberkannt (die Schürze symbolisiert die Werte der Freimaurerei und berechtigt den Träger zur Mitarbeit). Fast die Strafe für Majestätsbeleidigung!

Am nächsten Tag präsidierte Stifani dann, als ob nichts passiert war, die große jährliche Versammlung der Loge mit etwa 2500 Teilnehmern und 58 ausländischen Delegationen. Zugleich lief hinter den Schirmen das Ausschlussverfahren der 24 Meuterer. Nach dem darauffolgenden Protest vieler Mitglieder der jeweiligen lokalen Logen der Meuterer schloss Stifani später sogar ganze Logen aus.

Bruderkampf ohne Rücksicht auf die spirituellen Werte

Beispielbild
Francois Stifani
Die Reaktion war verheerend, da sich - unter Einsatz der neuen Informationskanäle im Internet - die kritischen Brüder massiv gegen Stifani organisierten. Dagegen wieder reagierte Stifani mit der beschleunigten Aufnahme von neuen, unbefleckten Brüdern: 6.000 neue Freimauerer pro Jahr war sein Ziel. Aber, und hier schließt sich der Kreis: Mehr Brüder verlangen auch mehr Logen, d.h. mehr Tempel bzw. Immobilien. Das alles kostet viel Geld. Das verlangt wieder bessere Missionierung, verlangt mehr öffentliche Kommunikation und bessere Beziehungen. So schaffte die GLNF sich z.B. für mehr als 2,5 Millionen Euro, auf der feinen Avenue Wagram, nur für den VIP-Empfang, ein Luxusappartment an. Auch wurde eine Reihe von statutenmäßig nicht vorgesehenen Beratungskreisen gebildet (die auch sonst in den meisten Organisationen berüchtigten Küchenkabinette …), die mithilfe hoher Regierungsfunktionäre den Zugang zur Regierung Sarkozy ebnen sollten. Es wurde dazu sogar eine geheime Lobby-Struktur gegründet: die G 20. Zentrale Zielsetzung der Gruppe ist es, die GLNF auch mithilfe der Sarkozyregierung zu der führenden Großloge der politischen Rechten zu machen. Das schockierte die Kritiker erneut gewaltig, weil - laut Statut der GLNF - normalen Brüdern jede politische oder religiöse Diskussion verboten ist.

Das alles diente wohl dem Ziel, mit neuen Stiftungen und Vereinen zu expandieren (so z.B. der Versuch einer Art Loge für muslimische Immigranten zu gründen). Sicherlich auch um die schweren spirituellen Aufgaben des Großmeisters Stifani durch größere Annehmlichkeiten für den Präsidenten Stifani und seiner Clique zu versüßen. Noch schockierender für die bewährten Brüder war es, dass Stifani dafür die bisher tabuisierten „Geheimnisse“ seiner Loge vermarktete. In Mai 2009 erlaubte er z.B. zum ersten Mal die TV-Ausstrahlung einer Sitzung der großen Loge, inklusive der Vorführung des geheimen Zeichens (Die Hand auf der Kehle: Schwur sich eher die Kehle durchtrennen zu lassen, als die Geheimnisse der Loge zu verraten). Gepaart mit einem zunehmend autokratischen Führungsstil führte das zu einem ständigen Anwachsen des Rebellenlagers und zu der radikalen Forderung der Absetzung Stifanis als Großmeister und Präsident.

Das aber war sehr schwierig, weil Stifani schnell auch die Mitglieder der verschiedenen Entscheidungsgremien durch eigene Anhänger ersetzt hatte. So nahm die Zahl der durch Stifani ernannten Mitglieder des „Souveränen Großen Ausschusses“ in einem Jahr von 403 auf 482 zu, indem er 115 Brüder abdanken ließ und 194 neue Brüder ernannte. Und es ist dieser Ausschuss, der die Kandidaten für das Amt des Großmeisters wählt! Als dann am 16. Oktober 2010 die Generalversammlung zur Billigung der Bilanzberichte stattfand, wurde die Manipulation offensichtlich: keine Geheimwahl, unstatthafte Ausschlüsse, fragwürdiges Auszahl- und Quotenverfahren, etc. Trotzdem gewann die Stifani-Fraktion die Wahl nur mit 51 %, was die Opposition veranlasste, eine Klage wegen Ungültigkeit der Generalversammlung vor Gericht einzureichen. Dies ist ein unerhörter Tabubruch der Freimaurersitten, genauso wie die Reaktion der GLNF, welche die FMR (die Gruppierung der Meuterer) prompt auf Schadenersatz in Höhe von 3,5 Millionen verklagte. Angeblich wegen „illoyaler Desorganisationsversuche“. Die Klage der GLNF wurde abgewiesen, während die der meuterenden FMR („die reguläre Freimauerer“) von Dezember 2010 empfangen wurde, sodass die Generalversammlung von Oktober 2010 vorerst ungültig erklärt wurde und eine neue zu organisieren wäre.

