Interview

Rudolph Penzig: Atheist, Freimaurer, Humanist

Ein neues Buch von Horst Groschopp wird vom Alibri Verlag gerade ausgeliefert. Es handelt sich dabei um eine Biographie von Rudolph Penzig, der vor hundert Jahren eine bedeutende Rolle im Bereich der Freidenkerei gespielt hat. Der hpd sprach mit dem Autor.

hpd: Herr Groschopp, warum eine Biographie über jemand, den heute fast niemand kennt?

Horst Groschopp: Eben deshalb. Angesichts der Rolle, die Dr. Rudolph Penzig (1855–1931) historisch gespielt hat, ist es schon erstaunlich, dass bisher keine wissenschaftliche Biographie über ihn vorliegt, es nahezu kein Bildmaterial gibt und auch ein Nachlass bislang nicht aufgefunden werden konnte. Es ist keine Übertreibung: Penzig war ab Mitte der 1890er bis Mitte der 1920er Jahre eine Zentralfigur der deutschen Freidenkerei. Man stelle sich das vor: Er hat bei allem seine Ideen eingebracht und hatte wortwörtlich überall seine Hände im Spiel.

Trifft die fehlende Biographie nicht auf viele Freidenker zu?

Gewiss, aber hier verwundert es dann doch. Ohne ihn hätte es kein "Weimarer Kartell" gegeben, den "Zusammenschluss der freien Geister" vor dem ersten Weltkrieg. Penzig war 1913 in elf Vereinen in führender Position. Ohne ihn gäbe es weder dieses Bündnis noch konkrete Vorstellungen über "weltliche Schulen" oder die Fächer "Ethik" und "Lebenskunde". Er hat umfänglich publiziert, in den ersten vierzig Jahren ziemlich turbulent gelebt. Auf dem Höhepunkt seiner pädagogischen Karriere leitete er eine deutsch-baltische Schule. Nachdem er von der Russifizierungspolitik Anfang der 1890er von heute auf morgen vertrieben wurde, kam er auf dem Umweg über die Schweiz mit seiner Familie schließlich nach Berlin und dort in die ethische Kulturbewegung, an die Seite von Georg von Gizycki, Lily Braun, Wilhelm und Friedrich Wilhelm Foerster, Ferdinand Tönnies, Friedrich Jodl und vielen anderen.

Was waren die Gründe für diese Forschungsabstinenz?

Das öffentliche Interesse an solchen Apostaten – eine Selbstbezeichnung des Dissidenten Penzig (formell ab 1878) – ist allgemein gering. Die Freidenkerei ist insgesamt weitgehend ein Desiderat, auch die großen Verbände sind, was die 1920er Jahre betrifft, voller weißer Flecken. Wer hätte hier ein Aufklärungsinteresse oder gar ein Forschungspotential? Die Freidenkerbewegung war stark mit der Arbeiterbewegung verbunden und in der Weimarer Zeit entsprechend gespalten. Heute gibt es keine Arbeiterbewegung mehr und die Nachfolgeparteien haben sich von dieser eigenen freidenkerischen Tradition abgenabelt.

Gibt es nicht auch Ursachen, die in der Person selbst liegen?

Sein Typ ist bedauerlichweise aus der Mode gekommen. Sein unprätentiöses, betont gelehrtenhaftes Auftreten, auch im Schrifttum, gab keinen Anlass für irgendwelche Revierkämpfe oder gar Schlagzeilen, auch nicht in der Freidenkerei selbst. Penzig fühlte sich zuständig für die Sensationen des alltäglichen Organisationslebens und des reibungslosen Fortgangs scharfer, aber nie persönlich gemeinter Debatten. Er verärgerte sein Umfeld nicht, jedenfalls gibt die Literatur dazu nichts her. Widerstände ertrug er mit Humor. Das ist nun, schauen wir in die gegenwärtige "säkulare Szene", ganz von gestern.

Warum sollte man/frau sich heute mit Penzig beschäftigen?

Sein Werk als Autor, Herausgeber und Redakteur ist umfänglich. Penzig war Theologe, wovon er sich beruflich verabschiedete, aber immer von dem Gelernten zehrte. Er war bibelfest. Als Pädagoge prägte er vor allem das, was heute "Wertevermittlung" genannt wird. Als Philosoph, der über Schopenhauer promoviert hatte, entdeckte er den Humanismus. Er führte und propagierte ein Leben "Ohne Kirche", wie seine Grundsatzschrift von 1907 hieß. Ganz aktuell der Untertitel: "Eine Lebensführung auf eigenem Wege". Er dachte über Rituale im Lebenslauf nach, etwas, das viele Freidenker noch heute verachten.

