Wut und Tränen im Hohen Haus

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Bayerischer Landtag / Foto: wikimedia commons

MÜNCHEN. (hpd) Sie ist eine gut aussehende zierliche Person mit attraktivem Kurzhaarschnitt, schwarzgeränderter Brille und modischem Auftritt. Unter den über 200 in den Bayerischen Landtag geladenen ehemaligen Heimkindern, die zwischen 1949 und 1975 in bayerischen Heimen leben mussten, ist ihre dunkle kräftige Stimme mehrfach herauszuhören und ihre Person auf den ersten Blick eine Ausnahmeerscheinung.

Alexa Whiteman ist inzwischen eine von den Medien wahrgenommene Kämpferin in eigener Sache,  die von ihrem dritten Lebenstag bis zum 18. Lebensjahr in fünf verschiedenen bayerischen Heimen ständigen Demütigungen, Schlägen und Vergewaltigungen ausgesetzt war. Und die seit einigen Jahren den Mut und die Kraft aufbringen muss, zu klagen und auf Entschädigung zu pochen. Am 28. Juni geht ihr Prozess gegen das Bistum Würzburg mit Hilfe ihres Rechtsanwaltes Sailer in die nächste Runde.

Schon bei etwas näherem Hinsehen zeigt sich jedoch eine 50jährige, der die Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend in bayerischen Heimen die Tränen in die Augen und die Stimme zum Zittern bringt. Irgendwie kann sie nicht mehr und weiß kaum wohin mit ihrer Verzweiflung. Und so wie ihr geht es vielen der teilweise sichtlich gezeichneten Menschen im schönen ehemaligen Senatssaal im Maximilianeum. Ja endlich, nach vielen Jahren, seit Einreichen der ersten Heimkinderpetitionen durch die Heimkinder selber, gibt es diese Anhörung vor dem sozialpolitischen Ausschuss des Bayerischen Parlaments unter der Schirmherrschaft der Landtagspräsidentin Barbara Stamm.

Ein Grund zur Freude für die Betroffenen? Die Stimmung im Saal ist bereits vor der Eröffnung der Anhörung durch die Vorsitzende des Sozialausschusses – Brigitte Meyer (FDP) – eher unruhig und gespannt. Das Podium mit den Vertretern der Parteien und Prof. Dr. Manfred Kappeler als Experten für Heimerziehung wird vorgestellt. Es folgen einige Worte zur jüngeren Geschichte mit Verweis auf den Runden Tisch, eine nach einer Bitte um Entschuldigung klingende Stellungnahme, dass die bayerische Landesregierung die Anzahl der ehemaligen Heimkinder zu früheren Zeitpunkten wohl nicht wirklich richtig einschätzte und schließlich der Verweis auf  die Bemühungen seitens der großen Politik, dieses Thema endlich richtig zu bearbeiten.

Erster Tumult kommt bereits auf, als die Vorsitzende Meyer zu erläutern versucht, warum – entgegen der ursprünglichen Planung – lediglich der erste und letzte Teil dieser Veranstaltung öffentlich ist. Die hohe Anzahl an Rückmeldungen von ehemaligen Heimkindern mit Wünschen nach Meinungsbeiträgen – man hätte parteiübergreifend festgelegt, dass man sich auf 80 Einzelschicksale stellvertretend für alle einigen müsse – ließen aus Zeitgründen eine andere Vorgehensweise nicht ratsam erscheinen. Seit dem Einreichen ihrer Petitionen haben die ehemaligen Heimkinder, die meisten von ihnen grau- bis weißhaarig, jahrelang auf diesen Tag gewartet. Nun ist ihre Enttäuschung groß. Die meisten von ihnen wollen, dass endlich die große Öffentlichkeit von ihrem Schicksal erfährt, die meisten wollen das Leid öffentlich schildern…und nun, welche Enttäuschung! Aus den hinteren Reihen wendet sich ein weißhaariger und leicht gebückt gehender Mann weinend in Richtung Ausgang. Auch Alexa Whiteman verlässt zum ersten Mal mit scheinbar unbewegter Miene den Saal.

Die Vorsitzende Meyer ist sehr bemüht, einen verständnisvollen sanften Ton in ihre Rede zu legen. Sie übergibt dann ziemlich zügig das Wort an Prof. Dr. Manfred Kappeler, Erzieher, Heimleiter, Psychotherapeut, emeritierter Professor für Sozialpädagogik und wohl der Experte schlechthin in Sachen Heimerziehung.