In Januar 2011 dankte dann Stifani zusammen mit dem ganzen Verwaltungsrat als Präsident unerwartet ab und verlangte die Einsetzung eines Bevollmächtigten für die laufenden Geschäfte. Erneut freimaurerisch ein sittlicher Tabubruch aber taktisch ein kluger Zug. Die Entscheidung des Gerichtes konnte zwar die organisatorisch juristische Seite der Loge (Verwaltungsrat und Präsident) betreffen, aber nicht ihre spirituelle Flanke (der Große Ausschuss und der Großmeister). Stifani vertritt dabei die These, dass die Abdankung als Präsident nicht die Funktion des Großmeisters berührt, weil das Spirituelle außerhalb der republikanischen Gerichtsbarkeit fällt. Er ist also noch immer der Großmeister. Wichtig ist das deshalb, weil nach den internen Regeln der Loge es der Großmeister und der durch ihn eingesetzte Große Ausschuss sind, welche die personelle Organisationsstruktur der gesamten Großloge bestimmen. Dagegen klagten die Meuterer natürlich erneut. Die Entscheidung über die Gesamtheit des Prozederes musste aber bis Januar 2012 warten.

Soll bald Blut fließen?

In der Zwischenzeit kam es natürlich zu einer Verschärfung des Kampfes der Cliquen. Um nur einige der Auseinandersetzungen zu nennen:

  • Zwei wichtige Logen (l’Union des Loges Régulières Françaises und Maison des maçons réguliers du Rite français) vereinen sich zu einer formalen oppositionellen Struktur innerhalb der GLNF. Zusammen repräsentieren sie 600 von den 1650 Loges der GLNF. In der folgenden Zeit schließen sich ihnen viele andere Logen an.
  • Verschiedene Tempel werden durch die unterschiedlichen Fraktionen besetzt.
  • Brüder, die angeblich ihre Beiträge nicht bezahlt haben, werden von Stifani ausgeschlossen.
  • Während einer feierlichen Tagung der Loge in Dezember 2011 kommt es zu einer Straßendemonstration der Meuterer. 2/3 der Tagungsteilnehmer protestieren mit sehr unflätigen Wörtern und Pfiffen gegen Stifani, sodass er kaum reden kann. Gewalttätige Auseinandersetzungen müssen dabei durch die Gendarmerie verhindert werden und die wenigen ausländischen Delegationen reisten vorfristig ab.
  • Die eingesetzte bevollmächtigte Rechtsanwältin Me. Monique Legrand wird durch die FMR - Brüder als Agentin von Stifani bezeichnet. Es werden ihr illegale finanzielle Geschäfte und insbesondere übertriebene hohe Honorare (166 000 € monatlich) sowie die Untätigkeit bei der Einberufung einer neuen Vollversammlung vorgeworfen. Die FMR verlangt deshalb ihre Entlassung.
  • Me. Legrand zahlt dann in Januar 1,4 Million Euro aus unbekannter Quelle an die GNLF und bekommt die gerichtliche Verlängerung ihres Mandates.
  • Der Generalsekretär des Rates der Weisen der GLNF wirft Stifani sektiererische Abweichungen zugunsten des Geschäftemachens und auf Kosten der Spiritualität vor.

Noch kommt es nicht wie bei Eco zu blutigem Mord, aber die ersten Morddrohungen an die Adresse von Stifani und sogar an seine Kinder existieren bereits und lassen das Schlimmste erwarten. Sein vorläufiges Ende findet der Krimi aber zunächst am 13. Januar d. J., an dem das Gericht endlich entscheidet, dass die Kündigung als Präsident auch die Kündigung als Großmeister bedeutet und die GLNF ihre Vollversammlung wiederholen muss. Leider spricht sich das Gericht nicht aus über die juristische Bedeutung der Versammlungen von Oktober 2010 und Dezember 2009 sowie über die Zusammensetzung der Wahlgremien. Weitere Klagen und Terminverschiebungen sind somit sicher. Umso mehr, da Stifani auf Bitte seines Verwaltungsrates am 17. Januar feierlich die Funktion des Präsidenten wieder aufgenommen hat und das natürlich durch die Opposition nicht anerkannt wird. Kommt es doch noch zu Mord im Namen des Winkels und Zirkels?

