Berücksichtigung von Menschenrechten, Tatsachen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen statt Ideologie
Dieser Gesetzesentwurf unterscheidet sich deutlich (positiv) von dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung.
In der Begründung des Entwurfs legen die Abgeordneten im einzelnen die verschiedenen Gründe für Beschneidungen dar. Ausführlich werden „Aufbau und Funktion der Vorhaut“ dargestellt und erörtert, so dass deutlich wird, was deren Bedeutung in gesundheitlicher und sexueller Hinsicht ist. Dargestellt werden die Durchführung der Vorhautentfernung selbst, deren medizinische Risiken und die gesundheitlichen, psychischen und sexuellen Folgen.
Dieser Gesetzentwurf geht somit nicht von ideologischen Leitbildern, sondern von der Realität aus, von dem, was ist und welche Bedeutung es hat. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass auch berücksichtigt wird, dass „Männer, die erst als Erwachsene beschnitten wurden und aus diesem Grund sexuelle Erfahrungen vor der Zirkumzision hatten, … über fühlbare Einschränkungen ihres sexuellen Lustempfindens“ berichten. Die Erfahrungen von Betroffenen werden thematisiert.
Der Entwurf der 53 Abgeordneten erörtert die rechtlichen Rahmenbedingungen von Beschneidungen und verweist insbesondere darauf, dass Elternrechte lediglich treuhänderische Rechte sind, die im Interesse und zum Wohl des Kindes auszuüben sind, wobei auch das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 GG) von seinen Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung treuhänderisch wahrgenommen wird. Es wird hervorgehoben, dass im Zusammenhang mit der Schaffung eines Kinderrechts auf gewaltfreie Erziehung vor einem Jahrzehnt der Gesetzgeber auch deutlich gemacht habe, dass ein Kind „als Person mit eigener Würde und als Träger von Rechten und Pflichten die Achtung seiner Persönlichkeit auch von den Eltern verlangen kann“. Die Abgeordneten formulieren in der Begründung des Entwurfs deshalb eindeutig, dass ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nicht mehr allein an die Entscheidung der Eltern gebunden sei, sondern die Zustimmung des betroffenen Knaben voraussetze, und dass nur dann dieser Eingriff - im Gegensatz zu einem medizinisch indizierten - akzeptiert werden könne.
Eine Beschränkung der Glaubens- und Religionsfreiheit des Knaben durch die Erfordernisse seiner eigenen ausdrücklichen Zustimmung zur Beschneidung in einsichts- und urteilsfähigem Zustand wird richtigerweise verneint. Wie könnte ein Grundrecht durch eigenständige Wahrnehmung auch eingeschränkt werden? Ebenso leuchtet jedem unvoreingenommenen Betrachter auch ohne weiteres ein: Ohne Berücksichtigung einer ausdrücklichen Zustimmung des Kindes dürfen Eltern allenfalls über solche religiöse Riten allein entscheiden, deren Gehalt sich auf einen rein symbolischen Akt beschränkt. (Jüdische Beschneidungsgegner fordern bekanntlich auch eine rein symbolische Maßnahme bei Minderjährigen.)
Die zutreffende Stellung einer Vorschrift zur Einwilligungsberechtigung von Eltern in Beschneidungen ihres Sohnes wird von den Abgeordneten - in Übereinstimmung mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - im Recht der elterlichen Sorge gesehen. Es soll keine Differenzierung nach der Motivation der Eltern vorgenommen werden, da ein „Sonderrecht“ lediglich für religiös motivierte Beschneidungen den unterschiedlichen Zwecksetzungen von Beschneidungen nicht gerecht werde. Der Sache nach wäre eine solche Regelung allerdings wohl im Gesetz über die religiöse Kindererziehung zu treffen, denn es handelt sich in der Tat - was jedem bekannt ist - um ein (religiöses) Sonderrecht für muslimische und vor allem jüdische religiöse Rituale. Dies kann angesichts der öffentlichen Debatte der letzten Monate kaum verkannt werden.
Deutlich zu erkennen ist, dass mit dem alternativen Gesetzesentwurf die Rechte des betroffenen Knaben wesentlich gestärkt werden - im Sinne der bisherigen Entwicklung der Kinderrechte in Deutschland. Der Entwurf formuliert ausdrücklich: „Es gilt künftig der Grundsatz: Keine Beschneidung ohne vorherige Zustimmung des männlichen Kindes“.
Kompromiss: Orientierung auf Rechtsfrieden
Es handelt sich, dies muss betont werden, um einen Kompromissvorschlag, der die Debatte der letzten Monate und die darin geäußerten Positionen aufgreift. Muslime und Juden haben immer wieder betont, dass für sie das Wohl und die Gesundheit der Knaben an erster Stelle stehen. Jetzt haben sie Gelegenheit, ihren Worten Taten folgen zu lassen, indem sie sich öffentlich für diesen Gesetzesentwurf einsetzen. Die Muslime haben erklärt, dass aus ihrer Sicht Beschneidungen durch Ärzte vorzunehmen seien, und eine starre Altersgrenze existiert bei ihnen ohnehin nicht. Die Juden wiederum wissen genau, dass jeder Jude ist, der eine jüdische Mutter hat. Auch ein unbeschnittener Jude gehört zur religiösen Gemeinschaft, wie sich am Beispiel der aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden jüdischen Männer zeigt, die unbeschnitten sind und auch bleiben - und gleichwohl in den jüdischen Gemeinden akzeptiert sind. Bekanntlich sind unbeschnittene jüdische Männer lediglich von der Teilnahme an bestimmten Ritualen ausgeschlossen (etwa beim Vorlesen aus der Tora). Jüdische Knaben üben allerdings keine solchen Rituale vor dem 14. Lebensjahr aus. Erst ab dem 13. Geburtstag (Bar-Mizwa) entfaltet die Beschneidung eine Bedeutung für deren Rolle in der Gemeinde. Zur Festlegung auf den 13. Geburtstag existieren allerdings unterschiedliche Bräuche. Ein Grund, diesen Brauch nicht um ein Jahr zu verschieben, ist nicht ersichtlich und auch niemals von Juden vorgetragen worden.
Der alternative Gesetzesentwurf geht von den Tatsachen, dem Wohl des betroffenen Knaben und dessen Menschenrechten aus und orientiert sich an modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Er passt in die heutige Zeit und stellt einen akzeptablen Kompromiss dar. Deshalb: Mit etwas gutem Willen kann jetzt ein von allen Seiten akzeptierter Kompromiss zustande kommen, der auch den Rechtsfrieden in Deutschland wiederherstellt. Jetzt sind die Muslime und die Juden am Zug.
Was wird mit den Mädchenbeschneidungen?
Äußerst problematisch bleibt allerdings, dass mit einer gesetzlichen Regelung der Beschneidung von Knaben auch das Tor zur Beschneidung von Mädchen (jedenfalls in der mildesten Variante) wieder geöffnet werden könnte. Schon werden erste Stimmen hierzu laut. In einer Veröffentlichung aus dem Oktober dieses Jahres fordert der Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Universität Menofiya (Ägypten), Dr. Mohamed Kandeel, eine Änderung der Positionen zur Mädchenbeschneidung, was er mit deren Unbedenklichkeit (hinsichtlich Typ I), mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Religionsfreiheit der Eltern (!) begründet.
Es dürfte somit noch einiges auf die deutsche Gesellschaft und den Gesetzgeber zukommen. Die Debatten sind noch lange nicht zu Ende.
Walter Otte