Vierzig Generationen verlorener Jahre

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Detail aus der Reichskrone: Christus von zwei Engeln umrahmt (Me Reges Regnant) /Foto: wikimedia commons.

EUROPA. (hpd) Warum bricht die Geschichte wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen am Ende des 4. Jahrhunderts ab? Warum findet sie in Zentraleuropa erst wieder ab dem 16. Jahrhundert ihre Fortsetzung? Was sind die Ursachen für mehr als tausend Jahre wissenschaftlicher Enthaltsamkeit?

Physiker und Astronomen stoßen immer dann auf diesen historischen Sachverhalt, wenn sie in allgemeinverständlichen Publikationen und Vorträgen versuchen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in einem historischen Zusammenhang zu präsentieren. Eine plausible Erklärung findet sich in der Wissenschafts- und Bildungs­feindlichkeit des christlichen Mittelalters, wie sie von Rolf Bergmeier in seinem Buch „Schatten über Europa(1) vertreten wird.

 

von Reinhold Schlotz

 

Das Jahr 2012 hat die Aussicht, für Teilchenphysik, Astronomie und Kosmologie ein hoch­interessantes Jahr zu werden. So die Natur es zulässt, könnte das Higgs-Boson am LHC-Beschleu­niger bei Genf gefunden werden. Die Masse von 125.3+0.6 GeV/c2 eines vor kurzem sowohl am ATLAS- als auch am CMS-Detektor des CERN entdeckten neuen Elementar­teilchens passt zu den theoretischen Vorher­­sagen für das Higgs-Boson. Zur endgültigen Identifizierung sind weitere Messungen notwendig. Die Identifizierung des neu entdeckten Teilchens als das gesuchte Higgs-Boson wäre ein weiterer großartiger Triumph der theo­retischen Physik und des menschlichen Verstandes im Allgemeinen.

Der ESA-Satellit Planck misst - 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt -, vom Lagrange-Punkt L2 aus, die kosmische Hinter­grund­strahlung in neun Wellen­längen­bereichen der elektro­magnetischen Strahlung, vom Bereich der Radiowellen bis in den Bereich des fernen Infrarot, mit einer bisher unerreichten Präzision. Vielleicht lassen sich aus diesen Daten Rück­schlüsse darauf ziehen, welches Modell der Quanten­­gravitation die größte Chance hat, einen Ausschnitt der physikalischen Wirklichkeit unserer Welt richtig zu beschreiben.

Angefangen hat die Geschichte dieses Triumphzuges menschlichen Geistes vor 2.500 Jahren. Viele Physiker und Astronomen (vermutlich die überwiegende Mehrheit) beginnen einen populär­wissen­schaft­lichen Vortrag über die Experimente am LHC, oder über die moderne Astronomische Forschung, mit den Philosophen der griechischen Antike.

Demokrit (460 – 371 v. u. Z.) und sein Lehrer Leukipp begründeten den Atomismus schon fast 500 Jahre v. u. Z. mit ihrer Vorstellung von der kleinsten, unteilbaren Einheit einer Substanz. Von Epikur und weiteren nach­folgenden Philosophen, wurde diese Idee weit­gehend übernommen. Man kann dies durchaus als den Beginn des Weges verstehen, der heute bis zum LHC geführt hat. Der griechische Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos (310 – 230 v. u. Z.) erkannte schon im 3. Jahrhundert v. u. Z. die Sonne als den bei weitem größten Himmels­körper in unserem Sonnen­system und entwickelte bereits ein helio­­zentrisches Weltbild, das aber erst 2.000 Jahre später empirisch seine Bestätigung fand.

Sowohl dem populär­­wissen­­schaft­lichen Vortrag über Teilchen­physik als auch dem mit astronomischem Inhalt wird ab hier eine Zäsur aufgezwungen, die von den meisten Dozenten kaum bewusst wahrgenommen wird. Wissenschaftliche und technische Forschung bricht hier scheinbar abrupt ab und die Fortsetzung der Wissen­schafts­geschichte findet erst wieder im 16./17. Jahrhundert statt: Atomismus, Teilchen­physik und Chemie mit der Entwicklung des Perioden­systems der chemischen Elemente, der Entdeckung der Elementarteilchen Elektron, Proton, Neutron bis zum Standardmodell der Teilchenphysik mit Quarks, Neutrinos und diversen Aus­tausch­­bosonen. Die Astronomie findet ihre Fortsetzung erst wieder in der sogenannten „Kopernikanischen Wende“, als Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) das helio­zentrische Welt­bild des Aristarch von Samos wieder­entdeckte. Die Erfindung des Fernrohrs, Johannes Kepler, Galileo Galilei, Isaac Newton markieren den weiteren natur­wissenschaft­lichen Fortschritt.

Was ist hier geschehen? Warum bricht der wissenschaftliche Fortschritt in den ersten Jahrhunderten n. u. Z. vollständig zusammen? Warum findet die wissenschaftliche und technologische Blütezeit der Antike im europäischen Mittelalter keine Fortsetzung?

Griechisch-Römische Antike: Tausend Jahre kulturelle Vielfalt

Die Anfänge des abendländischen wissenschaftlichen Denkens lassen sich bis Thales von Milet (624 - 546 v. u. Z.) zurückverfolgen. Die ersten philosophischen Schulen entwickelten sich in Platons Akademie bei Athen, im aristotelischen Peripatos, der von Zenon gegründeten Stoa, im Kepos des Epikur eine Blütezeit des menschlichen Geistes. Im Römischen Imperium wurde diese Tradition übernommen und fortgesetzt. Der der Philosophie Epikurs nahestehende römische Philosoph Lukrez (97 – 55 v. u. Z.) sowie der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel (121 – 180 n. u. Z.) als Vertreter der Stoa seien hier beispielhaft erwähnt.

