Von Cyber-Kühen und dadaistischen Staren

BERLIN. (hpd) Stare nahmen in Norwegen die Melodie des Dadaisten Kurt Schwitters in ihren Territorial- und Werbegesang auf und tradierten sie unter ihresgleichen bis nach Island weiter. Die Verflechtungen von tierischer und menschlicher Ästhetik sind vielfältig. Auch die Wanderbewegungen von Tier und Mensch sind nicht zu trennen. Solchen Fragen widmet sich eine neue Zeitschrift: die „Tierstudien“.

Die Wirklichkeit hat Comics und Science Fiction schon überholt. Gleich nach der Geburt mit Transpondern ausgestattete Rinder, deren kurzes Leben nach einer oft langen Reise im Schlachthof endet, werden zu `smarten Gegenständen´. Jederzeit lässt sich ausmachen, wo sie sich gerade befinden, und ihr Leben zurückverfolgen bis zu seinem Anfang. Die Verbraucherpolitik will es so. Sie werden, mit IP-Adressen versehen, Bestandteil des World Wide Web. Darüber macht sich Ina Bolinski in ihrem Aufsatz „Zurück Reisen. Elektronische Tierkennzeichnung zur Rückverfolgbarkeit  von Transportwegen“ in der zweiten und jüngsten Ausgabe der von der Kunsthistorikerin Jessica Ullrich in Berlin in diesem Jahr gegründeten „Tierstudien“ ihre Gedanken. Es ist die erste deutschsprachige Zeitschrift für Human Animal Studies. Nachdem sich die Startausgabe mit „Animalität und Ästhetik“ befasste, hat die zweite „Tiere auf Reisen“ zum Thema.

Die Reflexion über Tiere aus den unterschiedlichsten Perspektiven der Geisteswissenschaften führt in letzter Konsequenz zu Überlegungen, in denen auch unser Zeitalter nicht mehr zwangsläufig das Zeitalter des Menschen sein muss, vielmehr eine posthumanistische Position im besten Sinne eingeleitet werden könnte. Dazu regt einer der Begründer der Human Animal Studies, Jonathan Burt, in seinen Ausführungen „Bill Violas Eule oder das Maß des Tierbilds“ in der ersten Nummer der „Tierstudien“ an. Durchexerziert wird dies an einem berühmten Beispiel avantgardistischer Kunst mit einem Tier. Bill Viola suggeriert in einem Video den Blick aus der Sicht einer Eule, deren Pupillen die Kamera ins Visier nimmt. Der Betrachter gerät dabei zwangsläufig in eine Zone des „blinden Flecks“. Das Tier und sich selbst nicht aus der Perspektive des Menschen zu betrachten, das wird ein Imperativ, in dem doch selbst schon eine Aporie steckt.

Davon wusste schon John Berger, der mit seinem literarischen Essay „Why look at Animals?/ Warum sehen wir Tiere an?“ 1977 eine ganze Forschungsrichtung anregen sollte. Tiere faszinieren uns, weil sie in ihrem puren Lebendigsein so viel mit uns gemein haben. Doch ist, was sie fühlen und wahrnehmen, unerreichbar weit von uns entfernt. Wir selbst sind dabei, diesen Abgrund mit zunehmender Industrialisierung, die gleichzeitig die Marginalisierung des Tieres mit sich bringt, ständig zu vergrößern. Das Bedürfnis nach dem Blickkontakt mit dem Tier steigt mit eben diesem Prozess der Verdrängung, so lautete Bergers Fazit. Gleichwohl treffen wir am Ende nur auf einen Blick, der sich gerade deshalb – exemplarisch geschieht dies im Zoo - an uns vorbei sich im Leeren verliert. Um diese Leerstelle geht es seither allen logischen Schwierigkeiten zum Trotz Bill Viola, Jonathan Burt und eine jungen Wissenschaftler- und Künstlergeneration verschiedenster Disziplinen.

