Die Kleinstadt Somerville in Massachusetts hat im Zuge einer Formulierungsfrage Geschichte geschrieben: Sie brach mit dem monogamen Beziehungsschema und weitete offiziell anerkennbare Lebensgemeinschaften auf solche aus, die aus mehr als zwei Partner*innen bestehen. Auslöser dafür war die Corona-Krise.
Besonders bedeutend ist die in der Nähe von Boston an der Ostküste gelegene Kleinstadt Somerville im US-Bundesstaat Massachusetts nicht. Eine Entscheidung ihres Stadtrates hat sie jetzt aber in die New York Times gebracht: Als erste Stadt der USA erkennt Somerville polyamore Beziehungen offiziell an. Die zwölf Bürgervertreter votierten einstimmig dafür, dass künftig auch nichteheliche Lebensgemeinschaften von drei oder mehr erwachsenen Personen eingetragen werden können. Damit stehen den Partner*innen die gleichen Rechte zu wie Ehepartnern in einer traditionellen monogamen Gemeinschaft: Das Besuchsrecht im Krankenhaus etwa oder die Möglichkeit der gemeinsamen Krankenversicherung, die vom Arbeitgeber geleistet wird.
Bis letzten Monat hatte es in Somerville gar keine rechtliche Grundlage für uneheliche Partner*innen gegeben. Der Handlungsbedarf ergab sich durch die Corona-Pandemie, als Lebenspartner keinen Zugang zur Krankenversicherung des anderen bekamen, weil sie nicht verheiratet waren. Bei der Formulierung einer entsprechenden Verordnung gab Stadtrat J. T. Scott zu bedenken, man würde polyamore Gemeinschaften ausschließen, wenn man Beziehungen als "eine Entität gebildet aus zwei Personen" definiere. So kam es, dass Somerville die landesweit erste derartige Verordnung erließ, die das konservative Beziehungsschema ausweitet.
Dabei muss es sich nicht zwingend um Liebesbeziehungen handeln; es geht vielmehr darum, dass einander verbundene Menschen zusammen eine verbindliche Gemeinschaft bilden können, um von Vorteilen für ein gemeinsames Leben profitieren zu können, die bislang nur Ehepartnern vorbehalten waren. "Die Menschen haben schon immer in Familien mit mehr als zwei Erwachsenen gelebt", meint J. T. Scott; er allein kenne mindestens zwei Dutzend polyamore Haushalte in seiner Stadt. Sein Stadtratskollege Lance Davis findet, es stehe der Regierung nicht zu, den Leuten vorzuschreiben, was eine Familie ist und was nicht. Ob die privaten Arbeitgeber der Verordnung bei der Krankenversicherung folgen, bleibt abzuwarten. Für städtische Angestellte gilt sie jedenfalls. Entscheidend sei aber, so Davis, dass die Stadt das Leben ihrer Bürger juristisch anerkenne und bestätige.
Wie die revolutionäre Verordnung jenseits der Stadtgrenzen aufgenommen wird, bleibt abzuwarten – vor allem von Konservativen, die ständig die traditionelle Familie bedroht sehen. Scott berichtete der New York Times, er sei schon von Nachrichten und Anrufen überrollt worden. Darunter seien auch Juristen gewesen, die Interesse gezeigt hätten, eine ähnliche Regelung auf Bundesstaatsebene oder gar landesweit anzustreben.
12 Kommentare
Kommentare
Junius am Permanenter Link
Euch ist schon klar, daß das die Legalisierung der islamische Vielehe, nicht gerade eine Beispiel für die Gleichberechtigung der Geschlechter, durch die Hintertür ist?
Martin am Permanenter Link
Sollte man aber. Polyamouröse Beziehungen gab es schon immer. Staat und Gesellschaft sollten das anerkennen.
Atheist Steinbrenner am Permanenter Link
Es war also der Beschluss, so wie ich es herauslese, ein Hack um Menschen die keine Versicherung hatten bei städtischen Mitarbeitern mitzuversichern.
Dies zeigt meiner Meinung nach weniger auf, dass man in der Stadt sehr liberal ist, sondern vielmehr dass man einen Weg suchte Menschen im Umfeld städtischer Mitarbeiter nicht ohne Gesundheitsversorgung im Regen stehen zu lassen, weil diese möglicherweise wegen Corona Shutdown ihren Job verloren haben. Das ist zwar ein feiner Zug, vertuscht aber das zugrundlegende Problem eines Gesundheitssystems an dem nicht alle partizipieren.
Stefan Höfer am Permanenter Link
Weshalb eine Beziehung stets aus zwei Menschen zu bestehen habe, ist mir schleierhaft.