Der internationale Kampf der Großlogen

Mord und Totschlag kommen in den neuesten Politkrimis besonders dann vor, wenn in der Affäre internationale Akteure bzw. Agenten auftreten. Auch in unserem Fall gibt es solche Global Player. Nur Kenner der internationalen Freimaurerszene aber können dies durchschauen. Daher vorerst der Versuch eines sehr gestrafften Ausflugs in die sehr komplexe Geschichte der europäischen Freimaurerei.

Bereits Anfang bzw. Mitte des 18. Jahrhunderts existierten in Europa eine große Reihe Logen, die aber keine gemeinsamen Riten aufwiesen. Erst mit der Gründung der ersten sogenannten Großlogen (1717 die Großloge von England und 1736 die Großloge von Schottland) in Großbritannien gelang es dort, die Logen unter einheitlichen Riten zu vereinen. Ausgehend von England verbreiteten sich die Logen auch in Frankreich und nach verschiedenen Versuchen gründete sich auch hier 1773 eine Großloge: der „Grand Orient de France“. In den Händen des neuen liberalen Bürgertums spielte sie, vor allem in den Reihen der Girondisten (Danton z. B.), eine große Rolle während der Revolution von 1789. Die französische Freimaurerei ist daher anders als ihre englische Partnerin vom Anfang an stark durch die Werte der Französischen Revolution beeinflusst. Das führte dazu, dass die Prinzipien der humanistischen Aufklärung, der sozialen Gerechtigkeit, der laizistischen Republik für sie bestimmend waren. Über die Wechselfälle des napoleonischen Kaiserreiches und der reaktionären Restauration hinaus, konnte die französische Freimauerei sich nachher zwar retten, aber doch mehr oder weniger nur als einen politisch irrelevanten Diskussionsverein. Aus dieser Periode bleibt aber, getragen durch die uralte Rivalität zwischen Frankreich und England, die verschärfte Abneigung gegen alles was von der anderen Seite des Kanals kommt.

Erst mit der III. Republik, am Ende des 19. Jahrhunderts, werden der „Grand Orient“ und seine Logen erneut zu einer gesellschaftsgestaltenden, ja politischen Kraft. Sie besinnt sich wieder auf die Basisprinzipien der Aufklärung und der Französischen Revolution und wirft den „englischen“ Ballast (die sogenannten „Landmarks“ der Großloge von London) über Bord. Stand nach den englischen Vorgaben noch in den alten Satzungen des „Grand Orients“, dass die Freimaurerei auf die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele basiert, wird dieser Passus 1877 gestrichen und der Agnostizismus von Auguste Comte als Philosophie und der Humanismus als praktischer Leitfaden hervorgehoben. Diese Entscheidung ist historisch, weil sie in Abhängigkeit des jeweiligen weltanschaulichen Standpunktes, die französische Freimaurerei entweder an die Spitze oder außerhalb der weltweiten Freimaurerei stellt. Fakt ist, dass diese Strömung der Freimaurerei heute eigentlich nur in Frankreich, in Belgien, in Luxemburg und vielleicht in Italien noch eine relevante Kraft im Kampf gegen die klerikale Vorherrschaft darstellt.

Sie konnte auch nicht verhindern, dass in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg der britische Einfluss in Frankreich wieder zunimmt. Um diese Zeit werden in Frankreich erneut Logen auf Basis der bibel- und gottesgläubigen Prinzipien der alten Freimaurerei gegründet. Sie gehen vor allem der abstrakten christlichen Spiritualität nach und verbieten gesellschaftspolitische Stellungnahmen. Man nennt sie reguläre Logen und sie vertreten konservativ-christliche Werte. Solche Logen sind u. a. „La Grande Loge de France“ (ein Überbleibsel einer 1894 gegründeten Loge auf Basis der uralten schottischen Riten), die „Loge Nationale Française“ (1913), die „Grande Loge Traditionelle et Symbolique Opéra“ (1985 durch Spaltung aus der Loge Nationale gegründet, weil der englische Einfluss dort zu stark war …), der „Grand Prieuré des Gaules“ (1995 als explizit christlicher Freimaurerverbund gegründet und den Rosenkreuzern nahestehend) und dann natürlich unsere Skandalnudel, die „Grande Loge National Française“ als Einzige durch die Londoner Großlogenmutter anerkannte Großloge.

