Moralmaschine Religion?

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Podium / Fotos: Gebhard Stadler

HEIDELBERG. (hpd) Die Debatte um Werte und ethische Orientierungen an der Schnittstelle zur Politik erlebt zurzeit eine besondere Aufmerksamkeit. Als Konsequenz aus dem Böckenförde-Diktum wird bisher in der politischen Praxis von den Religionen, vor allem von den christlichen, eine besondere Führungsrolle erwartet, gewissermaßen Religion als unverzichtbarer Integrationsfaktor.

Gibt es nicht auch humanistische und laizistische Gruppierungen, als Dialogpartner? Ist ein freiheitlicher Staat im Gegensatz zu Böckenförde nicht doch fähig, für seine notwendigen Existenz-Voraussetzungen selbst zu sorgen?

So wurde in einer Gemeinschaftsorganisation von der Fachschaft Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg, den Jusos HD, der Delta-Philosophie HD und den Sozialdemokratischen LaizistInnen Deutschlands zu einer Podiumsdiskussion am 19. April 2012 nach Heidelberg ins Deutsch-Amerikanische Institut (DAI) eingeladen mit dem Thema „Moralmaschine Religion ?“

Dazu konnten unter der Moderation von Britta-Sophie von Wolff-Metternich, Akademische Oberrätin am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg, folgende Gäste gewonnen werden:

  • Eberhard Schockenhoff, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg
  • Gregor Ahn, Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg
  • Joachim Kahl, Doktor der Theologie und der Philosophie, freiberuflicher Philosoph mit Arbeitsschwerpunkten Religionskritik, Ethik, Ästhetik

In ihrem Eingangsstatement stellte Frau von Wolff-Metternich ein Bedürfnis nach ethischer Argumentationshilfe an den politischen Schnittstellen fest, z.B. bei Medizinethik, Sterbehilfe und sozialer Gerechtigkeit, und das aus einer gewissen Orientierungslosigkeit oder Überforderung des bisherigen Moralsystems heraus.

Auf die Frage: „Kann das Christentum eine Moralmaschine sein?“ antwortete Schockenhoff mit der grundsätzlichen Feststellung, der erste Wert der Bibel sei eher das Heil als die Moral. Jedoch die Unerlässlichkeit Gottes für die Moral folge schon aus dem christlichen Gebot der Nächstenliebe. Auch als Folgerung aus dem Böckenförde-Diktum, nach dem der Staat nicht nur moralische Werte nicht gesetzlich vorgeben kann, sondern das auch nicht darf, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben, sollte es lebendige Religionen geben. Der Staat sei auf die moralischen Interessen der einzelnen Bürger angewiesen. Die historische Rechtsordnung sei ein Erbe des Christentums, siehe die Strafbarkeit von unterlassener Hilfeleistung für einen Verletzten und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Von der Moderatorin daraufhin angesprochen, ob tatsächlich dafür die Religionsgemeinschaften gebraucht würden oder ob diese Aufgaben nicht lieber von verschiedenen, miteinander konkurrierenden Sichtweisen erfüllt werden sollten, gab Schockenhoff zu bedenken, dass es auch unter den Religionen einen Pluralismus gebe. Er als Theologe nähme auf jeden Fall für sich das Recht in Anspruch, ebenfalls am Dialog teilzunehmen, aber natürlich mit zustimmungsfähigen Argumenten. Ihm komme es aus dem christlichen Ethos heraus auf Solidarität mit den Schwächeren an. Er kämpfe für die Rechte derer, die sich nicht selbst schützen könnten, wie beispielweise die Embryonen.

Demgegenüber bekräftigte Kahl in einem sehr engagierten Diskussionsbeitrag seine kritische Haltung, indem er darauf verwies, dass schon vor über 250 Jahren unter Friedrich dem Großen, im aufgeklärten Preußen, Pluralität, Säkularität und Laizität gefordert worden seien: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“. Heute nimmt Art. 140 GG, basierend auf der Weimarer Verfassung von 1919, auf diese Rechte Bezug. Was die „Moralmaschine Religion“ anbetreffe, so erschien es Kahl, sei diese Maschine total verunglückt. Es handle sich vielmehr um eine Maschine der Unmoral und der Gewalt. Man brauche nur auf den blutigen Ort „Orient“ zu schauen, wo die großen Heiligtümer der abrahamitischen Religionen eng benachbart liegen und wie gerade dort die brutalsten territorialen Machtansprüche aufeinanderstoßen. Immer wenn der Begriff „heilig“ in der gesellschaftlichen Diskussion auftauche, gerade dann bestünde höchste Gefahr von religiösem Eiferertum und Fanatismus, weil sich dieser Begriff so gut zum Kampf gegen die Andersartigen benützen lasse.