Sicher ist, daß eine monogame Beziehung weder ein Naturgesetz noch eine soziologische Notwendigkeit darstellt, geschweige denn eine höhere Sittlichkeit für sich beanspruchen kann. (Wie sollte sie?) Im Gegenteil! Der Homo sapiens ist in hohem Grade ein polygamer Säuger, dem die oktroyierte brüchige Doppelmoral seitens neurotischer Obskuranten arg zu schaffen macht.
Die Familie sei die "Keimzelle des Staates" heißt es geschwollen landauf, landab. Allein was heißt "Familie"? Ein und das andere Mal bemühen konservative Politiker die Stabilität einer Zweierbeziehung (ohne Kinder). Abgesehen davon, daß es mit der vielbeschworenen Stabilität nicht weit her sein kann, wenn man sich beispielsweise die hohen Scheidungsraten in allen freien Ländern dieser Erde vergegenwärtigt: Trennungen von Paaren sind der Normalfall, nicht die Ausnahme! Sie gehören zur Conditio humana wie die Geschlechtlichkeit des Menschen. Und sie sind - per se - auch nichts Schlechtes! Weder Schmach noch Schande! Gar "Sünde"! (Es würde den Rahmen dieses Leserbriefes sprengen, näher darauf einzugehen. Ein halbwegs intelligenter, nicht von Kindesbeinen an christlich indoktrinierter Hominide sollte es fassen können.)
Der langen Rede kurzer Sinn: Müssen polygame Beziehungen naturgemäß weniger "stabil" sein als konventionelle eineheliche Beziehungen, die der Staat und hiesige Kirchen (letzteren sollte man den Stinkefinger zeigen) geradezu mantrahaft beschwören? Wie viele unabhängige sprich seriöse Untersuchungen gibt es hierzu? Was sind deren Resultate?
Wie dem auch sei: Damit der "moderne Rechtsstaat" nicht nur auf dem Papier steht, müssen seine Staatsbürger mündig sein, erkennen, daß ein solcherart Gemeinwesen ebenso der inneren Freiheit wie der sozialen Sicherheit verpflichtet ist. Der Staat hat dem Streben nach Glück von Individuen zu dienen, nicht dem reaktionären Weltbild religiöser Gruppierungen oder bigotter Potentaten. Nennen sie sich Trump, Erdogan, Putin oder Wojtyla (mittlerweile verblichen). Kurzum: "Stabilität" ist nicht alles!
Es wird Zeit, erwachsen zu werden.
David Z am Permanenter Link
Orthodoxe Muslime und Mormonen werden sich freuen. Ich finde, Somerville hätte die Idee des "Harem" auch gleich noch mit einbauen können.
Mir scheint, hier liegt mal wieder ein gesinnungsethischer Schnellschuss vor, ohne die Konsequenzen abzuwägen - geopfert dem Gott der Gleichheit, der Willkür und der Auflösung.
Ich finde, aus humanistischer Sicht gibts hier nichts zu bejubeln. Im Gegenteil.
Dass Mormonengruppen in Massachusetts nicht unwesentlich vertreten sind und deren fundamentalistische Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, die die Mehrrehe mindestens beführwortet wenn nicht sogar immer noch praktiziert, im nahen Boston einen ihrer Hauptempel hat, ist natürlich reiner Zufall.
Martin am Permanenter Link
Religiöse Gruppen, die die Polygynie praktizieren, werden sich bestätigt fühlen, aber deren Verhalten wird sich nun nicht ändern. Ein sowieso bestehender Zustand erhält einen rechtlichen Rahmen.
David Z am Permanenter Link
Jeder soll so leben, wie er es für richtig hält - solange er damit keinem schadet.
Thomas R. am Permanenter Link
Warum "muß" sich ein Staat ÜBERHAUPT in die Beziehungsangelegenheiten seiner BürgerInnen einmischen?
Leon Paysan am Permanenter Link
Lieber Thomas R., wir waren in anderen Kontexten sehr unterschiedlicher Meinung, hier jedoch finde ich Ihren Einwand ganz berechtigt. :-)
Martin am Permanenter Link
Das ist leider im Rahmen des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssytems kaum vermeidbar, ohne die Situation für viele Menschen zu verschlechtern.
Thomas R. am Permanenter Link
Es gibt doch auch die Möglichkeit privatvertraglicher Regelungen. Was ich ablehne, ist nur die staatliche Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Formen der Partnerschaft gegenüber anderen.
Leon Paysan am Permanenter Link
Ich lebe in einer schwul-polyamoren V-Konstellation, habe einen eingetragenen Lebenspartner und einen festen Freund.
Wenn Muslime aus einem fragwürdigen patriarchalen Weltbild heraus Vielehen eingehen möchten, ist das kein Grund jenen, die dies aus vernünftigen, nachvollziehbaren Gründen tun möchten, die Vielehe zu verweigern.