Bis 1998 gab es noch eine Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums zur „christlichen Gemeinschaftsschule“, in der vom Schulgebet, der Anbringung religiöser Symbole in Schulräumen oder der Pflege christlichen Liedguts im Musikunterricht der Grund- und Hauptschulen die Rede. Das Ministerium hat sie ist am 31.12.1998 ersatzlos erlöschen lassen. Die Zeit war darüber hinweggegangen. Und auch dass bei der Bestellung der Lehrer an den Grund- und Hauptschulen „auf das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis der Schüler nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen“ ist (so schreibt es die Landesverfassung immer noch vor), wird vom Kultusministerium seit Jahrzehnten ignoriert – sonst müsste man ja inzwischen muslimische Lehrkräfte einstellen, was angesichts des in Baden-Württemberg geltenden Kopftuchverbots nicht ganz einfach wäre.
Nach der Landesverfassung gilt für die Grund- und Hauptschulen offiziell immer noch der zusätzliche Auftrag, „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerten“ zu unterrichten (für die anderen Schularten gilt diese Bestimmung nicht). Aber selbst das ist heute kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Die Bildungspläne bzw. Bildungsstandards der Hauptschulen weisen an keiner Stelle eine Wertorientierung auf, die sie von den anderen Schularten unterscheidet.
Damit ist jeder sachliche Grund dafür entfallen, die neue Gemeinschaftsschule als „christliche Gemeinschaftsschule“ zu führen. Sie würde damit um keinen Deut „christlicher“ als jede andere Schulart in Baden-Württemberg auch.
Die Etikettierung der neuen Gemeinschaftsschule als „christliche“ Schulart würde ihrem Zweck zuwiderlaufen. Denn vorrangige Ziele der neuen Schulart sind die Integration und Inklusion sowie die Verbesserung der Bildungschancen.
Politisch-historischer Rückschritt
Diese neue Schulart wird nach dem Willen der grün-roten Koalition eine „Wahlschule“ sein: Nur bei ausreichender Attraktivität kann sie das notwendige Maß von Akzeptanz erreichen. Es ist in vollem Umfang dem Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zuzustimmen, der die Absicht der Landesregierung am 24. März als „politisch-historischen Rückschritt“ bezeichnete. Wenn die grün-rote Koalition der neuen Gemeinschaftsschule eine „religiös-weltanschauliche Ausrichtung“ gebe, würde die neue Schulart mit einer völlig unnötigen Hypothek belastet: „Es ist weder einseh- noch vermittelbar, warum ausgerechnet diese neue Schule, die nicht zuletzt der Schülergruppe mit Migrationshintergrund (und damit oft auch nichtchristlicher Religionszugehörigkeit) bessere Bildungschancen ermöglichen soll, dezidiert an ein einzelnes religiöses Bekenntnis gebunden werden soll. Der Charakter der neuen Gemeinschaftsschule als Schule für alle würde damit beschädigt, die Kritik, es handle sich bei ihr lediglich um eine Nachfolge-Institution der bisherigen Hauptschule, würde Auftrieb erhalten.“ Der GEW-Landesvorstand forderte die Koalitionsfraktionen und die Landesregierung auf, „von diesem unsinnigen, schädlichen und verfassungswidrigen Vorhaben Abstand zu nehmen“.
Was nun?
Das neue Gesetz soll am 1. August 2012 in Kraft treten. Die Landesregierung hat vor, es noch im April durch den Landtag zu pauken. Wenn die Mitglieder der beiden Regierungsparteien und die bildungspolitisch interessierten, aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger der grün-roten Koalition nicht Einhalt gebieten, werden die Abgeordneten des Landtags gehorsam umsetzen, was die Kirchen von ihnen erwarten.
Danach müssen sie nur noch warten, bis die ersten Eltern gegen das neue Gesetz klagen. Das Ergebnis ist absehbar: Die Regierung wird sich blamieren.
Trauriger noch wird ein anderes Ergebnis sein: Ausgerechnet die Menschen, für deren Kinder die neue Gemeinschaftsschule konzipiert ist, die „bildungsfernen“ und die hoch motivierten, werden vom Besuch dieser Schulart abgeschreckt. Das werden am meisten jene Bürgerinnen und Bürger bedauern, die die neue Gemeinschaftsschule wollen, die ihr ein gutes Gelingen wünschen und die im letzten März grün oder rot gewählt haben.
Frank Walter