Ausgeklügelte Wasser­­versorgungs­­systeme und zentrale Heizungs­­anlagen in öffentlichen Bädern zeugen nicht nur von einer hoch entwickelten römischen Ingenieurs­­kunst, sondern auch davon, dass der Wellness-Gedanke seine Anhänger schon in der antiken Gesellschaft hatte.

Das römische Imperium umfasste in seiner Blütezeit ein riesiges Territorium, dessen Verwaltung auf gebildetes Personal zur Aufrecht­erhaltung des Öffentlichen Dienstes und der Gerichts­barkeit (Römisches Recht) angewiesen war.

Römische Provinzen zur Zeit des Trajan (117 n. u. Z.) / Karte wikimedia commons

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass alle größeren Städte des römischen Imperiums über öffentliche Schulen verfügten, organisiert in einem dreigliedrigen Schulsystem (3): Die erste Stufe vermittelte Kindern ab dem 7. Lebensjahr elementare Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. In der höheren Stufe wurden Grammatik und Literatur­kenntnisse über sowohl griechische (z. B. Homer, Euripides) als auch lateinische Autoren (z. B. Vergil, Cicero) gelehrt. In der dritten Stufe bekamen Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr Unterricht u. a. in Rhetorik, Argumen­­tations­lehre und Logik. Der Unterricht fand in lateinischer und auch in griechischer Sprache statt. Tatsächlich waren im römischen Imperium mehr als 50 % der Bevölkerung des Lesens und des Schreibens mächtig. Noch im Jahre 360 n. u. Z. konstatierte Kaiser Constantius II.: „Bildung ist die höchste aller Tugenden“ (4).

So ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass sich die antike Gesell­schaft auch in öffent­lichen Bibliotheken der Weiter­bildung widmen konnte. Das antike Rom hatte 28 öffentliche Bibliotheken mit hundert­tausenden von Schrift­rollen (5). Die Bibliothek von Alexandria umfasste bis ins 4. Jahrhundert hinein einen Literatur­bestand von mehr als 500.000 Titeln. Die Bibliothek von Konstantinopel verzeichnete im Jahre 356 einen Bestand von 120.000 Schriftrollen. Edward Parson (6) schätzt für das Jahr 350 n. u. Z. den gesamten Buch­bestand im römischen Imperium zu 1 Million griechisch­sprachiger Titel und mehrerer Millionen lateinisch­sprachiger Titel. Hinzu kommen mit einiger Wahr­schein­lichkeit mehrere Kopien für die meisten Titel, so dass von einer Gesamtzahl von Schriften im zwei­stelligen Millionen­bereich ausgegangen werden muss (6). All dies weist auf ein hohes Niveau der antiken Kultur im Bildungs­bereich hin. Nur auf diesem hohen Niveau ist eine derartige Leistung z. B. im naturwissenschaftlich-technischen Bereich überhaupt vorstellbar.

Pythagoras, Euklid, Archimedes, Eratosthenes, …

Der philosophisch-wissenschaftlich-technische Output der Antike ist beeindruckend: Der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras (570 – 510 v. u. Z.) entwickelte den bekannten Lehrsatz über das rechtwinklige Dreieck, den „Satz des Pythagoras“. Der griechische Mathematiker Euklid (360 – 280 v. u. Z.) entwickelte die Arithmetik und die (euklidische) Geometrie. Archimedes (287 – 212 v. u. Z.) berechnete erstmalig die Kreiszahl, formulierte die Hebel­gesetze und schuf damit die Grundlagen für die spätere Mechanik. Er entdeckte das Prinzip des Auftriebs (Archimedisches Prinzip), erwähnte als Erster das Spezifische Gewicht, erfand die „Archimedische Schraube“ und verwies auf das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos. Der griechische Mathematiker und Astronom Eratosthenes (276 – 194 v. u. Z.) berechnete den Umfang der Erdkugel schon mit erstaunlicher Genauigkeit. Die Kugel­gestalt der Erde war den Griechen schon lange vorher bekannt. Der griechische Astronom und Mathematiker Hipparchos (190 – 120 v. u. Z.) verfeinerte astronomische Beobachtungs­methoden und errechnete die Präzession der Erdachse.

BeispielbildMechanismus von Antikythera /

Grafik: wikimedia (Mark Roebuck)Das Räderwerk von Antikythera aus dem Jahre 80 v. u. Z. ist ein astronomisches Gerät, dessen ausgefeilte Technik die heutige Wissenschaft in Erstaunen versetzt. Der Astronom und Mathematiker Claudius Ptolemäus (100 – 180 n. u. Z.) war Bibliothekar an der berühmten Bibliothek von Alexandria. Er schrieb den Almagest, ein Standardwerk der antiken Astronomie. Sein geozentrisches (ptolemäisches) Weltbild mit der Erde als Mittel­punkt des Universums, sollte noch bis zur „Kopernikanischen Wende“ im 16. Jahrhundert die aus ideologischen Gründen einzige von den Obrig­keiten zugelassene Weltsicht bestimmen. Noch zweihundert weitere Jahre war das Imperium offen für freigeistige Aktivitäten und wissenschaftliche Forschung. Am Ende des 4. Jahrhunderts kam dann die Zeitenwende.

