Meditationen über ein Schwein

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Tiere sind süß. Wenn sie jung sind sogar ganz besonders. Wer würde solch süßen Wesen schon Böses antun wollen? Trotzdem landen sie regelmäßig auf unseren Tellern. Über diesen Widerspruch nachdenken wollen nur Wenige.

Frederik ist ein fröhliches Kleinkind. Und er macht, was Kleinkinder eben so machen: schlafen, essen, Unsinn und die Welt erkunden. Dass er bereits ein tragisches Schicksal hinter sich hat, ist dem kleinen Wirbelwind kaum anzumerken. Zusammen mit seinen Geschwistern und zahlreichen anderen Kleinkindern wurde er im Alter von nur wenigen Wochen der Mutter entrissen und in einen LKW gesperrt. Doch wie durch ein Wunder konnte Frederik entkommen. Er sprang aus dem fahrenden LKW und fand ein neues Zuhause in einer liebevollen Pflegefamilie.

So würde man die Geschichte von Frederik erzählen, wenn er ein Mensch wäre. Doch das ist er nicht. Frederik ist ein Schwein. Seine Geschichte ging durch die Medien: Ein nur rund zwei Wochen altes Ferkel sprang auf der A1 bei Bremen aus einem Viehtransporter. Das Ferkel hat riesiges Glück. Es überlebte den Aufprall, wurde nicht überfahren und rollte mit nur leichten Blessuren in den Grünstreifen. Doch damit nicht genug: Direkt hinter dem Transporter fuhr eine Tierschützerin, die die Szene beobachtete. Sie alarmierte die Polizei, die das Ferkel einfing. Wenige Tage später zog der Schweinejunge auf dem Lebenshof "Hof Butenland" ein, wo er nun gemeinsam mit anderen Schweinen, Rindern, Hühnern und weiteren Tieren aufwachsen, alt werden und ein schweinegerechtes Leben führen darf.

Frederik ist ein kleiner Medienstar. Seine unwahrscheinlich glückliche Geschichte berührt die Menschen. Die Kommentare in den sozialen Medien überschlagen sich vor Liebesbekundungen gegenüber dem ach so süßen Baby-Schweinchen. Es ist ein bemerkenswerter Effekt, den Tier- wie Menschenkinder durch das sogenannte "Kindchenschema" bewirken. Kleine Ferkelchen empfinden wir als süß, ebenso wie knuddelige Lämmchen und flauschige Küken. Der Schutzreflex, den wir gegenüber diesen Wesen haben, ist nicht nur Teil unseres biologischen Programms, es wäre auch nicht gesellschaftsfähig, diesen Tierkindern offen Gewalt anzutun. Anders gesagt: Die meisten Menscheneltern würden sich Sorgen um die psychische Verfassung ihres Nachwuchses machen, wenn dieser statt bei Ferkelchen, Lämmchen und Küken "ei zu machen" auf die Tiere einschlagen würde.

Und doch geschieht etwas Seltsames. Kaum haben wir verzaubert das Lämmchen gestreichelt, essen wir Lammragout – getötetes Babyschaf. Und zwar ohne jede Notwendigkeit, denn Menschen können ohne Lammragout tatsächlich problemlos überleben. Kaum haben wir das süße, piepsende Küken geherzt, verspeisen wir Eier – Produkte einer Industrie, in der Millionen von flauschigen Küken kurz nach dem Schlupf bei lebendigem Leibe geschreddert werden, nur weil sie das "falsche" Geschlecht haben. Und das, obwohl für Menschen auch ein Leben ohne Eier problemlos möglich ist. Kaum haben wir uns in den Medien an der glücklichen Geschichte von Frederik erfreut, essen wir das tote Fleisch seiner erwachsenen Artgenossen als Schnitzel zu Mittag. Oder vielleicht kommt gar einer seiner im LKW mitreisenden Ferkelkollegen bei der nächsten Gartenparty zum Einsatz. Als Spanferkel. Denn das ist das Schicksal, das Frederik treffen sollte, bevor sein Lebensweg durch den Sprung aus dem Viehtransporter eine gänzlich andere Wendung nahm. Anders als der Lebensweg all der anderen Baby-Schweine im Laster, die wenige Stunden später geschlachtet wurden. Und das, obwohl der menschliche Organismus weder auf das Fleisch kindlicher noch auf das erwachsener Frederiks angewiesen ist.

Ich weiß, das Phänomen ist ein alter Hut. Psychologisch gut untersucht. "Kognitive Dissonanz" nennt es die Wissenschaft. "Doppeldenk" nannte es George Orwell. Die bemerkenswerte Fähigkeit des Menschen, widersprüchliche Dinge zu tun und zu denken. Trotzdem erschreckt mich das Ausmaß der Verdrängung, das meine Artgenossen an den Tag legen, immer wieder. Bei Reaktionen auf Geschichten wie jene von Frederik – das Eintippen von Herzchen-Smileys fürs Glücksschwein beim Bratwurstessen – wird dieses Erschrecken besonders deutlich fühlbar. Übrigens erschrecken mich nicht nur widersprüchliche Reaktionen auf lebendige und tote Tierkinder. Auch die Fähigkeit zu verdrängen, dass der Familienurlaub mit dem Flieger nach Malle dazu beiträgt, die Welt für den eigenen Nachwuchs unbewohnbar zu machen, oder dass der Shoppingwahn im 1-Euro-Laden mit Leid in anderen Teilen der Welt einhergeht, empfinde ich schlicht als atemberaubend.

Was bleibt, ist die Hoffnung. Die Hoffnung, dass der eine oder die andere an der Fleischtheke sich demnächst an das Gesicht von Frederik erinnert und doch lieber zum Gemüse greift. Die Hoffnung, dass wir alle uns über die größeren Zusammenhänge unseres Handelns bewusster werden. Und dieses Handeln ändern.