System von Demut und Demütigung

(hpd) In der Debatte über Kinder, die in kirchlichen Erziehungsanstalten aufwuchsen, steht der sexuelle Missbrauch im Vordergrund. Ein soeben erschienener Sammelband zeigt, dass bereits der Alltag in solchen Einrichtungen tiefe Spuren bei den Kindern hinterließ. Rolf Cantzen hat darin ganz unterschiedliche Geschichten von Schülern, die in katholischen Internaten waren, zusammengestellt.

Die Geschichten gewähren Einblick in eine Welt, in der Gewalt, Willkür und Demütigung vorherrschten. Sie verstören und helfen gleichzeitig zu verstehen, warum die katholische Kirche bis heute nicht in der Lage ist, sich zu ihrer Verantwortung für die physische und psychische Misshandlung der Schüler zu bekennen. hpd sprach mit Herausgeber Rolf Cantzen.

Sie waren selbst einige Jahre im Internat...

Rolf Cantzen: Ja, sehr lange, ab 1965 bis zum Abitur. Es war ein Jungeninternat, betrieben von Herz-Jesu-Priestern in Handrup. Handrup ist ein kleines Dorf im Emsland. Das Internat mit angeschlossenem Gymnasium – die Schule existiert als kirchliche Privatschule noch heute – gehörte Mitte der 1960er-Jahre zu den billigsten in ganz Deutschland. Es hatte das erklärte Ziel, den Priesternachwuchs zu fördern. Die Beaufsichtigung der etwa 250 Schüler übernahmen die Ordenspriester, die in der Regel keinerlei pädagogische Ausbildung hatten und zu den Mitteln griffen, die sie kannten: Repression, Prügel, Strafen. Vieles änderte sich dann in den 1970er-Jahren.

Welche Einrichtungen haben die anderen Autoren besucht?

Rolf Cantzen: Quer durch die alte Bundesrepublik: Katholische Jungeninternate in Bonn, Euskirchen, Ettal, Meppen, Loburg, Vechta, betrieben von verschiedenen Orden, in der Zeit zwischen 1950 bis in die 1980er-Jahre hinein. Gemeinsam war allen Internaten eine Gewalt, die auch über das damals Übliche hinausging, in einigen Internaten gingen die Gewaltverhältnisse fließend über in sexuellen Missbrauch.

Wie lässt sich die Atmosphäre beschreiben, die in den katholischen Internaten Anfang der 1960er-Jahre vorherrschte?

Rolf Cantzen: Es war verregeltes Gemeinschaftsleben ohne Privatsphäre; ein Leben, das sich in Sälen und Gängen abspielte; ein Leben, in dem das schutzlose 10-, 11-, 12-jährige Kind der Willkür der aufsichtführenden Patres ausgesetzt war, der Willkür der zur Aufsicht eingesetzten älteren Schüler und nicht zuletzt der Willkür der Mitschüler; ein Leben, in dem das Beten und Gottesdienste etwa zwei Stunden täglich in Anspruch nahm; ein Leben, in dem man ständig Regeln verletzte, schuldig wurde und deshalb von Strafe und Prügeln bedroht wurde; ein kontrolliertes Leben mit wenig Freizeit und Freiraum; ein Leben, in dem es aber auch Freundschaft und Solidarität gab – einige Texte des Buches streifen auch diesen Aspekt.

Was waren die unmittelbaren psychischen Folgen für die Kinder?

Rolf Cantzen: Ganz unterschiedliche: Oft entstand bei ihnen das Gefühl, von zuhause abgeschoben zu sein, nichts wert zu sein, sich ständig beweisen zu müssen, jede Art scheinbarer Zuwendung annehmen zu müssen, was sie „benutzbar“ machte. Oft wurden die Gewalterfahrungen weitergegeben, oft zogen sich die Jungen innerlich zurück: Flucht in Tagträume, in die Welt von Abenteuerromanen. Oft dominierte das Bemühen, sich reibungslos in eine Gruppe einzupassen, Konflikte zu vermeiden. Die meisten versuchten, sie hart und unangreifbar zu machen, sich an Gefühle der Trauer, der Verlassenheit, des Alleinseins, der Angst nicht zu auszuliefern.

Und mit welchen langfristigen Folgen haben die ehemaligen Internatszöglinge zu kämpfen?

Rolf Cantzen: Das reicht von den kleinen eher lächerlichen Macken, die die Autoren im Internatsleben verursacht glauben, bis hin zur lebensbeeinträchtigenden psychischen Krankheit. Ein extrem missbrauchter Schüler aus „meinem“ Internat wurde nach mehreren Klinikaufenthalten und dauerhaften ambulanten traumatherapeutischen Behandlungen mit Mitte 40 Frührentner. Einige berichten von starken Situationskontrollbedürfnissen, von Bindungsproblemen, Angstzuständen, dem zwanghaften Drang, sich über beruflichen Erfolg Anerkennung und Bestätigung zu sichern und vieles andere mehr.

Folgen, die in den vorliegenden autobiografischen Texten nicht zur Sprache kommen, und die auch die Autoren nicht betreffen, sind die, dass die Opfer ihrerseits zu Tätern werden. Wenn man gründlicher zum sexuellen Missbrauch recherchiert, stößt man auf diese zerstörerische Kettenreaktion. Spätestens hier ist es für mich kaum noch auszuhalten, wenn Kirchenvertreter mit standardisierten Betroffenheitsbekundungen und 10.000 Euro Schadensersatz reagieren und suggerieren, bei den Tätern handele es sich um Einzelpersonen, deren Verhalten in keiner Weise mit der Institution und ihrer Ideologie in Zusammenhang stünde.

