WIEN. (hpd) Zwei durchschnittlich religiöse Menschen unterhalten sich in einem Wiener Cafe. Die Religion kommt unterwartet ins Spiel. Der Gast plaudert über seinem vormittäglichen Bier mit der Kellnerin, die unüberhörbar in Serbien geboren wurde. Ein typisches Cafe in einem Wiener Arbeiterbezirk.
Entsprechend der sozialen Schichtung leben viele Migranten hier. Ein Porträt Titos hängt in der Ecke hinter dem Tresen. Der Kaffee kommt aus Italien. Die Kundschaft sind Arbeiterinnen und Arbeiter, Menschen, die mangels eines Arbeitsplatzes offiziell nicht mehr in die Kategorie fallen, einige Künstlerinnen und Künstler, großteils mit Migrationshintergrund aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der Briefträger trinkt hier jeden Vormittag einen Kaffee. Im Hintergrund läuft, für ein Balkan-Lokal nahezu unvermeidlich, einer der Satellitensender mit Balkan-Musik.
Irgendwie geht es dem Gast um die USA. Was die mit „den Moslems“ machen würden, gefällt ihm überhaupt nicht. Für ihn seien ja alle Religionen gleich. „Ob Christen, Islam, Buddhismus, das ist doch alles das gleiche“, meint er. Er selber sei katholisch, meint der Gast zur Kellnerin. Nicht wirklich kirchennahe, aber schon irgendwie katholisch. „Irgendwas da oben muss es ja geben“. Eine Ansicht, die in genau dieser Formulierung vermutlich mehrheitstauglich ist in Österreich. Ihr würden sicher mehr zustimmen als etwa der Frage nach dem katholischen Gott. Und auskennen tut sich der nicht sehr kirchennahe Paradekatholik. Sagt er. „Ich hab die Bibel gelesen“. Ein paar Minuten später wird er in einem Halbsatz auch den Religionsunterricht erwähnen.
„Ich bin orthodox“, sagt die Kellnerin. „Welche Art von orthodox“, fragt der Gast interessiert. Sie macht eine ausladende Handbewegung. „Es gibt nur eine Art von orthodox“, sagt sie. „Es gibt zwar verschiedene Kirchen, je nach Land, aber die glauben alle das gleiche: Russisch-orthodox, serbisch-orthodox, griechisch-orthodox und römisch-orthodox“. Ob letztere Behauptung auf einer Fehlannahme beruht oder auf einem „Übersetzungsfehler“ aus dem Serbischen, ist unklar. Auf Serbisch klingen „Rom“ und „Rumänien“ sehr ähnlich: Ruma und Rumunija. Eine Unterscheidung kann schnell verschwimmen. Der Beobachter möchte nicht nachfragen. Das könnte den Verlauf der Unterhaltung zwischen Gast und Kellnerin beeinträchtigen.
Trotz der Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche hat es die Kellnerin nicht ganz so mit den Oberen der Hierarchie. Weder in der Orthodoxie noch im Katholizismus. Man habe sehr viel verschwiegen, sagt sie: „In der Zeitung steht jetzt, dass Jesus eine Frau gehabt hat. Das haben sie bewiesen. Das war die Maria Magdalena, die Hure. Das steht in der Bibel.“ „Das mit der Frau steht nicht in der Bibel“, meint der nach eigenen Angaben bibelkundige Gast. Das mit der Hure schon. Was ihn als weniger bibelfest ausweist, als ihm bewusst ist. Dass Maria Magdalena jene Sünderin sei, die Jesus laut Neuem Testament die Füße wusch und mit ihrem Haar trocknete, ist eine Erfindung späterer Tage. Und von Hure steht gar nichts in der Bibel. „Religiöse Bildung“, wie sie der katholische Religionsunterricht tagtäglich produziert. Halbwissen als angeblich unverzichtbarer Erziehungsbestandteil. Der Beobachter entschließt sich, sein nobles Schweigen fortzusetzen.