Der Niedergang des römischen Imperiums

Das Ende der Freiheit der Wissenschaften geht mit dem Untergang des römischen Reiches einher. Aber warum verschwindet das abend­ländische wissenschaft­liche Denken, nur weil sich die politischen Macht­verhältnisse ändern? Können die neuen politischen Macht­haber nicht mehr davon profitieren? Warum verschwindet ein erfolg­reiches Schul­system? Warum werden Bibliotheken zerstört und Millionen antiker Schriften vernichtet? Warum steigt in Europa der Anteil der Analphabeten in der Folgezeit auf bis zu 90-95 %? Was sind die Gründe für den Niedergang der römischen Kultur?

War es eine korrumpierte und nach Luxus süchtige, römische Oberschicht, die durch ihre „spätrömische Dekadenz“ das antike Staats- und Gesellschafts­­system von innen ausgehöhlt, und zur Entartung der Sitten, zum Verfall der Wissenschaften und des Bildungs­systems beigetragen hat? Der Dekadenz­theorie zum Niedergang des römischen Reiches fehlt eine Erklärung für das Motiv, Bildungs­­einrichtungen gezielt zu vernichten und wissenschaftliches Denken zu verbieten, wovon eine römische Elite, wenn auch dekadent, letztlich selbst profitiert hatte.

Waren es die germanischen „Barbaren“, die in einer eisigen Silvester­nacht am 31. Dezember 406 den zugefrorenen Rhein bei Mogontiacum (heutiges Mainz) überquerten und in das römische Hoheits­gebiet gewaltsam eindrangen? Mögen es auch 100.000 oder 200.000 Germanen einschließlich Frauen, Kinder und alter Menschen gewesen sein - in einem so frostigen Winter werden sie nicht die Städte und Dörfer zerstört haben, die sie selbst zum Schutz vor der Kälte dringend brauchten. Die Burgunder lassen sich zunächst in der Gegend bei Worms nieder und leben dann in weitgehend friedlicher Nachbar­schaft zur noch immer römischen Stadt Mainz. Die „wilden Germanen“ sind längst romanisiert und die Bezeichnung „unzivilisierte Barbaren“ ist eher unzutreffend. Die Germanischen Stämme der Burgunder, Vandalen, Alanen und Sueben sind auf der Suche nach neuem Lebens­raum für ihre Völker. Mit Ausnahme der Burgunder machen sich die germanischen Stämme unmittelbar nach der Rhein­­über­querung auf den Weg nach Westen. Erst nach vierzig Jahren werden die Burgunder vom west­römischen Konsul Flavius Aëtius (390 – 454) mit Hilfe hunnischer Hilfs­­truppen aus dem Rhein­gebiet vertrieben und wandern in den Osten Frank­­reichs (Burgund). Im Jahre 410 belagerten und besetzten die West­goten unter ihrem Führer Alarich, selbst römischer Militär­befehls­haber, die Stadt Rom, ohne die Stadt mit ihren Kultur­­schätzen vollständig zu zerstören. Selbst der Germanen­stamm mit dem negativ besetzten Namen der Vandalen vernichtete keine Kunst­chätze, sondern nahm diese in Besitz und verbrachte sie unter ihrem König Geiserich in das nord­afrikanische Karthago.

Sicherlich hat die Wanderung der germanischen Stämme durch Europa die Destabi­li­sierung und schließlich den Niedergang des römischen Imperiums mit verursacht, aber ein Kultur­­feldzug zur Vernichtung römischer Bildungs­­einrichtungen war dies offen­sichtlich nicht. Mag bei der „Völkerwanderung“ der Germanen durch West­europa die eine oder andere Bibliothek zerstört worden sein, als Erklärung für das Abgleiten Westeuropas in das bildungsferne „finstere Mittelalter“ fehlt wiederum das Motiv. Wenn aber weder die „Spätrömische Dekadenz“ noch der „Völkersturm der Barbaren“ ein Motiv für die Vernichtung antiker Bildungs­­einrichtungen, sowie Verbot wissen­­schaftlichen Denkens hergeben, was war dann die Haupt­ursache für den Untergang der antiken Kultur? Rolf Bergmeier (1) weist mit Recht darauf hin, dass ein solch grundlegender Wandel in der Kultur­geschichte Europas, nur durch eine Ideologie vollzogen werden kann, die das Potenzial hat, auch von der herrschenden Klasse angenommen zu werden: das Christentum – hier in Gestalt des Katholizismus.

Das mittelalterliche Christentum – eine wissenschafts- und bildungs­feindliche Ideologie

BeispielbildAm 28. Februar 380 erlässt der christliche Kaiser Theodosius I. (347 – 395 n. u. Z.) das Glaubensedikt „Cunctos populos“: „Alle Völker ... sollen sich zu der Religion bekehren, die der göttliche Apostel Paulus den Römern überliefert hat. Dies bedeutet, dass wir gemäß apostolischer Weisung und evangelischer Lehre eine Gottheit des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes in gleicher Majestät und heiliger Drei­­faltig­keit glauben. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen. Die übrigen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen ... Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Straf­­gerechtig­keit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden ist.“ (8)

Damit war die bisher im römischen Imperium geltende Religions­freiheit abgeschafft und das trinitarische, katholische Christen­tum zur Staats­religion erklärt. Als Häretiker gelten alle christlichen Glaubens­richtungen, die nicht an die heilige Drei­faltigkeit glauben, wie z. B. die arianischen Christen und die nord­­afrikanischen Donatisten. So werden fortan Häretiker, Heiden und Ungläubige zum Über­tritt in die katholische Kirche gezwungen, ansonsten verfolgt und hin­gerichtet. Die erste daraus folgende Todes­strafe wurde 385 in Trier verhängt (8).

