Das Kölner „Beschneidungs-Urteil“

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Sonnenaufgang Justizzentrum Köln / Foto: Landgericht Köln (Uwe Herzog)

KÖLN. (hpd) In einem Urteil hat das Kölner Landgericht entschieden, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen aus religiösen Gründen eine strafbare Körperverletzung darstellt und hat damit das vorherige Urteil des Amtsgerichts Köln aufgehoben. Erste Reaktionen zeigen einen erheblichen religiösen Widerstand.

Das Landgericht Köln urteilte:

„Dieser Eingriff sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche. Denn im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.“ [PM des LG Köln]

Damit verwarf das Landgericht ein vorheriges Urteil des Amtsgerichts Köln, das argumentiert hatte,

„dass der Eingriff aufgrund der wirksamen Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern gerechtfertigt gewesen sei. Die Entscheidung habe sich an dem Wohl des Kindes ausgerichtet, da die Zirkumzision als traditionelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit diene, womit auch einer Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt werde. Ferner dürfe nicht verkannt werden, dass die Zirkumzision auch im amerikanischen und angelsächsischen Raum aus hygienischen Gründen einen wichtigen Stellenwert einnehme.“

Damit folgte das Landgericht einer Argumentationslinie, die der Strafrechtler Dr. Holm Putzke (mittlerweile Professor für Strafrecht an der Universität Passau) und die beiden Mediziner Prof. Dr. Maximilian Stehr und Prof. Dr. Hans-Georg Dietz 2008 im Deutschen Ärzteblatt dargelegt hatten, und die sich unter Juristen und Medizinern seitdem mehr und mehr durchgesetzt hat. Allen, die sich an der Diskussion anlässlich des Urteils beteiligen, insbesondere aber jenen, die das Urteil kritisieren, ist die Lektüre dieses Artikels – der sich an Nichtjuristen wendet, daher auch für Laien verständlich und im Internet frei zugänglich ist – nahezulegen.

Natürlich wird darin auch auf die Einwände eingegangen, die anlässlich des Urteils jetzt wieder vorgebracht werden.

Zunächst wird festgestellt, dass es sich bei der Beschneidung tatsächlich um eine körperliche Misshandlung im Sinne des Strafrechts handelt:

„Eine körperliche Misshandlung nach § 223 Absatz 1 StGB liegt vor im Fall einer unangemessenen und üblen Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird. Die bei einer Zirkumzision vorzunehmende teilweise oder vollständige Entfernung der Vorhaut stellt einen nicht nur unerheblichen Substanzverlust dar, sie ist mithin eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit.“

Damit ist auch der Einwand entkräftet, eine Beschneidung „schade ja niemandem“. Putzke et al. erläutern:

„Der Schaden bei einer Zirkumzision liegt im irreversiblen Verlust von Körpersubstanz. Manche halten den Verlust der Vorhaut allerdings für unbedeutend, weil der Vorhaut keine Funktion zukomme. Eine solche Sicht ist nicht überzeugend, weil es sehr wohl Funktionen gibt, die die Vorhaut erfüllt. Fehlt sie, wird etwa die Eichel nicht mehr feucht gehalten, ist vielmehr ständig einer trockenen äußeren Umgebung ausgesetzt – weswegen die Empfindungsfähigkeit abnimmt.“

Zwar kann jeder für sich selbst entscheiden, ob er eine Beschneidung als Schaden empfindet – anlässlich der Schwere des Eingriffs kann er das aber nicht für andere tun. Juristisch gesehen stellt sich nicht die Frage, ob Beschneidungen Körperverletzung sind – dies ist, wie auch bei anderen medizinischen Eingriffen, unstrittig – vielmehr ist die Frage, ob der Eingriff dennoch berechtigt ist. Bei nicht einwilligungsfähigen Kindern werden als Begründung üblicherweise gesundheitliche Gründe, Tradition und das Elternrecht vorgebracht.

Hinsichtlich der gesundheitlichen Gründe kommen die Autoren – unter ausdrücklicher Berücksichtigung einer einschlägigen WHO-Studie (die sich auf erwachsene Männer in Afrika bezog) – zu dem Ergebnis:

„Ein derart begründeter Eingriff hat keinerlei signifikante Vorteile, entspricht also auch nicht dem Kindeswohl, weshalb die Personensorgeberechtigten nicht dispositionsbefugt sind, eine Einwilligung also unwirksam ist und nicht rechtfertigend wirkt.
Zur Rechtfertigung der Zirkumzision wird als Vorteil gern die Hygiene genannt. Regelmäßige Körperpflege ist allerdings ein wesentlich milderes Mittel als eine Zirkumzision. Kann ein Eingriff vermieden werden, wenn der mit ihm bezweckte Erfolg auch anderweitig, mit weniger intensiven Maßnahmen erreicht werden kann, dann liegt der intensivere Eingriff nicht im Kindeswohl.“

Hinsichtlich des Traditionsarguments stellen Putzke et al. ausdrücklich fest:

„Die Beschneidung ist als Identifikationsmittel ausgesprochen wichtig. Es ist unbestreitbar, dass der Verzicht auf ein Identifikationsmittel weitreichende Folgen haben kann, es in der Regel sogar stigmatisierend ist, in den die Beschneidung praktizierenden Sozialgemeinschaften nicht beschnitten zu sein.“

Dem halten sie allerdings entgegen:

„Dieser Umstand allein vermag religiöse Beschneidungen indes nicht zu rechtfertigen. Denn eine Rechtsfrage lässt sich nicht lösen, indem man das Problem auf eine rechtsfreie Ebene verschiebt. Genau das würde aber geschehen, ließe man eine Handlung allein deshalb zu, weil sie eine Tradition darstellt. Das Milieu eines Kindes darf erst recht nicht zum alleinigen Maßstab gemacht werden, wenn es um die Abwehr von Gefahren für das Kind geht, denn sonst hinge es von den Einstellungen und Präferenzen der Gemeinschaft ab, ob minderjährigen Mitgliedern Körperschäden zugefügt werden dürfen. Das gilt in noch stärkerem Maß, wenn sich das Milieu bei Beachtung des Verbots automatisch änderte. Denn je mehr Jungen nicht beschnitten werden, umso weniger wird dieser Zustand Anlass für Stigmatisierung sein.“

Bei der Abwägung sei auch die UN-Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen:

„Welches Gewicht der Beschneidung als Identifikationsmittel zukommt, dafür ergeben sich in gesetzessystematischer Hinsicht Anhaltspunkte aus § 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention). Danach haben die Vertragstaaten „alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen (zu treffen), um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“. Die religiöse Beschneidung ist ein solcher Brauch.“

Somit ergibt sich für den Begründungsversuch mit dem Elternrecht:

„Es gibt also keine zwingenden Argumente, womit sich eine religiöse Beschneidung Minderjähriger begründen lässt. Bestehen bleiben allein die Nachteile (zu sehen vor allem im irreversiblen Verlust der Vorhaut), weshalb die religiöse Beschneidung nicht im Wohl des Kindes liegt, den Personensorgeberechtigten für die Einwilligung die Dispositionsbefugnis fehlt und damit der operative Eingriff eine rechtswidrige Körperverletzung darstellt.“

Natürlich ist es das gute Recht von Muslimen, Juden und Verfechtern einer weitreichenden Religionsfreiheit, das Urteil des Gerichts zu kritisieren. Allerdings sollte man dann nicht einfach nur die oben bereits entkräfteten Einwendungen (Tradition, Gesundheit, Elternrecht, kein „Schaden“) wiederholen, sondern konkret zeigen, wo die obige Argumentation fehlerhaft ist.

Leider ist nicht zu erwarten, dass dies geschieht. So nannte der Zentralrat der Juden in Deutschland das Urteil einen „beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“. Präsident Dr. Dieter Graumann sprach von einem unerhörten und unsensiblen Akt: „Die Beschneidung von neugeborenen Jungen ist fester Bestandteil der jüdischen Religion und wird seit Jahrtausenden weltweit praktiziert. In jedem Land der Welt wird dieses religiöse Recht respektiert.“ [PM des ZdJ].

Der Zentralrat fordert den Deutschen Bundestag auf, Rechtssicherheit zu schaffen – gemeint ist: klarzustellen, dass die Beschneidung aus religiösen Gründen straffrei gestellt wird.

Dazu wäre wohl eine Ausnahmeregelung erforderlich, ähnlich der im Tierschutzgesetz zugunsten des Schächtens ohne Betäubung aus religiösen Gründen. In diesem Falle müsste allerdings eine Ausnahmeregelung für den Straftatbestand der Körperverletzung etabliert werden, zu Lasten von Kindern, die sich nicht wehren können. Und die Bundesregierung müsste sich gegen die UN-Konvention für Kinderrechte (s.o.) stellen.

Umgekehrt dürfte konservativen Muslimen und Juden sehr daran gelegen sein, dass das Kölner Urteil nicht Schule macht. Die jüdische Anti-Defamation League (ADL) aus den USA hat sich Graumanns Forderung bereits angeschlossen. Das Urteil bürde Juden und Muslimen eine unerträgliche Last bei ihrer freien Religionsausübung auf. Dabei wird ADL-Direktor Abraham H. Foxman noch deutlicher als Dr. Graumann: Er spricht im Zusammenhang mit den Forderungen des deutschen Zentralrats nämlich von einem Gesetz, das speziell dazu dienen soll, die Beschneidung als religiöse Praxis zu schützen. Ein Verbot der Beschneidung käme einem vernichtenden Schlag gegen die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gleich. Obwohl das Urteil anscheinend nicht antisemitisch gemeint sei, sende es effektiv doch das Signal, Juden seien nicht willkommen. [PM der Anti-Defamation League]

In der internationalen Berichterstattung zeigt sich, dass der Umstand, dass es bei dem Urteil um eine muslimische Beschneidung ging, z.T. unterschlagen wird, während Graumann zitiert wird. (Z.B. bei der BBC) Die Agentur AP meldete sogar zunächst:

German court: Circumcision on Jewish boys assault.
BERLIN (AP) — A German court has ruled that circumcising young Jewish boys amounts to bodily harm even if parents consent to the procedure.”

Es ist zwar nicht falsch, dass das Urteil auch jüdische Beschneidungen verbietet. Aber diese Darstellung erweckt den Eindruck, als ginge es speziell um die jüdische Beschneidung, was dem Urteil nicht gerecht wird.

Die AP hat den Text und Schlagzeile mittlerweile dahingehend geändert, dass das Wort „Jewish“ entfernt wurde. (In der URL ist es allerdings immer noch zu sehen.) Dass das Urteil sich auf eine muslimische Beschneidung bezieht, wird allerdings immer noch nicht gesagt.

Man darf also gespannt sein, wie die internationalen Reaktionen ausfallen.

Matthias Krause