Für die Kellnerin Beweis einer vor allem frauenfeindlichen Verschwörung der Kirchenhierarchie (das Wort Verschwörung benutzt sie nie). Nicht dass sich diese nicht seit ihrem Bestehen durch besondere Frauenfeindlichkeit ausgezeichnet hätte. Allein, ob das als Motiv für die angeblich große Vertuschung ausreicht? Bei dem kurzen Gedankengang geht für eine Minute der Anschluss an die angeregte Unterhaltung verloren. Die Kellnerin gestikuliert siegesgewiss. Denen da oben hat sie’s ordentlich gezeigt. Oder so. Der Gast hat sein zweites Bier an diesem Vormittag bestellt.
Man habe ja seit Anbeginn nicht die Wahrheit gesagt, sagt die Kellnerin. „Über die erste Frau sagen sie ja auch nichts. Das war nicht Eva.“ Kurzer Blick auf den Gast. Er hört gespannt zu. „Die erste Frau hieß Liliput.“ „Das steht aber nicht in der Bibel“, meint er. „Ja, das sagen sie uns nicht“; räsoniert die Kellnerin. „Das war die erste Frau von Adam und Gott hat sie vertrieben. Das kannst du im Internet nachlesen. Die erste Frau hieß Liliput“. Ihr überzeugter Tonfall lässt keine Zweifel zu. Der Bibelkenner meint, das könne schon sein. In der Bibel stehe das aber nicht. Womit er, je nach Interpretation, Recht hat oder nicht. Die Frage, warum ein Gott eine Liliput aus dem Paradies hätte vertreiben sollen, stellt sich ihm nicht.
Offensichtlich bezieht sich die Kellnerin auf die wahrscheinlich spätantike oder mittelalterliche jüdische Legende von Lilith. Laut der Sage war diese, angelehnt an die erste der beiden Erzählungen der Schaffung des Menschen in der Genesis, Adams erste Frau. Geschaffen aus der gleichen Erde wie er, weigerte sie sich, dem Manne untertan zu sein. Der Streit eskalierte und Lilith sprach den Namen Dessen-der-da-ist aus. Dieses Aussprechen des Namens Gottes, das erste und einzige Mal, dass dieses Anathema in einer jüdischen Geschichte dokumentiert ist, verlieh ihr beinahe gottgleiche Kraft. Lilith flog davon und Der-da-ist verfluchte sie. Je nach Erzählung wurde sie verdonnert, bis zu einer reumütigen Rückkehr täglich 100 ihrer Nachkommen zu vernichten oder wurde die Urmutter aller Dämonen. Oder beides. Der-da-ist, so die Erzählung, schuf das Nachfolgemodell sicherheitshalber aus der Rippe Adams um neue Unklarheiten bei den Geschlechterrollen etwas unwahrscheinlicher zu machen. Man könnte sagen, die Legende sei das Gegenteil einer feministischen Bibeldeutung, wiewohl später zum feministischen Bild transponiert. Aber was kümmern solche Details großartig. Die Legende geht mit Sicherheit auf die sumerische Gottheit gleichen Namens zurück, die als ruheloser Geist dargestellt wird.
Wiewohl die Interpretation der Kellnerin auch einiges an Wahrscheinlichkeit zu bieten hat. Vielleicht war Adams erste Frau auch so klein, dass Der-da-ist sich seines handwerklichen Fehlers schämte und ihn aus seinem Blickfeld verbannen wollte. Jeder hat mal schlechte Tage und will nicht daran erinnert werden. Und: Irgendwoher müssen die Liliputaner ja kommen. Die Legende von Liliput würde das erklären. Offen bleibt die Frage, ob Liliput die Liliputbahn gebaut hat oder ob es ihre Nachfahren waren. Alle Antworten kann das Aufdecken von Verschwörungen auch nicht geben.
Die Neutralität des Beobachters verwandelt sich zusehends in Amüsement. Er beschließt, seinen Kaffee zu bezahlen und diese zwei durchschnittlich religiösen Menschen in ihrer Fachsimpelei sich selbst zu überlassen. Sonst könnte es zu einem schwer kontrollierbaren Lachanfall kommen. Der würde möglicherweise als unhöflich und störend interpretiert werden. Vielleicht gar als Anschlag auf religiöse Gefühle. Und das hebt man sich für Momente auf, in denen es sich auszahlt.
Christoph Baumgarten