Hart wie Kruppstahl ...? – Arbeits- und Ordnungsgewöhnung als oberstes Ziel der Jugendfürsorge in deutschen Heimen nach dem 2. Weltkrieg

Der Professor sagt ein paar erläuternde Worte zu seiner Person. Dann beginnt sein Vortrag mit einem historischen Abriss seit der Gründung des Dachverbandes der Jugendfürsorge 1949. Was er im Folgenden in seinem über einstündigen Referat in Sachen Heimerziehung in der Bundesrepublik erläutert, lässt die Hörer und Hörerinnen im Saal angespannt und fassungslos lauschen. Wer selbst nicht in einem Heim erzogen wurde, hatte unter Umständen in der eigenen Familie auch jede Menge an Demütigungen, Misshandlungen und Schlägen auszuhalten.

Aber was in diesen Jahren 1949 bis 1975 in den „Handbüchern zur Heimerziehung“ an Erziehungsratschlägen, Vorgaben und Anweisungen ganz offiziell heraus gegeben wurde, war kaum zu glauben. Säuglinge, Kinder und Jugendliche wurden in den Heimen, auch in den bayerischen, die zu wohl über 70 Prozent in diesem Zeitraum in kirchlicher Trägerschaft waren, nach offiziellen Vorgaben der Heimerziehung in „Massenpflege“ abgefertigt, häufig unzureichend und schlecht ernährt, zur Zwangsarbeit herangezogen, an schulischer Bildung gehindert, der Gesundheitsfürsorge vorenthalten, Demütigungen, Schlägen und folterähnlichen Strafmethoden fortwährend ausgesetzt.

Professor Kappeler zeigte auf, dass hier nicht nur das Versagen einzelner Erzieher, Einrichtungen und der Behörden zu beklagen sei, sondern die offiziellen Erziehungsmaximen allen Heimkindern gegenüber, welche eine nach dem Niedergang des Deutschen Reichs erstarkende Mittelschicht mit ihren aus anderen politischen Zeiten herrührenden Moralvorstellungen durch die Pädagogen aus ihrer Mitte festschreiben konnten. In den Heimen landeten in großer Zahl nicht nur Waisen und Halbwaisen, sondern vielfach auch Kinder lediger Frauen, vielleicht gar nichteheliche Kinder von Besatzungssoldaten, die dort für die „Verfehlungen“ ihrer Mütter büßen mussten. Überwiegend waren in diesen Erziehungsanstalten Nonnen, Ordensbrüder und Pfarrer mit der Erziehung betraut, obwohl sie keinerlei berufliche Qualifikation dafür besaßen. Und deren Vorstellungen von Moral, Anstand und Sitte wohl so ziemlich alles möglich zu machen schienen.

Und obwohl der Professor einige Namen von Fachleuten auflisten konnte, die in all den Jahren auf die Missstände, falschen pädagogischen Ansätze und fürchterlichen Auswirkungen der Heimerziehung öffentlich hinwiesen, blieb das Thema ein Tabuthema und die Heimkinder diesen Missständen schutzlos ausgeliefert.

Die Auswirkungen sind entsprechend katastrophal: Viele der ehemaligen Heimkinder haben nur eine unzureichende oder gar keine Schulbildung, viele keinen Berufsabschluss, da sie in ihren Einrichtungen zu Lasten von schulischer und beruflicher Entwicklung zur Zwangsarbeit verdonnert worden sind. Mit ihren Arbeitsleistungen im Laufe der Jahre haben sie laut Kappeler sicherlich Werte in Milliardenhöhe erwirtschaftet, von denen sie selbst nicht profitieren können und für die ihnen Entschädigung zustehen muss.

Die Entschädigung für diese Zwangsarbeit ist bislang jedoch nicht gewährleistet, der Anspruch von gerade einmal 300 Euro pro Person aus dem hierfür bereit gestellten Fonds zunächst auf Bundesebene abgelehnt. Hier appelliert der Professor an Bayern bzw. an alle Länder, da die föderalistische Struktur unserer Republik abweichende Behandlung in dieser Sache gegenüber dem Bund ja zulasse. Man solle die Hoffnung nicht aufgeben.