Die ehemaligen Internatsinsassen berichten von Denunziation, Mobbing und abstoßendsten Gewaltmaßnahmen, die sie selbst erdulden mussten oder bei Mitschülern miterlebten. Was davon war spezifisch katholisch und was jener Lebenssituation geschuldet, die einer der Autoren „gleichgeschlechtliche Zusammenrottung“ nennt?

Rolf Cantzen: Es gibt in Deutschland keine kritische pädagogische oder psychologische Internatsforschung, auf die ich mich beziehen könnte. Zum Zusammenhang zwischen dem „Katholischen“ und den repressiv-gewaltsamen Strukturen kann ich deshalb nur Vermutungen äußern. Hinweise finde ich in dem Zusammenhang von Demut als (christlicher) Tugend und Demütigung (als christlicher Leidenschaft): Demut wird von den Zöglingen verlangt: Gehorsam, Unterordnung, das Sich-Integrieren in die Gemeinschaft, die Rücknahme individueller Wünsche und Interessen, die Hinnahme von Kontrollen und Strafen. Wer diese Demut aktiv fordert und durchsetzt, demütigt und erniedrigt.

Verbunden bleibt diese Demut/Demütigung mit dem spirituellen Hintergrund: Es reicht nicht, sich formal oder äußerlich zu fügen, auf die innerliche, seelische „Sauberkeit“ kommt es an und die wird wiederum erzwungen: Wer sich nicht fügt, ist sündig und schuldig. Am Ende drohen ewige Höllenqualen. Kontrolle und Entlastung bietet die Beichte, oft bei den Patres, die für die eigene Überwachung zuständig waren. „Katholisch“ ist vielleicht auch die Rechtfertigung, dass der, der demütigt, sauber bleibt. Es geschieht alles, um die sündigen Jungen von allem Bösen zu befreien. Der Misshandler liebt sogar seine Jungen – in diesem Sinne argumentiert auch ein Pater, der sexuell missbraucht hat. Er kontrolliert seine Sündigkeit, lenkt sie in verzeihbare Bahnen, indem zum Beispiel der zuständige Pater das Onanieren begleitet und daran teilnimmt.

Die Schutzlosigkeit der Internatssituation liefert die Zöglinge in besonderer Weise aus und das nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Zu beachten ist auch: Die Zöglinge glaubten tatsächlich, an einen fürsorgenden Gott und auch daran, dass die prügelnden Patres diesen repräsentierten. Das Diktum „Geweihte Hände schlugen dich“ wurde schauerlich ernst genommen. Die Schuld des Geschlagenen wuchs damit.

Stefan Gruner, der in seinem Text von „gleichgeschlechtlicher Zusammenrottung“ spricht, zielt letztlich damit auf die Reproduktion bestimmter Vorstellungen von Männlichkeit. Diese „Männlichkeit“ bestätigt sich durch brutale Prügeleien und Gewalt, durch das Tabu, Emotionen zu zeigen, Empathie zu bekunden, Mitleid zu äußern. Auch das pubertäre gegenseitige Wichsen musste frei sein von Zuneigung und Sympathie, schon allein deshalb, weil die Jungen nicht schwul sein wollten. Schwulsein widersprach dem heterosexistischen Männlichkeitsideal. Stefan Gruner beschreibt, dass es deshalb nicht einmal zu wirklichen Freundschaften zwischen den Zöglingen kam. Was Freundschaften anbelangt, waren meine Erfahrungen andere, vor allem als wir älter wurden und die Rigidität des Internatslebens nachließ und Freiräume entstanden. Die emotionale Sprachlosigkeit kann ich allerdings bestätigen.

Mehrfach fällt der Begriff „schwarze Pädagogik“. Wie lässt sich deren katholische Variante beschreiben?

Rolf Cantzen: „Schwarz“ ist postkolonial konnotiert. Deshalb die Anführungszeichen – „schwarze Pädagogik“. Es war eine Pädagogik, die sich nicht mit angepasstem Verhalten zufrieden gab, die sich nicht damit zufrieden gab, den Willen der Zöglinge zu manipulieren, sondern aktive Teilnahme am eigenen Unterdrückungsprozess verlangte. Das spezifisch Katholische könnte man im Zusammenhang von Sünde, Kontrolle (der liebe Gott sieht alles), Strafe und Vergebung sehen. Wenn etwa beim Fußballspielen an nicht dafür vorgesehenen Orten eine Fensterscheibe zu Bruch ging, ging es nicht um eine nachvollziehbare Wiedergutmachung des Schadens, sondern um Strafe: Eine Ohrfeige – allerdings eine, die den Zögling gegen die Wand taumeln ließ. Danach galt die Angelegenheit als erledigt. „Katholisch“ war auch die Körper- und Sexualfeindlichkeit, die paradoxerweise auch dazu diente, sexuelle Übergriffe zu rechtfertigen: Es gibt sie nun einmal, die böse Sexualität, warum sie also nicht in die Hand eines Mannes Gottes legen, der sie gleichsam im Missbrauch und in der Gewalt exkulpiert.