Islamismus: Zwei Gründe, warum die Ideologie benannt werden muss

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IS-Kämpfer, die sich ergeben haben
IS-Kämpfer

Am 3. August jährte sich zum zehnten Mal der islamistisch motivierte Genozid an den Jesid:innen in der Autonomen Region Kurdistan. Verantwortlich für das Verbrechen zeigte sich die Terror-Miliz Islamischer Staat (IS), die neben dem Massenmord auch tausende Frauen und Kinder verschleppte und diese auf Sklaven-Märkten verkaufte. Schaut man sich die Beiträge zum Jahrestag dieser Verbrechen an, so haben einige Stimmen Schwierigkeiten damit, den Islamismus als ideologische Motivation zum Genozid konkret zu benennen.

Um den Opfern eine Stimme zu geben, engagiert sich unter anderem die jesidische Journalistin Düzen Tekkal seit Jahren und reist zu den Tatorten in den Nahen Osten. Eine Aufklärung, die wichtig ist, auch um andere bekannte Stimmen für eine Position gegen Islamismus zu gewinnen. Eine dieser Stimmen ist der Bundestagsabgeordnete Max Lucks von den Grünen, der zuletzt an der Seite von Tekkal in die Autonome Region Kurdistan gereist war. Am 3. August schrieb Lucks bei Instagram, dass der IS einen "brutalen Völkermord" begangen habe, die ideologische Motivation, den Islamismus, nannte er dabei nicht beim Namen. Dies verwundert, da Lucks sonst bekannt dafür ist, klare Kante auch gegen Islamismus zu zeigen. Ebenso Lucks' Partei-Kollegin Lamya Kaddor, die bei X lediglich den IS als Täter-Gruppe benannte, nicht aber seine islamistische Motivation zum Genozid. Ähnlich sieht es bei anderen Spitzenpolitiker:innen wie Janine Wissler und Cem Özdemir aus, oder in einem Beitrag des internationalen Bündnisses Seebrücke. Dort liest man von Massenmord, sexualisierter Gewalt und großen Fluchtbewegungen, die durch den IS ausgelöst wurden. Nach dem Wort Islamismus sucht man auch hier vergeblich.

Aufarbeitung und Prävention benötigen Klarheit in der Analyse

Man stelle sich vor, Rassismus würde nicht als eines der entscheidenden Motive hinter dem rechten Terror in Hanau benannt. Völlig zu Recht unvorstellbar, gerade in der Aufarbeitung des Hanau-Anschlags wird explizit immer wieder auf das rassistische und antisemitische Weltbild des rechten Terroristen hingewiesen. Eben diese Klarheit benötigt eine Aufarbeitung, aus der wirksame Prävention erwachsen soll, um Menschenleben zu schützen. Wer im Sicherheitsbereich effektiv agieren will, kommt nicht umher, die ideologische Ausrichtung und Motivation der Täter:innen konkret zu benennen.

Unvergessen bleibt in diesem Kontext Annalena Baerbocks Rede vor dem Bundestag 2022, in der sie im Gedenken an Jina Mahsa Amini (die im islamischen Gottesstaat Iran durch Sittenwächter totgeschlagen wurde, da sie ihr Kopftuch "nicht richtig" getragen habe) zu der Feststellung kam, dass diese Tat "nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun" habe. Ungern möchte man daran erinnern, dass die Geistlichkeit im Iran, die den Gottesstaat de facto kontrolliert, den weltweit wohl bedeutendsten islamisch-schiitischen Klerus stellt. Das höchste Amt in diesem Regime hat der schiitische Religionsführer inne, auch "Führer der islamischen Revolution" genannt, der als Stellvertreter des erwarteten Imams Muhammad al-Mahdī regiert. Mit dieser religiösen Legitimierung verfügt er über fast uneingeschränkte Macht. Eine seiner ausführenden Institutionen ist die "Islamische Religionspolizei", in deren Auftrag wiederum die "Sittenwächter" handeln, um die reaktionären und sexistischen Menschen- und vor allem Frauenbilder des Regimes in jedem Lebensbereich durchzusetzen.