Augustinus (354 – 430 n. u. Z.), Bischof der nord­afrikanischen Stadt Hippo, einer der einfluss­­reichsten Kirchen­lehrer und von Katholiken als großer Philosoph und Heiliger verehrt, bezeichnet die gesamte Wissenschaft als „nichtigste Windbeutelei“ (9) und lehrt: „Der Glaube geht der Erkenntnis voraus“ (10). Die wissenschafts­feindliche Haltung der katholischen Kirche und ihr Einfluss auf die Herrschenden kann als der Haupt­grund für den Verfall des antiken Bildungs­systems, die Schließung und Zerstörung öffentlicher Bibliotheken sowie die nun fort­schreitende Analphabeti­sierung in Zentral­­europa identifiziert werden. Schon in einer christlichen Gemeindeordnung des 3. Jahrhunderts, der „Didaskalia Apostolorum“ (11), wurde vor heidnischen Büchern gewarnt und die Bibel als das Buch bezeichnet, das für die Bedürfnisse der Bildung vollkommen genüge.

Ab dem 5. Jahrhundert werden öffentliche Schulen geschlossen und gleichzeitig Kloster­schulen eröffnet, die einem ausgesuchten klerikalen Personen­kreis zugänglich sind. Unterrichtet werden Glaubensthemen, Bibelkenntnisse und Liturgie. Geometrie, Arithmetik und Astronomie nur insoweit, wie z. B. zur Erstellung eines christlichen Kalenders erforderlich. In den ersten fünfzig Jahren des 5. Jahrhunderts verschwinden alle öffentlichen Bibliotheken mit ihren in die Millionen gehenden Schriftbeständen. Theophilos (385 – 412 n. u. Z.), christlicher Patriarch von Alexandria, ließ im Jahre 398 die Serapeion-Bibliothek, eine Filiale der großen Bibliothek von Alexandria (Museion), mit einem Bestand von 42.800 Buchrollen, zerstören. Die Große Bibliothek von Alexandria fand ihr Ende nach der Ermordung der letzten dort forschenden Mathematikerin Hypathia durch einen christlichen Pöbel.

Fast symbolhaft für den Weg von einer antiken Gesellschaft, in der Bildung als eine hohe Tugend angesehen war, hin, zu einer feindlichen Haltung gegenüber Wissenschaft, allgemeiner Bildung und freier Kunst, steht das Jahr 529: Der christliche Kaiser Justinian I. (482 – 565) lässt die berühmte Akademie in Athen schließen, einst von Platon gegründet, Lehrstätte des Aristoteles und jahr­hunderte­lang Zentrum kultureller Blüte. Im gleichen Jahr gründet der Vater des benediktinischen Mönchtums Benedikt von Nursia (480 – 547 n. u. Z.) das italienische Kloster Montecassino. Ihn lobt Papst Gregor I. (590 – 604) später als „wissentlich unwissend und aus Weisheit ungelehrt“ (12). Unbildung wird hier zur Tugend erklärt, denn der „Lohn ist groß in den Himmeln“ (Mt. 5,12), auch und gerade für Analphabeten: „Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel“ (Mt. 5,3).

… „wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft“

Im Jahre 562 werden Bücher nichtchristlichen Ursprungs öffentlich verbrannt (13). Gegen Ende des 6. Jahrhunderts sind auf dem Gebiet des gesamten weströmischen Imperiums alle öffentlichen Schulen geschlossen und alle öffentlichen Bibliotheken zerfallen oder zerstört. Statt Schulen, werden nur noch Kirchen und Klöster gebaut. Der Bücher­bestand der Kloster­bibliotheken umfasst lediglich noch wenige hundert Bücher, wovon mehr als 90 Prozent christlichen Inhaltes sind. Von den Millionen antiker literarischer, künstlerischer und wissen­schaftlicher Schriften werden im 6./7. Jahrhundert noch 1 von 1.000 (= 0,1 %) übrig geblieben sein (14).

Wissen­schaftliches Denken wird zur Ketzerei erklärt und mit der Todesstrafe geahndet. Es gilt die „Lebensweisheit“ des (Heiligen) Antonius (251 – 356 n. u. Z.): „wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft“ (15). Johannes Chrystostomos (349 – 407 n. u. Z.), Erzbischof von Konstantinopel, bringt die christliche Wissenschafts­feindlichkeit auf den Punkt: „Du sollst das Geschehene nur bewundern, frage hingegen nicht nach dem Wie“ (16). Die Natur­gesetze werden als das Werk von Dämonen betrachtet und die Dinge in der Welt werden nur durch Gottes Wille bewegt. Die Frage nach dem „Wie“ wird sich in den folgenden tausend Jahren nach Theodosius I. niemand mehr öffentlich zu fragen wagen!

Berichten zufolge war im 8. Jahrhundert das Analphabetentum so weit fort­geschritten, dass es Priester gegeben habe, die nicht mehr das nötige Latein beherrschten, um das Vaterunser zu beten. Erst unter Karl dem Großen (747 – 814 n. u. Z.) wurde das selbst in Klosterschulen heruntergekommene klerikale Bildungs­system wieder verbessert. Diese „karolingische Erneuerung“ war jedoch keine Wieder­­herstellung eines öffentlichen Bildungs­­systems, sondern lediglich eine höfisch-klösterliche Bildungsanstrengung (17). Das Besitz­­stands­­verzeichnis der Kloster­bibliothek Reichenau aus dem Jahre 822 umfasst noch immer nicht mehr als 600 Bände mit überwiegend christlichem Inhalt, und diese Bibliothek war eine der umfang­reichsten im Mittel­alter (18).