Das Debakel der christlichen Logen

Von der Bedeutung her war und ist der „Grand Orient“ aber die wichtigste Großloge Frankreichs, sie organisiert etwa 50.000 Freimauerer in 1.150 Logen. Sie ist daher auch die größte Dachloge in der Gruppe der progressiven Logen, die im Unterschied zu den regulären Logen auch weibliche und gemischte Logen umfasst und insgesamt wichtiger ist als die Gruppe der Regulären. Das ärgert natürlich die regulären Logen in und außerhalb Frankreichs, sodass die Versuche der GLNF, um stärker als der „Grand Orient“ zu werden, längere Zeit auf internationale Unterstützung rechnen konnten.

Dass nun aber gerade die einzige konservative, bibeltreue und gottesverbundene Großloge Frankreichs in diesem Kampf skandalös gegen alle Werte der Großmutter in London verstößt, bringt die christlichen Regulären natürlich in Schwierigkeiten. Ein Treffen der Großmeister der regulären Großlogen Europas unterstrich daher bereits Mitte 2011, dass die GNLF die Reputation der regulären Freimaurerei in ganz Europa infrage stellt, und rief Stifani zum Rücktritt auf. Das Stifani außerdem die politische Karte Sarkozys spielt und damit auch die antienglischen Positionen der französischen Regierung unterstützt, ist bei der alten Tante in London sicherlich auch nicht gut angekommen. Kurzum, es stellt sich die Frage, ob die Meuterer der FMR nicht von den europäischen regulären Logen geschickt sind, um zu retten, was noch zu retten ist. Dabei erhöhen sie den Druck gewaltig. Nachdem bereits etwa 30 reguläre Logen weltweit ihre Verbindungen mit der GLNF abgebrochen haben, informierten in Oktober 2011 die wichtigen regulären Nachbarlogen (Deutschland, Belgien, Österreich, die Schweiz und Luxemburg) nach einem Treffen in Berlin, dass sie beabsichtigen ihre Anerkennung der GLNF als die reguläre Großloge Frankreichs zurückzuziehen.

Ob aber diese Schritte was ändern, ist fraglich. Die Frage ist doch, ob die Krise der GLNF ein Betriebsunfall oder ein Systemfehler ist. Auf dem Hintergrund Tausender ähnlicher Fälle im kirchlichen, säkulären und sozialkulturellen Bereich zeigt alles auf systemische Gründe. Offensichtlich ist die wechselwirkende Verbindung von Spirituellem und Pekuniärem eine Gesetzmäßigkeit. Um nun zu verhindern, dass das Pekuniäre sich vom Spirituellen absolut verselbstständigt bzw. sogar ins Kriminelle abgleitet, ist bei der Organisation der sachlichen Infrastruktur ein Höchstmaß an Transparenz und demokratische Mitbestimmung erforderlich. Dies Erfordernis kann ein konservativer Freimaurerverein kaum befriedigen, weil er den Widerspruch zwischen dem antagonistischen Wesen seiner Wirkungsbedingungen nicht lösen kann: Das Festhalten am abstrakten Gottesglauben implementiert die bekannte hierarchische Diktatur des Großmeisters mit allen vorher beschriebenen Konsequenzen. Und das gilt in geringerem Maße auch für die sogenannten progressiven Logen, da z. B. auch dort bei vielen noch immer keine Frauen zugelassen sind bzw. diese gezwungen sind, eigene Logen zu gründen. Die Todesspirale der regulären Freimaurerei scheint somit unumkehrbar zu sein.

Die zukünftige Entwicklung der progressiven Freimaurerei und daher auch vieler ähnlicher weltanschaulicher Organisationen wird wahrscheinlich durch den Grad ihrer noch immer zu erarbeitenden Offenheit für emanzipatorische, gesamtgesellschaftliche Prozesse bestimmt werden.

Für die Interessenvertretung der Konfessionslosen Deutschlands ist die eher pessimistische Prognose der Freimaurerei allerdings irrelevant, weil diese hier, insbesondere nach dem Zweiten Weltkkrieg, so wie so mehrheitlich in den Händen ausgesprochener christlicher Vereinen ohne gesellschaftspolitischen Output liegt. In Frankreich und Belgien wäre eine Stärkung der bestehenden Freimauerei zu begrüßen, weil sie hier als progressive Strömung noch immer eine beachtliche Rolle im Streit für die Trennung von Kirche und Staat spielt.

Rudy Mondelaers

 

Weitergehende Informationen:

Internationale Website der fortschrittlichen Grand Orient Logen

Website der französischen Freimauererei

Blog von Freimaurerexperte François Koch in der Zeitschrift L’Express

Website der FMR Meuterer