Es gebe keine feste, einmalig offenbarte, gottgewollte Moral. Werte und Normen erwüchsen dagegen immer auf evolutionärem Wege aus einer konkreten, säkularen Bedingtheit. Zu jedem Gebot würden auch kontextbezogene Ausnahmen gemacht, sogar beim Tötungsverbot. Die Berufung auf Gott stelle nur eine Leerformel dar, in die alles für eine jeweils spezielle Gruppe Wünschenswerte hineinprojiziert werde. Andererseits existiere ein funktionsfähiger, humanistischer Wertekanon, der völlig ohne Transzendenz, ohne religiösen Unterbau auskäme.

Rein empirisch sieht Kahl, dass tatsächlich Menschen ihr Leben auf Religion aufbauen. Aber niemand könne sagen, ob es Gott und die von ihm abgeleitete Moral tatsächlich gibt. Was ist Moral? Handabhacken bei einem Obstdiebstahl? Sogar der norwegische Attentäter von 77 Toten berufe sich auf moralische Vorstellungen. Er habe sich eine eigene, subjektive Moral gesetzt. Die Kreuzzugsideologie und die Inquisition haben sich ebenso auf Moral berufen. Prinzipiell müssten die in der Gesellschaft wirksamen Moralprinzipien aus pluralistischen Aushandelsprozessen aus bestimmten kulturellen Konstitutionen erwachsen. Der Deutsche Ethikrat sei jedoch keineswegs pluralistisch zusammengesetzt, wie gerade behauptet, sondern dort seien nur drei Religionen vertreten. Und das in einer Zeit, in der viele Menschen Mitglieder in neuen Religionsgemeinschaften oder manche spirituelle Wanderer in Patchwork-Religionen unterwegs sind. Sie alle beanspruchten „die Moral“ für sich. Deshalb dürfe kein Staat nur auf einer einzigen Religion, z.B. nur der christlichen, aufbauen.

Ob ein Gefahrenpotenzial darin zu sehen sei, wenn nur eine einzige Moralvorstellung, nämlich die christliche, mit den Aufgabenstellungen des sozialen Staates verknüpft werde, beurteilte Schockenhoff so: Im Christentum müsse zwischen Religion und Moral unterschieden werden. Im Übrigen sei unsere Gesellschaft keineswegs durch zu viel an Moral gefährdet. Jeder Mensch habe das Recht, ungehindert nach der Wahrheit zu suchen und sich seinem Ergebnis entsprechend zu verhalten. Der säkulare Staat müsse im Sinne der positiven Religionsfreiheit diese Grenze respektieren und hier seinen eigenen Anspruch zurücknehmen.

Die christlichen Religionen, erläuterte Schockenhoff, hätten neben ihrem Gewaltpotenzial auch großes Friedenspotenzial wie Nächstenliebe, Vergebung, Versöhnlichkeit, unbegrenzte Vergebungspflicht. Dagegen gebe es historisch gesehen tatsächlich Fälle, in denen Religionen entgleisen konnten, z.B. galten während der Gewaltherrschaft im 12-jährigen Reich ganz andere Werte als heute. Dem Christentum wohne aber ein fundamentaler Kern an nicht aushandelbarer Moral inne. Ethik sei nicht beliebig aushandelbar, es gebe bleibende, nicht relativ geltende Aspekte in der christlichen Moral.

Zu diesem Aspekt betonte Ahn, Moral sei wirklich nicht beliebig. Alle gesellschaftlichen Entscheidungen würden vernetzt getroffen. Es seien auch allmähliche Aushandelsprozesse möglich, beispielsweise sei in vielen Ländern die Todesstrafe abgeschafft worden. Das hieße aber nicht anything goes, sondern es handele sich hier um ein gesteuertes und erstrittenes Aushandeln. Es gebe keine festen, anthropologischen Grundlagen von Moral, sondern eher eine relative Betrachtungsweise: Nämlich für uns seien die Menschenrechte von 1948 nicht verhandelbar. Dagegen ergäben sich in anderen Kulturen ganz andere Grundsätze. Andere Kulturen funktionierten eben anders als unsere, weshalb eine Übertragung unserer Grundsätze auf asiatische Länder keineswegs selbstverständlich wäre.

Kahl legte Wert darauf, die Begriffe „relativ“ und „beliebig“ zu unterscheiden. Unter menschlichen Bedingungen gebe es nichts Absolutes, weil alle Menschen irrtumsfähig seien. Die Moral sei relativ und revidierbar, weil historisch gewachsen, und nur so könnten die schrecklichen Irrtümer erklärt werden, die in der Vergangenheit vorgekommen seien. Aber Moral sei deswegen nicht beliebig; denn das Relative an ihr ließe sich jeweils durch Philosophie und common sense begründen. So sei der Wert „Menschenwürde“ keine absolute Entität, da sie, wie die Erfahrung zeigt, aufgrund des dem Menschen aus der Evolution mitgegebenen Gewaltpotenzials leider immer noch ständig verletzt würde.

