Grundrechte-Report 2024

"Grundrechte sind in hohem Maße gefährdet"

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Das Grundgesetz ist soeben 75 Jahre alt geworden. Doch der aktuelle Grundrechte-Report 2024 zeigt, dass die Praxis den hehren Zielen hinterherhinkt. So sehr, dass Gerhart Baum (91), der immer noch unermüdliche Kämpfer für die Menschen- und Bürgerrechte, höchst besorgt ist.

Schon seit Wochen wird der 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert. Meist mit lobenden Worten. Durchaus zu Recht. Doch die Verfassung allein ist kein Garant dafür, dass die dort niedergeschriebenen Werte und Regeln auch in der Praxis eingehalten werden. Das zeigt einmal mehr der Grundrechte-Report 2024, der genau einen Tag vor dem Jubiläum des Grundgesetzes erschien. Vorgestellt unter anderem von Gerhart Baum. Der 91-jährige FDP-Politiker, ehemaliger Bundesinnenminister und streitlustiger Kämpfer für die Bürgerrechte, sagt, der Report komme gerade rechtzeitig, um angesichts der Jubiläumsfeiern etwas Wasser in den Wein zu gießen.

Cover des Grundrechte-Report 2024
Cover des Grundrechte-Reports 2024

Natürlich sei es ein gelungenes Grundgesetz. "Doch die Grundrechte sind heute in hohem Maße gefährdet", warnt der in Köln lebende Rechtsanwalt. "Wir erleben ein Einsickern der Rechten in die Gesellschaft und ihre Institutionen – nicht nur durch die AfD und ihre Vorfeldorgansiationen, sondern auch durch eine Strömung, die zu einer Verrohung des Bürgertums geführt hat." Es gebe ein ganze Anzahl von Menschen, die eine Neonazi-Partei wählen, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Es gehe im Kern um die "rassistisch-ethnisch begründete Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile". Baum spricht von "völkischer und überheblicher Arroganz". Nicht nur in Deutschland, auch international sei das Weltgrundrecht auf Menschenwürde in Gefahr. "Wir sind in einem gefährlichen Moment der Menschheitsgeschichte, und unsere Grundrechtsordnung ist Gefährdungen ausgesetzt, wie ich sie noch nie in meinem Leben erlebt habe", mahnt Baum. Da sei es wichtig, dass der Grundrechte-Report sich die einzelnen Themen aus kritischer Perspektive vornehme.

Dieser erscheint seit 1997 jährlich. Er wird von zehn zivilgesellschaftlichen Organisationen herausgegeben: Humanistische Union, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Internationale Liga für Menschenrechte, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Neue Richtervereinigung, Pro Asyl, Republikanischer Anwältinnen-und Anwälteverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, Gesellschaft für Freiheitsrechte.

In mehr als 40 Beiträgen thematisiert der Bericht Verletzungen und Gefährdungen der Grundrechte. Die 28. Ausgabe des Reports widmet sich insbesondere den Bereichen Migration und Asyl sowie den staatlichen Beschränkungen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Auch Fälle von Diskriminierung und Überwachung sowie Themen rund um die Klimakrise werden beleuchtet. Es geht um selbstbestimmtes Sterben und assistierten Suizid. Mit Blick auf anstehende bedeutsame Landtagswahlen wird der Rechtsextremismus der AfD aufgegriffen. Es geht um Fragen der geschlechtlichen Selbstbestimmung, um das Recht auf Wohnen oder die Überwachung am Arbeitsplatz.

Zu eben diesem Thema hatten die Macher des Grundrechte-Reports zu dessen Präsentation Hedi Tounsi geladen. Er ist Betriebsrat beim Versandriesen Amazon. Tounsi berichtete über ein Verfahren seines Arbeitgebers, das auch in einem eigenen Kapitel des Grundrechte-Reports aufgegriffen wird. Dass nämlich die Beschäftigten Handscanner benutzen müssen, mit denen sie alle ihre Arbeitsschritte dokumentieren. "Mitarbeitende im Wareneingang erfassen, dass sie eine Ware in einem Regalfach eingelagert haben. In der Kommissionierung wird erfasst, dass eine Ware aus einem Regalfach entnommen und in eine Box auf einem Transportband gelegt wurde. Im Warenausgang erfassen die Mitarbeitenden, dass sie Waren von einem Transportband genommen und in ein Paket verpackt haben. Die erhobenen Daten werden minutengenau ausgewertet und gespeichert – und zwar personalisiert." Und all das sei auch noch verwaltungsgerichtlich abgesegnet worden.

Eine andere Perspektive brachte Stefanie Tiepelmann-Halm bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports ein. Sie arbeitet als Geschäftsführerin des Vereins Schrankenlos, der im thüringischen Nordhausen Beratung für Asylsuchende anbietet. Sie schilderte, wie sich die Situation für Flüchtlinge in der Stadt verschärft habe. "Immer wieder werden sie im Supermarkt oder auf der Straße beschimpft und beleidigt. An den Hauswänden stehen Schmierereien wie 'Deutsche, wehrt Euch'."

Baum zeigte zwar Verständnis für politische Bemühungen gegen ungeregelte Zuwanderung – angesichts des Drucks, unter dem die Kommunen allein durch Aufnahme von mehr als einer Million Geflüchteten aus der Ukraine stehen. Doch das rechtfertige nicht die Art, wie die asylrechtliche Diskussion derzeit laufe. Insbesondere bei der CDU gehe es gar nicht mehr um Schutz, sondern nur noch um Abwehr. Dabei sei doch der Menschenrechtskern des Asylrechts, politisch Verfolgte vor Tod und Folter zu retten. Dieser Kern sei kaum noch sichtbar, vorherrschend sei der Abwehrgedanke. Besonders absurd sei die Vorstellung, Asylverfahren in Ruanda oder anderen vermeintlich sicheren Drittstaaten durchzuführen.

Grundrechte-Report 2024, Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2024, 256 Seiten, 14 Euro. ISBN: 978-3-596-71084-3

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