System von Demut und Demütigung

Waren die sexuellen Übergriffe nur der Gipfel eines insgesamt übergriffigen Systems oder eine Besonderheit, die sich aus dem Internat nur eingeschränkt erklären lässt?

Rolf Cantzen: Wer demütigt, dem geht es nicht nur darum, einen Zögling der „totalen Institution“ einzuverleiben oder aus ihnen fromme katholische Schäfchen zu machen, sondern es geht auch um Unterdrückung, um die Ausübung von Macht, genauer um den Genuss der Macht, um die Lust an der Macht. Und diese Machtlust erstreckt sich häufig auch auf den sexuellen Bereich zumal in katholischen Internaten jede zwischenmenschliche Sexualität tabuisiert war (und die solitäre selbstverständlich auch). Es geht um „sexualisierte Gewalt“ und wo die Sexualisierung beginnt, lässt sich nur schwer bestimmen. Die Texte des Buches legen nahe, dass es fließende Übergänge gibt.

Ergänzend möchte ich aber betonen, dass nicht die Institution gewalttätige Erziehungsmittel diktierte, sondern das einzelne Patres mit oft sadistischen Persönlichkeitsstrukturen das praktizierten, was sie als ihre Erziehungsaufgabe verstanden. Das Problem der Institution war es, dass sie solchen Personen freie Hand ließ und diejenigen, die dann „über die das Ziel hinaus schossen“, als böse Einzeltäter verurteilte und es bis heute vermeidet, zu fragen, weshalb es in Internaten und in der katholischen Kirche so viele „Einzeltäter“ gab – und zwar weltweit. Die Berichte aus Irland, den Niederlanden, den USA, Kanada lassen das Ausmaß erahnen, in dem diese Gottesmänner im Schutz der Internate und des Katholizismus sich an Kindern vergangen haben.

Was führt dazu, dass sich die Betroffenen selbst im Kreis vertrauter Personen erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach den Geschehnissen offenbaren?

Rolf Cantzen: Ich denke – und das gilt vermutlich sowohl für die, die nur verprügelt wurden ebenso wie für die, die auch sexuell missbraucht wurden – es ist die Scham, dass man das hat mit sich machen lassen, dass man sich nicht gewehrt hat, dass man sich nicht hat aus dem Internat werfen lassen, dass man nicht geflohen ist. Mit zunehmendem Alter verzeiht man sich das vielleicht eher. Oder man entschließt sich zu der Erkenntnis, weshalb man sich nicht wehren wollte oder konnte. Es gibt andere Gründe: Die Eltern, die einen in dieses Internat gesteckt haben, sind inzwischen verstorben. Man muss sie nicht belasten. Ein anderer Grund: Die Betroffenen waren es gewohnt, dass man ihnen nicht glaubte. In ihrer Kindheit galten Priester als unangreifbar. Die Betroffenen glaubten sich oft auch im Erwachsenenalter selbst nicht, oft auch deshalb nicht, weil das Scham und Auseinandersetzungen ersparte. Es ist bequemer, sich selbst auf die Haltung festzulegen: Es ging halt damals etwas rauer zu, das ist der Zeit geschuldet, heute sind wir schlauer, aber mir hat das damals nicht geschadet.

Und natürlich: Die ersten öffentlichen Tabubrüche initiieren eine Auseinandersetzungen mit dem, was mehr oder weniger erfolgreich verdrängt wurde. Klar wurde mir bei meinen Recherchen: Bekannt wird nur ein Bruchteil dessen, was tatsächlich passiert ist. Mir stellt sich immer wieder die Frage: Wenn jemand so massiv und raffiniert vergewaltigt hat, wie in den wenigen bekannten Fällen, was ist da sonst noch alles geschehen? Ich kann es nicht glauben (und Sexualwissenschaftler auch nicht), dass solche Täter nur einen oder zwei Jungen missbraucht haben und dann drei Jahrzehnte nicht aktiv waren.

Liegt in der Scham auch die Erklärung dafür, dass sich die meisten Opfer offenbar nicht gewehrt haben?

Rolf Cantzen: Ja: Scham; die Erwartung, dass einem nicht geglaubt wird; die Angst, die Eltern zu enttäuschen; die Angst, zu weich, zu kindlich, zu dumm zu sein; die Befürchtung, ein Versager zu sein, undankbar zu sein gegenüber den Eltern, die es schwer genug haben.

Nun hat es ja nicht alle oder zumindest nicht alle Schüler in gleichem Maße getroffen. Gab es eine Disposition, die bestimmte Kinder bevorzugt zu Opfern des Systems werden ließ?

Rolf Cantzen: Oft waren es wohl die, die etwas am Rand standen, die nicht integriert und anerkannt waren in der Gruppe, die schulische Probleme hatten. Die Texte des Buches geben hierauf keine eindeutige Antwort.

Trotz aller Traumata haben es zumindest die im Buch versammelten Autoren im bürgerlichen Leben fast alle zu etwas gebracht. Warum haben sie das trotz ihrer „Beschädigungen“ geschafft? Oder handelt es sich hier um das Kriegsveteranenphänomen, dass nur die Überlebenden berichten?

Rolf Cantzen: Ich denke, es kommen meistens mehrere Aspekte zusammen. Der erste entspricht dem „Kriegsveteranenphänomen“: Es sind Personen, die es in ihren eigenen Augen irgendwie geschafft haben. Der erfolgreiche Unternehmer, Schuldirektor, Unternehmensberater, Journalist, Therapeut. Dann aber: Einige Autoren haben Berufe, die sie dazu zwangen, sich mit sich auseinanderzusetzen: Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen. Ein dritter – relativierender – Aspekt: Nicht alle empfinden sich als „traumatisiert“. Ergänzend möchte ich hinzufügen: Gesprochen habe ich mit traumatisierten Ex-Zöglingen, die keinesfalls im bürgerlichen Leben erfolgreich waren. Ein vierter Aspekt ist nicht weniger wichtig: Viele Ex-Zöglinge leben und arbeiten in der Nähe der Internate, sind brave Konservative und gläubige Kirchgänger. Die, die hier schreiben, haben sich meistens deutlich entfernt von ihrer Herkunft.

Was mich bei der Lektüre irritiert hat: Warum wenden sich manche Opfer bei ihrer Suche nach Hilfe ausgerechnet an die Kirchen?

Rolf Cantzen: Das hat mich auch sehr irritiert. Auf meine (wohl auch verletzend-ironischen) Nachfragen erklärten mir diese Autoren das damit, dass sie auch positive Erfahrungen gemacht hätten mit Kirche und Kirchenfunktionären. Das heißt: Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der Institution und dem Handeln einzelner, sondern individualisieren die Prügler und Vergewaltiger, sehen also keinen direkten Zusammenhang zwischen (katholischer) Institution und dem Handeln dieser Menschen. Ferner betonen sie, dass sie selbst noch gläubig seien, und – das ist ein weiterer Aspekt – dass ein Hass oder eine Wut auf die Institution der Täter sie zu sehr fixiert und ihnen Energien nimmt. Andererseits: Meine – um es vorsichtig zu sagen – ablehnende Haltung analysierten sie als unbewältigte Traumatisierung. Ich neige dazu, ihnen recht zu geben.

Ich danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.