Der „Posthumanismus“ ist auch die Antwort auf eine „posthumane Biopolitik“, die Sven Wirth aufs Korn nimmt, wenn er die „Grenzregime des Tierkonstrukts“ ins Visier nimmt. Da zeigt sich, wie mit „illegalen“ tierischen Invasoren, die keine Grenzen kennen, tendenziell ähnlich wie mit marginalisierten Menschen umgegangen wird. Als Beispiel dienen Wirth nicht nur in Italien eingeschleppte Grauhörnchen, die einheimische Erdhörnchen zu verdrängen drohen. Weil niedlich genug, dürfen sie bleiben. Die aus Neuseeland nach Australien eingeschleppten Aga-Kröten dagegen werden in großangelegten Vernichtungsaktionen eliminiert, zu denen die ganze Bevölkerung regelmäßig aufgerufen wird.

Andererseits erfährt die Leserin auch von sehr geduldigen Formen der Annäherung aus intellektueller Sicht, Versuchen, das Tier miteinzubeziehen, vor allem in der Kunst. Lisa Jevbratt, eine der Autorinnen der „Tierstudien“, ist sogar Inhaberin des ersten Lehrstuhls der Welt für Kunst mit Tieren in Kalifornien, in Santa Barbara. Sie beschreibt, wie eine Studentin ihres Kurses sich in einem Projekt die Aufgabe stellt, ihre Kontaktaufnahme mit Geiern zu dokumentieren. Zu der Performance gehören sowohl die Bewegungen der Tiere in der Luft, als auch die rituell tanzartigen Sprünge der Künstlerin, auf die nun die Geier im besten Fall durch Veränderung der Flugrichtung ansprechen. Ergänzt wird das Vorhaben durch vorher protokollarisch festgelegte Handlungen der Künstlerin immer dann, wenn die Vögel eindeutig eine Handlung ausführen, die mit der Künstlerin gar nichts zu tun haben, nämlich auf Nahrungssuche irgendwo niederstoßen. Hier kommt nicht mehr nur dem Tier bloß die Rolle zu, auf den Menschen zu einzugehen, sondern die freie Bewegung des Tieres diktiert genauso die Reaktion der Künstlerin. Weiter kann Gleichberechtigung nicht gehen.

Den Wissenschaftlern, den Kulturwissenschaftlern und den Biologen, bleibt die zwangsläufig nüchterne Bestandsaufnahme oder der Blick auf historische Prozesse. Sascha Roesler untersucht die Tierarchitektur, die mit der Bionik neuerdings in aller Munde ist. Er stellt fest, wie kurioserweise mit den Stadienbauten für Olympia in München und Peking als Demonstration eines demokratischen Anliegens ausgerechnet die Bauweise von Spinnen und Vögeln nachempfunden wurde. Dennoch kritisert Roesler: „Die menschliche Konstruktion und die Kulturalisierung des tierischen Territorialverhaltens waren Teil einer technologiegläubigen Bewegung.“

Von Charles Darwin bis Cord Riechelmann ahnten die Biologen, dass hinter den Bauten von Tieren mehr steckt als die Funktionen Schutz, Werbung oder Verführung. Die Bauten des Seidenlaubenvogels sind für Dario Martinelli auch Ausdruck eines ästhetischen Empfindens ihrer gefiederten Schöpfer. Durch Zerkauen von Beeren erzeugen sie eine Paste, die sie mit einem Holzsplitter verteilen, um ihre Lockbauten für das Weibchen blau einzufärben. Sie betrachten die Ergebnisse ihrer Tätigkeit und korrigieren ihre Arbeit. Dabei kommt es zu Momenten der Unschlüssigkeit, der Entscheidung, der Kontrolle und der Korrektur, die wir gemeinhin nur dem vernünftigen Denken zuschreiben.

Norwegens Stare nahmen, erzählt Susanne Heiter, nicht nur automatisch die Melodie einer von Kurt Schwitters auf einer Insel komponierten Melodie in ihren Gesang auf. Sie verfuhren, wenn auch vielleicht nicht nach Wohlgefallen, so doch gemäß einer Vorliebe für das Unerwartete, das Überraschende. Ist nicht dies auch ein Grundprinzip aller menschlichen Kunst? Den Sinn für solche Zwischenzonen zu öffnen und zu schärfen, darin liegt das Verdienst der neuen Zeitschrift.

Simone Guski
 

TIERSTUDIEN. 01/12: „Animalität und Ästhetik“, 172 S., 02/12: „Tiere auf Reisen“ 140 S., Neofelis Verlag Berlin. Die Zeitschrift im Paperbackformat erscheint halbjährig zum Preis von 12 Euro, als E-Book: 11 Euro

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