Der Islamismus, ein politisch-totalitäres Islamverständnis

Zweifelsohne handelt es sich hier um ein politisch-totalitäres Islamverständnis, den Islamismus, der nicht zu vergleichen ist mit moderaten, teils unpolitischen Islamverständnissen von liberalen Muslim:innen. Den brutalen Konsequenzen eines Gottesstaates allerdings abzusprechen, dass diese etwas mit Religion zu tun haben, ist ein analytischer Offenbarungseid. Eine Haltung, die nicht von ungefähr kommt und sich nahtlos in Statements von Teilen der politisch Verantwortlichen einreiht, die seit Jahren größte Schwierigkeiten damit haben, eine differenzierte Positionierung gegen Islamismus vorzunehmen, welche einerseits das totalitäre Ideologie-Fundament klar benennt und andererseits Muslim:innen nicht pauschal mit Islamist:innen gleichsetzt, wie man es aus rechten Erzählungen kennt, die beispielhaft antimuslimische Ressentiments bedienen.

Daher ergeben sich zwei zentrale Gründe, warum es wichtig ist, bei der Berichterstattung über Islamismus die konkrete Ideologie zu benennen:

  1. Der demokratische Kampf gegen totalitäre Religionsauslegungen wie den Islamismus braucht eine differenzierte Analyse, um überhaupt zu verstehen und in Worte fassen zu können, was die entsprechende Ideologie in der Theorie bedeutet und welche konkreten Mechanismen in der Praxis greifen. Dazu ist es selbstredend von größter Bedeutung, die Ideologie erst einmal klar zu benennen. Die Verbrechen des IS gegen die Jesid:innen sind weder beliebig noch zufällig, denn die Terror-Miliz hatte, wie auch andere islamistische Bewegungen, das Jesidentum zu einer "heidnischen Religion aus vorislamischer Zeit" erklärt und damit den Massenmord und die Versklavung aus ihrem totalitären Religionsverständnis heraus "legitimiert".

    Das Ziel blieb stets die Vernichtung der gesamten Religionsgemeinschaft. Ähnliche Verfolgungen gab es bereits im islamischen Gottesstaat des Osmanischen Reiches, Jesid:innen selber zählen bis heute 72 Genozide an ihrer Gemeinschaft, vor allem durch islamistische Bewegungen. Um die Kontinuität dieser Verbrechen historisch und politisch einordnen und verstehen zu können, braucht es eine differenzierte Analyse politisch-totalitärer Islamverständnisse. Auch hier geht es darum, diese erst einmal konkret benennen zu können. Überspitzt gesagt muss man seinen Feind natürlich kennen, um ihn mit allen demokratischen Mitteln bekämpfen zu können. Das gilt für völkische wie auch klerikale Faschist:innen. Vor allem Präventionsprojekte und De-Radikalisierungsangebote können nur greifen, wenn die Motivation und Ideologie der Täter:innen benannt und analysiert werden, ansonsten laufen sie ins Leere. So banal es klingt, diese Klarheit beginnt bereits in den Social-Media-Beiträgen der politisch Verantwortlichen, denn der Kampf gegen Faschismus sollte auf verschiedenen Ebenen geführt werden, die sich darin ergänzen, der Öffentlichkeit ein differenziertes und verständliches Lagebild zu präsentieren.
     

  2. Erfolgt diese konkrete Benennung der Ideologie und die damit einhergehende Differenzierung nicht, öffnet sich eine "Tür", die den Nährboden für die "Pauschalisierung von Muslim:innen" liefert, auf dem antimuslimische Hetze und rassistische Ressentiments wachsen. Eine progressive Islamismus-Kritik, die die Gefahr dieser Ressentiments mitdenkt, benennt konkrete islamistische Bewegungen und Akteur:innen, während einflussreiche Teile rechter Bewegungen diese Kritik häufig instrumentalisieren, um eigene antimuslimische Ressentiments zu bedienen.

    Quantitativ machen Muslim:innen selber weiter die größte Opfergruppe des Islamismus aus, insbesondere dort, wo sie in islamistischen Regimen wie im Iran oder Saudi-Arabien leben. In Deutschland hingegen liefert die liberal-islamische Alhambra Gesellschaft beinahe täglich neue Aufklärung über Islamismus und reaktionäre Islamverständnisse. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass proto-islamistische Elemente heute auch Anklang in Teilen des islamischen "Mainstreams" finden, genauso wie nationalistische Elemente in Teile der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland reichen. Radikalisierungstendenzen sind in verschiedenen Communitys prinzipiell ähnlich und schließen häufig an soziale und ökonomische Faktoren an. Um in diesem Ablauf Theorie und Praxis (Ideologie und ausführende Kräfte) identifizieren zu können, braucht es ein neues Bewusstsein und auch Mut, entsprechende Ideologien so konkret und differenziert wie möglich zu benennen. 

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