Wie aber fand Europa wieder aus dieser finsteren Epoche heraus? Wie kommen die Schriften des Aristoteles wieder nach Europa und wie erneuerte sich wissen­schaftliches Denken?

Renaissance – Wiedergeburt der Antike

Im 7. Jahrhundert tritt der Islam in die Welt­geschichte ein. Islamische Herrscher waren zu dieser Zeit (anders als heute) wissen­­schaftlichem Denken weit mehr aufgeschlossen als die europäischen Christen. Im arabisch-islamischen Alexandria werden antike griechische Texte aus allen Wissens­gebieten ins Arabische übersetzt. In Bagdad wird das berühmteste Werk des griechischen Mathematikers Euklid „Die Elemente“ unter dem Kalifen Al Mansur (709 – 775) auf Arabisch zu lesen sein. In derselben Stadt entwickelt im Jahre 810 der aus dem Iran stammende Mathematiker Al-Chwarizmi das Rechnen mit Dezimal­zahlen und führt die Ziffer Null ein. Die lateinische Fassung seines Werkes beinhaltet den Begriff „Algorismi“, woraus sich der heute verwendete Begriff „Algorithmus“ ableitet. Der persische Mathematiker Abu l-Wafa (940 – 998) verwendet als Erster die Tangens­funktion und erstellt Tabellen trigono­­metrischer Funktionen mit einer Genauigkeit von acht Dezimal­stellen. Die erste nach­antike Universität wird 972 in Kairo gegründet (Al-Azhar-Universität).

Im Jahre 711 wird ein großer Teil der iberischen Halbinsel von arabischen Mauren besetzt. Al-Andalus wird fast 800 Jahre das europäische Zentrum arabisch-islamischer Kultur mit der Stadt Córdoba als inter­­kulturellem Mittel­punkt Europas. Auch hier ist man Bildung und Wissen­schaft aufge­schlossen. Der zweite Kalif von Córdoba Al-Hakam II. (915 – 976) förderte Kunst und Kultur (19). Unter seinem Kalifat wurde die Umayyaden-Bibliothek mit mehr als 400.000 Bänden aufgebaut. Insgesamt wurden 20 öffentliche Bibliotheken und 80 Schulen gegründet. Der in Córdoba geborene Philosoph und Arzt Ibn Rushd, genannt Averroës (1126 – 1198), kommentierte die Werke des Aristoteles und ist maßgeblich für deren Über­lieferung nach Zentral­­europa mitverantwortlich.

Im Zuge der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel, der Reconquista, wurde 1085 die Stadt Toledo, ein Zentrum kultureller Blüte, von christlichen Truppen eingenommen. Mit der Eroberung der Stadt Granada im Jahre 1492 war die gesamte Iberische Halbinsel wieder unter christlicher Kontrolle. Die wiedererlangte christliche Vor­herrschaft konnte jedoch nicht verhindern, dass Toledo in der Folgezeit zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Überlieferung griechisch-arabischer Wissen­schaften nach Zentraleuropa wurde. Dies war der Ausgangspunkt einer Wiedergeburt griechisch-römischen, freien künstlerischen Schaffens, das den Boden für ein unbehindertes wissenschaftliches Denken in Europa langsam wieder vorbereitete: die Renaissance.

Nach der Rückeroberung der spanischen Halbinsel durch die Christen, verwahrlosen dort wieder die Schulen und Bibliotheken. Statt inter­kultureller Toleranz wütet die in ihrer Brutalität gefürchtete „spanische Inquisition“. Im Jahre 1499 lässt der spätere spanische Groß­inquisitor Kardinal Jiménez de Cisneros (1436 – 1517) in Granada Bücher der maurischen Bibliotheken verbrennen (20). Es sollen über eine Million gewesen sein. Glücklicherweise konnte nicht alles verbrannt werden. Antikes Schrifttum und wissenschaftliches Denken sickerten allmählich wieder in das vom Christentum beherrschte Zentraleuropa ein.

Wissenschaft zwischen Renaissance und Aufklärung – ein lebensgefährliches Unterfangen

Die ersten Anzeichen einer Auflockerung des Denkens machen sich in Italien bemerkbar (italienische Renaissance). Das Genie Leonardo da Vinci (1452 – 1519) wagte es, sich wieder Motiven zuzuwenden, die nicht ausschließlich kirchlich-religiöse Inhalte darstellten. Er schuf künstlerische und wissenschaftliche Werke, die sich wieder sowohl dem Schönen (Mona Lisa), als auch anatomischem oder technisch-wissen­schaftlichem Inhalt widmeten. Bildung beschränkte sich allerdings noch immer auf Inhalte, die mit der Weltsicht der Bibel und der katholischen Kirche nicht in ketzerischem Widerspruch stehen durften. Aus den Kloster­­schulen entwickelten sich Domschulen, die auch zunehmend Nichtklerikern offenstanden. Ab dem 11. Jahrhundert bildeten sich aus diesen Schulen einzelne Fakultäten im Bereich Kirchen­­recht, weltliches Recht und Medizin. Die Fakultäten bildeten dann die Grund­lage für die Gründungen erster europäischer Universitäten.

