Grün-Rot will den Kirchen nachgeben

STUTTGART. (hpd) Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem die neue Gemeinschaftsschule „christlich“ werden soll. Bis Ende März war diese Absicht und Formulierung geheim gehalten worden. Ein Kniefall vor den Kirchen und Rückschritt.

Die grün-rote Landesregierung hat am 20. März 2012 einen Gesetzentwurf zur Einführung der „Gemeinschaftsschule“ in den Landtag eingebracht. Das erklärte Ziel der Koalition: „Der getrennte Unterricht für Schülerinnen und Schüler im gegliederten Schulwesen soll auf freiwilliger Grundlage in einem neuen, leistungsstarken, sozial gerechten, inklusiven und gemeinsamen Bildungsgang, der allen Schülerinnen und Schülern offen steht und sie individuell fördert, überwunden werden.“ Das ist eine gute und unterstützenswerte Sache.

Der Haken dabei: in Baden-Württemberg gibt es bisher schon eine „Gemeinschaftsschule“, aber bei der geht es nicht – wie bei der „neuen“ Gemeinschaftsschule – um die Aufhebung der Begabungsgrenzen, sondern um den gemeinsamen Unterricht ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis. Alle Grund- und Hauptschulen des Landes tragen seit 1967 die Bezeichnung „christliche Gemeinschaftsschulen“. Dies ist in den Artikeln 15 und 16 der Landesverfassung geregelt. Zugleich wurden damals die letzten staatlichen Konfessionsschulen im Ländle abgeschafft. Die anderen öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg besitzen keinen religiösen „Charakter“.

Mit der Veröffentlichung des Gesetzentwurfs ist ein Sachverhalt amtlich und öffentlich geworden, von dem bisher nur Eingeweihte wussten. Das Schulgesetz soll künftig folgenden Passus enthalten: „Die Gemeinschaftsschule wird als christliche Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen der Artikel 15 und 16 der Landesverfassung geführt.“

Bis zum 23. März 2012, als die Landtagsdrucksache offiziell ausgegeben und ins Netz gestellt wurde, war dieses Detail von der Regierung und den beiden Koalitionsfraktionen als Geheimsache behandelt worden. Nach außen sollte kein Wort davon dringen, was das Kultusministerium den Koalitionsabgeordneten am 28. Februar unter der Überschrift „Einigung mit den Kirchen“ als Begründung für diesen Kniefall vor den vier christlichen Großkirchen des Landes (Erzdiözese Freiburg, Diözese Rottenburg-Stuttgart, Evangelische Landeskirche in Baden, Evangelische Landeskirche in Württemberg) übermittelt hatte. Kurz zusammengefasst stand in dem Geheimpapier: Nur so könne man einer Verfassungsklage der Kirchen gegen das neue Gesetz entgehen und es sei besonders förderlich für die Integration muslimischer Schülerinnen und Schüler, die neue Gemeinschaftsschule als „christliche“ Schule zu führen.

Insider berichten, einige Koalitionsabgeordnete hätten am 28. Februar zwar über diese „Einigung mit den Kirchen“ den Kopf geschüttelt und auch die Kultusministerin habe bedauernd erklärt, „die Juristen“ hätten ihr keine andere Wahl gelassen. Aber offenbar hat niemand die Frage gestellt, wer eigentlich in unserem Staat über das öffentliche Schulwesen entscheidet. Vermutlich haben die Landesregierung und ein Großteil der Abgeordneten nicht gemerkt, was hier ablief: Die ganze grün-rote Koalition hat sich von kirchentreuen Juristen über den Tisch ziehen lassen. Sie haben der evangelischen und der katholischen Kirche ein Bestimmungsrecht über den religiösen „Charakter“ der öffentlichen Schulen eingeräumt.

Die grün-rote Regierung und die sie tragenden Fraktionen zeigten mit diesem Verfahren, wie ernst sie ihren „neuen Regierungsstil“ nehmen: „Den Bürgern im Dialog gegenübertreten, zuhören und dann entscheiden“. Obwohl die Landesverfassung ausdrücklich vorschreibt, dass in Zweifelsfragen über den „christlichen Charakter“ der Gemeinschaftsschule eine „gemeinsame Beratung“ des Staates mit den Eltern, den Lehrern sowie den „Religionsgemeinschaften“ (also nicht nur den Großkirchen) stattfinden muss, behandelte die Landesregierung den Vorgang mit äußerster Diskretion: Die Kirchen boten dem Land zwar eine solche „gemeinsame Beratung“ korrekterweise schriftlich an – der grüne Ministerpräsident und die blassrote Kultusministerin ignorierten dieses Angebot jedoch und informierten bis Ende März weder die Elternvertretungen noch die Vertretungen der Lehrerschaft über ihre Absichten.

Dabei war diese Pflicht zur „gemeinsamen Beratung“ (Art. 16 Abs. 3 der Landesverfassung) seinerzeit in die Verfassung aufgenommen worden, um zu verhindern, dass der Staat oder die christlichen Großkirchen allein bestimmen, was „christliche Gemeinschaftsschule“ bedeutet. Auch die hiervon Betroffenen, nämlich die Eltern als Vertreter ihrer Kinder und die Lehrerschaft sollten mitreden können. Denn das Erziehungsziel der christlichen Gemeinschaftsschule darf nicht „nicht christlich konfessionell fixiert“ sein, sondern „die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat“. So hat es das Bundesverfassungsgericht in seiner Simultanschulentscheidung (Beschluss vom 17. Dezember 1975) bestätigt.

