Wut und Tränen im Hohen Haus

„Heimkind“

Aber nicht nur die wirtschaftlich überwiegend schlechte Stellung macht den ehemaligen Heimkindern zu schaffen. Der Name „Heimkind“ verfolgt die meisten ein Leben lang. Er wurde und wird in der breiten Öffentlichkeit noch immer verbunden mit Begriffen wie „arbeitsscheu“, „verwahrlost“, „schwer erziehbar“  und macht es den so Stigmatisierten schwer, in Gesellschaft, Familie und Beruf gut Tritt zu fassen.

Viele leiden sichtbar unter dem ihnen angetanen Unrecht, haben Schlafstörungen, Borderline, sonstige psychische Erkrankungen. Man hat ihnen ihre Kindheit, ihre Jugend, ja vielleicht ihr Leben geraubt. Mit Sicherheit wäre ein wirklich guter weiterer Schritt der Bayerischen Staatsregierung gewesen, allen Betroffenen, die sich gemeldet hatten, öffentlichen Raum für die Schilderungen ihres Leids zu geben, sie nicht hinter verschiedenen verschlossenen Türen auszusortieren und unter Ausschluss der Presse und der Öffentlichkeit erzählen zu lassen. Doch parteiübergreifend haben die Mitglieder des Sozialausschusses des Bayerischen Landtags dies abgelehnt. Ein Zeichen?

Weihnachten, Geburtstag und Faschingsdienstag – an drei Tagen im Jahr keine Prügel! Aber vielleicht verjährt …

In der Pause nach den Ausführungen von Professor Kappeler macht sich Alexa Whiteman neben vielen anderen Luft. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit soll es nach dem kleinen Imbiss im Steinernen Saal des Maximilianeums weitergehen? Nicht mit ihr, dann geht sie eben. Allerdings nicht ohne zu versuchen, im persönlichen Gespräch die Vorsitzende Meyer zum Umdenken zu bewegen. Doch Frau Meyer beruft sich auf den Parteienkonsens in dieser Sache, die logistischen Zwänge und … ja, sie selbst habe eine gute Kindheit gehabt.

Alexa Whitman zittert, schäumt und macht noch einen Versuch. Die Landtagspräsidentin und Schirmherrin Barbara Stamm erscheint in der Tür. Alexa erzählt ihr von ihrem Prozess, und dass das verantwortliche Bistum Würzburg in ihrem Fall auf Verjährung bestehen, also sich den offensichtlichen Missständen in den eigenen Einrichtungen mit formalen Gründen entziehen möchte. Keine Beschäftigung mit dem Leiden der ehemaligen Schutzbefohlenen, kein Bedauern, kein Versuch der Wiedergutmachung... ein Skandal! Frau Stamm ihrerseits wirkt nicht sehr entrüstet. Nein, das könne sie sich gerade im Bistum ihrer Heimat aber wirklich nicht vorstellen!

Alexa Whiteman hat die Schnauze voll und läuft zwischen den Stehtischen, dem Buffet und den Journalisten des Bayerischen Rundfunks und der Süddeutschen Zeitung hin und her. Die Einrede der Verjährung, auf die das Bistum in ihrem Fall pocht, ja, das ist das Ungeheuerlichste im juristischen Fall Whiteman, meint ihr engagierter Anwalt Sailer und schärft dies auch dem Journalisten der Süddeutschen ein. Leider ist auch der Rechtsanwalt im weiteren Verlauf nicht zugelassen, so dass er mit seiner Mandantin das Hohe Haus verlässt. Über dem großen Treppenhaus blickt ihm der gemarterte Jesus vom gut drei Meter großen spätgotischen Kruzifix herab teilnahmslos nach.

Gut zwei Stunden später meint drinnen im Senatssaal die ehemalige Erzieherin aus der Diözese Würzburg, Barbara Stamm, dass die Heimkinder weiterhin Thema im Sozialausschuss des Bayerischen Landtags bleiben und nicht mehr „weggesehen“ wird. Am 28. Juni wird das ehemalige Heimkind Alexa Whiteman im Prozess gegen das Bistum Würzburg ein weiteres Mal dieses „Hinsehen“ einklagen müssen.

Assunta Tammelleo