Nochmals auf den behaupteten Zusammenhang der Menschenrechte mit dem Christentum eingehend, erinnerte Kahl daran, dass die philosophische Begründung für unsere heutigen Menschenrechte schon im Altertum, lange vor Christus, gegeben worden sei und sich andererseits 2000 Jahre lang, während das Christentum noch deutlich politische Macht ausgeübt habe, in dieser Richtung nichts bewegt habe bis es endlich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN kam. Sogar bis in die 1960er-Jahre hätten die Menschenrechte noch gegen den erklärten Willen der Kirchen erkämpft werden müssen. Also seien diese eben kein Säkularisat des Christentums. Beispielsweise würde mit der Säuglingstaufe und den Sexualverstümmelungen an beiden Geschlechtern heute noch gegen elementare Menschenrechte verstoßen.

Nach der Ansicht von Ahn seien Gewalt- bzw. Friedenspotenziale nicht einer bestimmten Religion zuschreibbar; keine Religion sei eo ipso gewalt- oder friedfertig. Schockenhoff erwähnte nochmals seinen Standpunkt, in der Moral sei ein nichtrelativer Anteil vorhanden. Er gab zu, dass z.B. die Genitalverstümmelung zu manchen Kulturen dazugehöre oder die Grundrechte im chinesischen Konfuzianismus anders als bei uns ausgelegt würden. Aber trotz aller Unterschiede bestünden Gemeinsamkeiten des Menschseins, müsse der Anspruch auf eine gewisse Universalität vertreten werden. Und zum Gewaltpotenzial des ersten Gebots, zu dem exklusiven Anspruch des biblischen Gottes, führte er noch aus, wie die „anderen Götter“ heutzutage interpretiert werden müssten, beispielsweise in puncto materieller Besitz oder das Geschehen an den Finanzmärkten. Das erste Gebot wolle ganz allgemein übertriebene Machtansprüche und Eigeninteressen relativieren. Der normative Alleinanspruch des Christentums würde sich vor allem am Leben Jesu orientieren; das bedeute Nächstenliebe, Feindesliebe und Friedensliebe bis in den Tod.

In der nun folgenden Publikumsdiskussion kritisierte ein Zuschauer zunächst die automatische Zuweisung von Gewalt oder Friedfertigkeit zu den Religionen, vor allem zu den Koranversen. Zwar habe sich der Islam in einer langen Tradition mit Feuer und Schwert ausgebreitet, aber nicht alle Muslime verträten den Dschihad als den Heiligen Krieg. Es seien einzelne Menschen, die fälschlicherweise unter Berufung auf religiöse Inhalte so handelten. Dem pflichtete Ahn bei. Sowohl Gewalt als auch Friedfertigkeit seien beide den religiösen Schriften zu entnehmen, aber in der einen oder anderen Richtung handeln würden allein die unterschiedlichen Menschen.

Eine Dame aus dem Publikum wies nochmals nachdrücklich darauf hin, dass die Säuglingstaufe grundsätzlich dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit widerspräche. Dabei würden unmündige Kleinkinder ohne ihre Einwilligung zu Zwangsmitgliedern in einer Kirche gemacht. Schockenhoff räumte dazu ein, die Unmündigentaufe widerspräche zwar dem Recht des Kindes auf negative Religionsfreiheit, aber in der Familie sei eine gänzlich neutrale Atmosphäre nicht herzustellen. Die Eltern wollten eben ihr Kind mit Liebe begleiten, in der Hoffnung, dass sich ihr Kind später selbst richtig entscheide. Ahn warf ein, in der Familie sei prinzipiell kein Standpunkt der Ungebundenheit möglich; das bedeute immer eine gewisse Vorprägung. Dem widersprach die Dame mit der Bemerkung, die Rituale an sich erschienen zwar legitim, aber nicht die damit verbundene Zwangsmitgliedschaft, mit der das Kind unrechtmäßig vereinnahmt werde.

Ein Zuhörer gab zu bedenken, man brauche nicht die Unterscheidung in gute oder schlechte Moral oder Menschen. Es reiche vollkommen aus, jedes Lebewesen mitfühlend zu betrachten, auch den Menschen einfach als leidensfähiges Tierlebewesen zu verstehen. Ein anderer fragte sich: „Wenn es einen Schöpfer gäbe, so kümmerte er sich doch wohl auch von sich aus um die gute Zukunft seiner Menschheit. Was sagen die Religionen dazu? Es werden Rohstoffkämpfe kommen. Wo bleibt die Umweltethik, die Menschheitsethik?“ Und ein Beitrag aus dem Publikum zu der behaupteten Absolutheitseigenschaft von Moral: „Warum diskutieren wir dann überhaupt über Moral, wenn sie doch angeblich absolut sein soll?“

Hier schaltete sich die Moderatorin in Richtung Schlusswort ein und zitierte Schopenhauer mit „Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.“ Sie sehe eine Chance, die Weltfragen im Rahmen eines Ethikrates in den Griff zu bekommen. Schockenhoff sieht noch eine Chance darin, dass die Wähler die Zukunft der Menschheit zu ihrem wahlentscheidenden Kriterium erheben, und so politisch auch international Einfluss ausüben könnten.

Gebhard Stadler