Penzig war demzufolge ein vielfältiger Mensch und eine Art Pfarrer für Konfessionsfreie?

Wesentliche Ideen der Weltlichkeit des Schulwesens und des Ethikunterrichts gingen von ihm aus. 1905 bis 1920 wirkte Penzig als ehrenamtlicher Kommunalpolitiker in Berlin-Charlottenburg, danach ist er Stadtältester in Groß-Berlin. Von 1893 bis zu seinem Tod beförderte er die ethische Kulturbewegung, kam schließlich an deren Spitze. Diese Bewegung stand vor allem für Toleranz und praktizierte eine enge Verbindung mit Juden, kämpfte gegen Antisemitismus. Es waren in Sonderheit jüdische junge Frauen, die einen praktischen Humanismus begannen, Sozialarbeit, aber auch Lesehallen.

Penzig war seit 1899 Vorsitzender der 1887 gegründeten "Humanistischen Gemeinde Berlin", der ersten deutschen Organisation mit einem dezidiert humanistischen Weltanschauungsprogramm. Das wären an sich schon einige Gründe, sich ihm zu widmen. Und was den "weltlichen Pfarrer" betrifft, so dachte er hier an einen "ethisch-ästhetischen Prediger", konnte aber wie alle seine Zeitgenossen nicht vorausschauen, dass einmal eine Massenkultur und Kulturarbeiter in Einrichtungen und Medien dieses Geschäft übernehmen würden.

Diejenigen, die Ethik in der Schule unterrichten, die müssten doch etwas über Penzig gelernt haben …

Eher nein. Das wirft die Frage auf, wie "weltlich" ist der Ethikunterricht heute eigentlich? Aber noch verwunderlicher ist die Abstinenz bei denen, die sich in der Tradition von Lebenskunde sehen. Seit meinem Buch "Dissidenten" von 1997 ist Penzigs Rolle bekannt. Er hat sogar mit seiner Schrift "Religionskunde und Lebenskunde an der weltlichen Schule" ein Lehrbuch verfasst. Es wirft nach meiner Ansicht ein schlechtes Licht auf alle real existierende Lebenskunde, dass dies nicht nur unbekannt und damit unkritisiert geblieben ist, sondern dass auch der Verfasser selbst, wenn sein Name überhaupt bekannt sein mag, mit einem überheblichen Lächeln abgetan wird, nach dem Motto "Ach, Pelzig unterhält sich." Ohne ihn hätten allerdings die Damen und Herren Lebenskundler nicht diesen Job und nicht den Namen für ihr Fach.

Und was hat das alles mit Freimaurern zu tun?

1912 erfolgt Penzigs Beitritt zum 1905 gegründeten "Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne" (FZAS), einer weltlich-alternativen Loge. 1914 wird er "Meister vom Stuhl" in der Berliner "Loge zur Morgenröte", 1919 wird er Großmeister, veröffentlicht auch hier ein Lehrbuch. 1926 nicht wiedergewählt wird er Ehrengroßmeister.

Zu dieser Freimaurerei nur zwei Anmerkungen: Erstens ist der Humanismus in der Freimaurerei eine der noch weitgehend unerforschten Quellen der ethischen Kulturbewegung. Der deutsch-schweizer Freidenker, Bankier und Autor Gustav Maier veröffentlichte 1888 ein Buch mit dem Titel "Weltliche Freimaurerei. Ein Beitrag zur humanistischen Bewegung innerhalb des deutschen Maurerthums".

Zweitens ist gerade der FZAS die wohl letzte größere pazifistische Organisation in der Weimarer Republik mit so namhaften Mitgliedern wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky. Inwiefern Pazifismus Teil des Humanismus ist, scheint mir nun gerade eine sehr aktuelle Frage zu sein.

Zwei letzte Fragen mit der Bitte um kurze Antworten: Was ist die größte Leistung Penzigs? Was kann man heute von ihm lernen?

Erstens: Das ist der im November 1906 gegründete "Deutsche Bund für weltliche Schule und Moralunterricht" und ab 1908 die Herausgabe der Zeitschrift "Weltliche Schule" als Beilage zur "Ethischen Kultur" mit ihren breiten Debatten bis 1921, beides übrigens als Digitalisat frei verfügbar.

Zweitens: Es ist eine bestimmte, eine sehr tolerante Haltung als Atheist Glaubenden gegenüber, weil er von dort kam und etwas verstand von der kulturgeschichtlichen Bedeutung von Religionen. Er war in der Lage, sie als "Kulturgut" zu begreifen.

Horst Groschopp: Rudolph Penzig. Atheist, Freimaurer und Humanist. Aschaffenburg, Alibri-Verlag, 2022, 157 Seiten, kartoniert, 10,00 Euro, ISBN 978-3-86569-343-3

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