Als älteste europäische Hochschule gilt die Universität von Bologna, deren Gründungs­jahr im 11. bzw. 12. Jahrhundert allerdings umstritten ist. Alle Universitäts­gründungen bedurften einer Gründungs­urkunde des Papstes oder des Kaisers. Die Gründung der Universität von Paris erfolgte ebenfalls im 12. Jahrhundert, wo im Gebäude der Sorbonne die theologische Fakultät ihre Sitzungen abhielt. Es folgten die Universitäten von Oxford, Cambridge, Salamanca, Montpellier und Padua im 13. Jahrhundert. Im darauffolgenden Jahrhundert die Karls-Universität Prag, die Universität Wien sowie die Universität Erfurt und die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Noch immer gab es ausschließlich die Studien­richtungen Theologie, Rechts­wissenschaften und Medizin. Als Vorbereitung auf diese Haupt­studien­fächer standen die „Sieben Freien Künste“ auf dem Lehrplan: Logik/Dialektik - Grammatik – Rhetorik (Trivum), sowie Geometrie – Arithmetik - Astronomie/Astrologie – Musik (Quadrivium). Natur­wissenschaften werden als Hauptstudium nicht angeboten. Noch immer gilt der Satz des Chrystostomos: Du sollst die Welt bewundern, aber frage nicht nach dem „Wie“. Auch die Reformation ändert an dieser Situation zunächst nichts. Der an der Universität Erfurt studierte Doktor der Theologie Martin Luther warnt eindringlich vor der „Hure Vernunft“, die vom rechten Glauben abhält.

Die Wende zu naturwissenschaftlichem Denken bahnte sich erst an, als der Doktor des Kirchenrechts und Freizeitastronom Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) begann, über das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos nachzudenken. Sein Hauptwerk „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ veröffentlichte er erst kurz vor seinem Tode und entkam damit einer Recht­fertigung vor der katholischen Inquisition. Weniger Glück hatte der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548 – 1600), dessen Philosophie u. a. die Unend­lichkeit der Welt postulierte und damit in ketzerischem Wider­spruch zur katholischen Lehre stand. Auf seiner Philosophie beharrend, wurde Bruno am 17. Februar 1600 nach jahrelanger Kerkerhaft bei lebendigem Leibe auf dem Scheiter­­haufen verbrannt. Ähnlich grausam traf es zuvor den 25-jährigen Studenten Pomponio Algerio (1531 – 1556), der seine von der katholischen Kirche abweichenden Ansichten nicht widerrufen wollte. Am 22. August 1556 wurde er in Rom auf der Piazza Navona bei lebendigem Leibe in einem mit Öl und Pech gefüllten Behälter zu Tode gefoltert. Sein Todeskampf soll 15 Minuten gedauert haben (22).

Nachdem im Jahre 1608 der deutsch-niederländische Optiker Hans Lipperthey (1570 – 1619) das Fernrohr erfunden hatte, wurde es 1609 von dem italienischen Astronomen Galileo Galilei (1564 – 1642) nachgebaut und für astronomische Beobachtungen verwendet. Seine Entdeckungen der unregel­mäßigen Mond­oberfläche und der Jupiter­monde veröffentlichte er 1610 in seiner Publikation „Sidereus Nuncius“. Damit war gezeigt, dass der Mond keine makellos glatte Oberfläche hatte und in unserem Sonnensystem sich nicht alles um die Erde dreht, wie es die katholische Kirche lehrte.

In gleicher Zeit, 1609, veröffentlichte Johannes Kepler (1571 – 1630) seine beiden ersten „Keplerschen Gesetze“, wonach sich die Planeten in Ellipsen­bahnen um die Sonne bewegen. Das dritte „Keplersche Gesetz“ erschien im Jahre 1619.

Während Kepler als frommer Mann versuchte, die neuen Erkennt­nisse mit der katholischen Lehre in Einklang zu bringen und Sonne, Planeten und Fixsterne mit Vater, Sohn und Heiligem Geist in einem trinitarischen Kosmos als Erklärung anbot, geriet Galilei in Konflikt mit der katholischen Inquisition als er 1632 nachdrücklich für das kopernikanische Weltbild eintrat. Erst nachdem er seine ketzerischen Fakten „widerrufen“ hatte, konnte er dem Scheiter­haufen entgehen. Das Vertreten wissen­schaftlicher Erkenntnisse, die der Lehre der katholischen Kirche widersprachen, war weiterhin lebensgefährlich!

Naturwissenschaftliche Fakten lassen sich auf die Dauer nicht weg­glauben und der von Gott gegebenen katholischen Allmacht und Deutungs­­hoheit wurden schon durch die Reformation ihre Grenzen aufgezeigt. Wenn sich nun das Dogma von der Erde als Zentrum des Universums als falsch erwiesen hat, dann liegt es nahe, auch an weiteren Glaubens­­dogmen zu zweifeln. Die „Hure Vernunft“ entpuppte sich, wie schon Luther ahnte, nach und nach als eine starke Waffe gegen religiösen Dogmatismus und als effektive Trieb­kraft für die Durch­setzung einer kritisch rationalen Denkweise als Voraus­setzung für wissen­schaftlichen und technischen Fortschritt. Die Epoche der Aufklärung stand bevor. René Descartes (1596 – 1650) formulierte den Grundsatz der Skeptiker: „Nichts für wahr zu halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann“.

Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ging es wieder aufwärts. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) begründete die Infinitesimal­rechnung und der Engländer Isaak Newton (1642 – 1726) formulierte sein Gravi­tations­­gesetz und entwickelte die Mechanik. Immanuel Kant (1724 – 1804) bezeichnet die „Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit“ und ruft dazu auf „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Später wird Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) in seinem Buch „Der Antichrist“ das Christentum öffentlich angreifen, ohne auf dem Scheiterhaufen zu enden.

Das „finstere“, christliche Zeitalter in seiner mittel­alterlichen Form ist weitgehend vorbei, obwohl die katholische Kirche noch immer versucht, freigeistige und wissen­schaftliche Bücher zu verbieten. Auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher, dem Index Librorum Prohibitorum, stehen 4.000 Bücher u. a. von Autoren wie Descartes, Voltaire, Rousseau, Immanuel Kant, David Hume, Spinoza, Balzac, Victor Hugo, Heinrich Heine, Schopenhauer, Nietzsche, Jean Paul Sartre und sogar Schriften von Goethe (23). Noch im Jahre 1910 wurde von Papst Pius X. (1835 – 1914) ein „Antimodernisteneid“ (24) eingeführt, den alle katholischen Priester ablegen mussten. Erst 1967(!) wurden Index und Eid von Papst Paul VI. (1897 – 1978) abgeschafft. Soweit wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten theologisch nicht mehr umgedeutet oder in Frage gestellt werden können, müssen sie nun stückchen­weise auch von der katholischen Kirche anerkannt werden. Inzwischen gibt es eine „Päpstliche Akademie der Wissenschaften“, der auch namhafte Natur­wissenschaftler angehören.

Christlich-abendländische Leitkultur?

Der deutsche Althistoriker Alexander Demandt vertritt die Meinung, der Bruch des Christentums mit der Antike sei die „Voraussetzung für den Aufstieg Europas gewesen“ und hebt die „beispiellose kulturelle und soziale Glanzleistungen des Christen­tums in der Geschichte des Abendlandes“ hervor (25). Als Beispiel nennt er u. a. „grandiose Kathedralen“ und den in der Zeit von Aufklärung und Moderne, 1846 gegründeten katholischen „Gesellenverein“, der sich später, benannt nach Adolph Kolping, zum inter­nationalen Kolpingwerk entwickelte.

Es sei dahingestellt, ob sich ein Sozialwerk wie das Kolpingwerk, wenn auch katholisch, nicht erst aus den Idealen der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) entwickeln konnte, aber die sicherlich grandiosen Kathedralen, wie auch die übrige Kunst des Mittel­alters, waren nicht aus freiem künstlerischen Schaffen entstanden, sondern zumindest thematisch von der katholischen Kirche vorgegeben und gleich­geschaltet. Neben der Porträt­malerei von Kaisern, Königen und Fürsten waren nur religiöse und kirchliche Motive erlaubt.

Die „Nackte Maja“ hätte noch 100 Jahre zuvor ihren Schöpfer Francisco de Goya (1746 – 1828) wahrscheinlich auf dem Scheiter­haufen der Inquisition enden lassen. Dies erinnert durchaus an die Gleich­schaltung der Künste in diktatorischen Systemen (z. B. Helden der Arbeit). Es ist auch sicherlich müßig, darüber nachzudenken, was für großartige Werke ein Michelangelo hätte schaffen können, wenn er nicht mit den (grandiosen) Malereien in der Sixtinischen Kapelle beschäftigt gewesen wäre ... und darüber, wie viele Michelangelos und Einsteins durch die tausendjährige Bildungs­katastrophe des christlichen Mittel­alters erst verhindert worden waren ...

Der deutsche Althistoriker und evangelische Theologe Klaus Martin Girardet stellt allen Ernstes die Frage in den Raum, „ob nach dem Untergang des heidnischen Imperiums, dank der christlichen Kirche, nicht eine höhere Stufe der Menschheit erreicht worden sei?“ (25). Nicht nur, dass hier nach bekanntem Muster, alle Heiden und Nicht­christen auf eine menschlich tiefere Stufe gestellt werden, auch die entsetzlichen Praktiken der katholischen Inquisition werden hier im Dienst einer „höheren“ Sache gesehen. Der Historiker und katholische Priester Harm Klueting wäscht sich indes von aller historischer Schuld rein, indem er Religions­kriege, Juden­massaker, Ketzer­verfolgung und Hexen­verbrennung als „antichristliche Veranstaltungen des Christlichen“ bezeichnet (26).

Christliche Apologeten behaupten heute, dass die moderne Wissen­schaft ihre Wurzeln nicht in der Antike habe, sondern sich nur aus christlichem Denken heraus habe entwickeln können (27). Christliche Kloster- und Dom­schulen seien es gewesen, die eine Grund­bildung mit Lesen und Schreiben aufrecht erhalten und damit die Grund­lagen für ein modernes Bildungs­system gelegt hätten. Nachdem mehr als 40 Generationen im Kerker der Unbildung gefangen gehalten wurden, bean­spruchen die Kerker­­meister nun Aner­kennung dafür, dass die Geschundenen ihren Kindern und Enkeln nach mehr als 1.000 Jahren wieder eine angemessene Bildung zukommen lassen können, nachdem diese erst von mutigen, freidenkenden Menschen aus diesem Kerker befreit werden mussten. 

Das Christlich-Abendländische an unserer Kultur­­geschichte hat eben gerade nicht zu der heutigen wissen­schaftlichen Kreativität und Leistungs­­fähigkeit beigetragen, sondern diese, mit zum Teil brutalen und unmenschlichen Methoden, massiv verhindert. Das Christlich-Abendländische wird in unserer Gesellschaft von einfluss­­reichen gesellschaft­lichen Gruppen noch immer als Leit­kultur bezeichnet, ist aber als ein Ausläufer des Mittel­alters zu betrachten.