Die Landesregierung hat diese Verpflichtung sträflich missachtet und den Großkirchen faktisch ein Definitionsmonopol über den „Charakter“ der neuen Gemeinschaftsschule eingeräumt. Die Bürger erhielten keine Chance, zu der Anmaßung der Kirchen und zum Kotau der Regierung Kretschmann Stellung zu nehmen. Lediglich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie die Evolutionären Humanisten Freiburg, die mehr oder weniger zufällig hiervon erfahren hatten, äußerten sich im Februar, also noch vor der Einbringung des Gesetzesantrag in den Landtag, kritisch und forderten, von diesem Plan Abstand zu nehmen.

Zur Gesetzesbegründung der Landesregierung

Der Gesetzentwurf ist von der Landesregierung mit einer umfangreichen Begründung versehen worden, warum die „neue“ Gemeinschaftsschule als „christliche Gemeinschaftsschule geführt“ werden soll. Diese Ausführungen, zeigen deutlich, wie sehr die grün-rote Regierung vor den Ansprüchen der Kirchen zu Kreuze gekrochen ist:

  1. Die Regierung nimmt die Behauptung der Kirchen widerspruchslos hin, mit der Einführung der neuen Gemeinschaftsschule würden die Grund- und Hauptschulen abgeschafft und deshalb falle ein Teil der Schüler, welche die neue Gemeinschaftsschule besuchen werden, unter die Artikel 15 und 16 Landesverfassung (darin werden die Grund- und Hauptschulen zu christlichen Gemeinschaftsschulen erklärt). Wolle die Regierung das ändern, brauche sie eine verfassungsändernde (Zweidrittel-)Mehrheit. Es ist grotesk, dass die Regierung Kretschmann nicht einmal fähig ist, ihren eigenen Gesetzentwurf zu verteidigen: Denn dieser setzt auf Freiwilligkeit. Die Eltern entscheiden darüber, welche Schule ihr Kind nach der vierten Grundschulklasse besucht (zu diesem Zweck hat die grün-rote Regierung soeben die Verbindlichkeit der sogenannten Grundschulempfehlung abgeschafft), und die Schulträger entscheiden, ob und wann vor Ort überhaupt eine „neue“ Gemeinschaftsschule eingerichtet wird. Die Hauptschule wird nach dem Gesetzentwurf (in der Form der „Werkrealschule“) bestehen bleiben. Die Regierung übernimmt die überaus fragwürdige und im Kern inhumane Behauptung, es gebe sozusagen originäre Hauptschüler, denen das Schicksal bestimmt hat, diese (christliche) Schule und keine andere zu besuchen. Es besitzen aber weder die Schüler noch die Eltern oder gar die Kirchen eine Art von Grundrecht auf eine Hauptschule als christliche Gemeinschaftsschule. Nach der Landesverfassung wäre es zwar unzulässig, die Schulart Hauptschule mit einfacher Mehrheit abzuschaffen, der Staat muss sie aber nicht vor einer Abwanderung von Schülerinnen und Schülern in andere Schularten schützen.
  2. Fast noch grotesker ist ein juristischer Trick, mit dem die Landesregierung ihre Absicht begründet, die Gemeinschaftsschule als christliche Gemeinschaftsschule „zu führen“. Damit werde „also nicht behauptet, dass sie es insgesamt ist, vielmehr postuliert der einfache (d.h. nicht verfassungsändernde) Gesetzgeber diese Grundsätze für alle Schüler, nachdem er für einen Teil der Schüler hierzu verfassungsrechtlich verpflichtet ist“, schreibt die Regierung. Damit kann man die Verfassung nicht umgehen: Wenn die neue Gemeinschaftsschule „als christliche Gemeinschaftsschule geführt“ wird, dann ist sie rechtlich eine christliche Gemeinschaftsschule. Diese Etikettierung der neuen Schulart wäre aber mit der im Grundgesetz statuierten Pflicht des Staates zur Neutralität unvereinbar, durch einfache Mehrheit des Landtags ginge das keinesfalls. Man kann geradezu darauf warten, dass dies vom Verfassungsgericht beanstandet wird.
  3. Weitaus wichtiger als diese verfassungsrechtlichen Erwägungen ist aber ein anderer Aspekt: Die Kirchen – und in willfähriger Dienstfertigkeit die Regierungsjuristen – ignorieren völlig den Wandel, der sich seit der landesweiten Einführung der „christlichen Gemeinschaftsschule“ im Jahr 1967 selbst in dem traditionell konservativen und vielfach noch religiös geprägten Bundesland Baden-Württemberg vollzogen hat. Die „christlichen Gemeinschaftsschulen“ des Landes (also die Grund- und Hauptschulen) unterscheiden sich heute überhaupt nicht mehr von den übrigen Schularten. Häufig ist weder den Lehrkräften, den Eltern noch den Schülerinnen und Schülern dieser Schularten bewusst, dass sie laut Verfassung einen besonderen Status haben.

Dazu haben nicht zuletzt einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beigetragen, beispielsweise der wegweisende Simultanschul-Beschluss von 1975. Danach darf die christliche Gemeinschaftsschule „keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen; sie muss auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein.“ Das Erziehungsziel einer solchen Schule darf nicht „christlich konfessionell fixiert“ sein. Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern beziehe sich in erster Linie auf die „Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheiten“.

Seit diesem Beschluss sowie aufgrund der Entscheidungen zum Schulgebet und zum Schulkreuz und vor allem der Verwaltungspraxis sind inzwischen alle Elemente, die 1967 die „christlichen“ Grund- und Hauptschulen noch von den anderen Schularten unterschieden haben, weggefallen – übrigens ohne jede negative Folge für die Wertorientierung der Grund- und Hauptschulen.