Tradition griechisch-römischer Kulturgeschichte

Unsere moderne Wissens­gesellschaft steht viel mehr in der Tradition einer griechisch-römischen Kulturgeschichte, die bezüglich Wissen­schaft, Philosophie und Kunst bereits in der Antike ein erstaunlich hohes Niveau erreichte. Die Diskussion um eine „Leitkultur“ sollte sich daher nicht am Christlich-Abendländischen, sondern an der Geschichte demokratischer und sozialer Rechts­­staatlichkeit auf der Grundlage der Allgemeinen Menschen­­rechte, die gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft werden mussten, orientieren. Eine solche „Humanistische Leitkultur“ bildet eben diese menschen­rechtliche Basis einer demokratischen, sozialen Rechts­staatlichkeit und schafft die Frei­räume und Entfaltungs­­möglichkeiten aller gesellschaft­lichen Gruppen, die sich diesem Werte­system nicht gewaltsam widersetzen. Selbstverständlich haben hier auch Religionen und Kirchen als vom Staat getrennte, private Organisationen ihren Platz.

Nach Darwins Erkenntnis über „die Entstehung der Arten“, der Entdeckung unseres Sonnen­systems als einem winzigen Körnchen in einem gigantischen Universum, der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und der erst am Anfang stehenden Erforschung unseres Gehirns, verändert die Wissenschaft unser Bild von uns und der Welt in einer permanenten und dramatischen Weise. Dabei wurden schon in der Antike (z. B. heliozentrisches Weltsystem, Epikurs hedonistische Philosophie) und ganz massiv seit der „Kopernikanischen Wende“, religiös geprägte Glaubens­­dogmen durch wissen­schaftliche Erkennt­nisse ersetzt: die Erde steht nicht im Mittelpunkt des Universums, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern zufälliges Produkt der Evolution und hat inzwischen die Fähigkeit erlangt, sich selbst genetisch zu manipulieren.

Die Hirnforschung enttarnt den geglaubten Freien Willen als die Illusion eines „gefühlten Freien Willens“. Die wissenschaftliche Methode des Erkenntnis­­gewinns durch steten Zweifel an scheinbar gesichertem Wissen, ist ein Erfolgs­­modell, das uns mehr von der Wirklichkeit dieser Welt offenbart, als alle religiösen Dogmen dieser Welt zusammen­genommen. Erst nach mehr als 1.000 Jahren wissenschafts- und bildungs­feindlichem, christlich-mittel­alterlichem Dogmatismus wurde der Irrtum des Augustinus von Hippo durch die Erfolge der modernen Wissen­schaft wieder deutlich gemacht: Nicht der Glaube, sondern der Zweifel geht der Erkenntnis voraus.

„Über das Mittelalter senkte sich die Finsternis“ (12.12.2011)

„Schatten über Europa” (27.11.2011)

Requiem für die abendländische Kultur (29.11.2010)

Die wilden Jahre des Christentums (19.11.2010)

Requiem für die antike Kultur (30.7.2009)

Der Untergang des Abendlandes (7.7.2009)
 

 
Referenzen

(1) Rolf Bergmeier, Schatten über Europa, Alibri Verlag, 2012.
(2) Aristarchos von Samos, http://de.wikipedia.org/wiki/Aristarchos_von_Samos
(3) Rolf Bergmeier, ebd. S. 14 - 19
(4) Rolf Bergmeier, ebd. S. 13 und 192
(5) Rolf Bergmeier, ebd. S. 8
(6) Rolf Bergmeier, ebd. S. 41 und E.A. Parsons, The Alexandrian Library. Glory of the hellenic world, 1967, S. 121
(7) Das Räderwerk von Antikythera, http://cs.uni-muenster.de/Studieren/Scripten/Lippe/geschichte/pdf/Kap2.pdf
(8) Dreikaiseredikt, http://de.wikipedia.org/wiki/Cunctos_populos
(9) Rolf Bergmeier, ebd. S. 204
(10) Rolf Bergmeier, ebd. S. 164
(11) Rolf Bergmeier, ebd. S. 147
(12) Rolf Bergmeier, ebd. S. 211
(13) Rolf Bergmeier, ebd. S. 122
(14) Rolf Bergmeier, ebd. S. 147
(15) Rolf Bergmeier, ebd. S. 141
(16) Rolf Bergmeier, ebd. S. 201
(17) Karolingische Renaissance, http://de.wikipedia.org/wiki/Karolingische_Renaissance
(18) Rolf Bergmeier, ebd. S. 235
(19) al-Hakam II, http://de.wikipedia.org/wiki/Al-Hakam_II.
(20) Gonzalo Jiménez de Cisneros, http://de.wikipedia.org/wiki/Jim%C3%A9nez_de_Cisneros
(21) Leonardo da Vinci, http://de.wikipedia.org/wiki/Leonardo_da_Vinci
(22) Pomponio Algerio, http://en.wikipedia.org/wiki/Pomponio_Algerio
(23) Rolf Bergmeier, ebd. S. 159
(24) Antimodernisteneid, http://de.wikipedia.org/wiki/Antimodernisteneid
(25) Rolf Bergmeier, ebd. S. 53
(26) Rolf Bergmeier, ebd. S. 123 - 124
(27) Manfred Lütz, Gott – eine kleine Geschichte des Größten, Pattloch Verlag 2007, S. 107 - 121