(hpd) Es gibt Argumente, die immer wieder angeführt werden, um zu belegen, dass an Religion etwas dran oder sie sogar notwendig ist für die menschliche Gesellschaft. Buchautor Alfred Binder stellt in einer Serie auf den Prüfstand, was für Religion zu sprechen scheint. Heute Teil zwei, die Offenbarung.
Im ersten Teil setzte er sich mit der Behauptung, dass alle Völker eine Religion hatten, auseinander und erörtert, welche Bedeutung diese Aussage hat. Diesmal geht es um die Frage, was davon zu halten ist, dass es viele Menschen gibt, die meinen, Gott habe ich ihnen offenbart. Kann dies als Hinweis auf die Existenz eines übernatürlichen Wesens gelten?
Bis zu der Zeit, als sich der wahre und einzige Gott offenbarte, mussten die Menschen falschen Göttern und Götzen anhängen, mussten sie abergläubische Erklärungen und Praktiken über die Welt ersinnen. Seit sie aber von dem einen und einzigen Gott wissen, hat jeder die Möglichkeit und die Pflicht, Bekanntschaft mit ihm zu schließen und entsprechend seinen Geboten zu leben. Einigen Menschen hat sich dieser Gott offenbart, viele sind ihm in ihrem Innersten begegnet. Menschen, deren Leben ganz aus der Verbindung mit Gott gespeist war, verehrt man als Heilige.
Wir sprechen hier also von dem Gott der drei monotheistischen Religionen, der verschiedenen jüdischen, christlichen und islamischen „Bekenntnisse“.
Geister- und Vielgötterglaube als Abfall vom wahren Gott
Man könnte die Geschichte der Religionen so verstehen, dass die Menschen Geistern und falschen Göttern anhingen, bis sich ihnen der wahre Gott offenbarte: Jahwe, der Gott der Israeliten, den später die Muslime Allah nannten. Die meisten Anhänger des Ein-Gott-Glaubens würden das aber nicht so sehen. Für sie hatte sich Gott schon den „ersten Menschen“, Adam und Eva, offenbart, wie es in der Bibel behauptet wird. Für die buchstabengläubigen Anhänger der monotheistischen Religionen entstand der Geister- und Aberglaube, die Verehrung falscher Götter, erst nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Die Nachkommen von Adam und Eva fielen von dem Glauben an den einzigen Gott ab und müssen, nach dieser Logik, Götter erfunden haben. Götter zu erfinden, scheint ein Bedürfnis des Menschen zu sein.
Mystik und Gotteserfahrungen
Am Montag, den 23. November 1654 erlebte der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) eine ekstatische Gotteserfahrung. Nach seinem Tod entdeckte sein Diener einen Bericht über diese Erfahrung, dass sogenannte Memorial, eingenäht in Pascals Mantel. In diesem Bericht finden sich die berühmt gewordenen Worte, es ist der „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten“.
Mystiker, die es in allen sogenannten Hochreligionen gibt, gelten als Menschen, welche durch ein besonders intensives spirituelles Leben, meist auch ein besonders asketisches, heilige Wesen oder Gott selbst erfahren haben. Die Mystiker glauben also, Gott (oder Götter) nicht nur vom Hörensagen oder aus einem Buch zu kennen, nicht nur in Form eines starken spirituellen Gefühls, etwa dem, die Welt sei vom göttlichem Geist durchpulst, sondern aus direkter oder indirekter persönlicher Begegnung. Mystische Erfahrungen werden von vielen religiösen Menschen als Gottesbeweise verstanden.
Christliche Mystiker „treffen“ sich gerne mit der sogenannten Heiligen Familie, der Mutter Maria, dem „Vater“ Joseph, dem „Sohn“ Jesus und Gott selbst. Hinduistische Mystiker begegnen indischen Göttinnen und Göttern, wie Shiva, Krishna und Brahman. Buddhistische Mystiker erfahren die Leere, für sie die wahre Natur des Seins. Islamische Mystiker erfahren die ganze Welt als Allah.
Im Gegensatz zu den Schamanen oder animistischen Medien suchen die Mystiker im Jenseits in der Regel keine Verbündete, die ihnen bei konkreten Diesseitsaufgaben helfen. Mystiker suchen Bestätigung ihres Glaubens, das heißt die Versicherung, dass sie gerettet werden oder sind, vor allem suchen sie aber Geborgenheit und Anerkennung von ganz oben.
Mystische Jenseitserfahrungen gibt es unbestreitbar. Für die Erfahrenden sind sie so eindringlich, dass sie diese als sozusagen wissenschaftliche Beweise ihres Glaubens verstehen, der sich dadurch zu einem Wissen verwandelte.
Diese „Erfahrungen“ sind relativ einfach auf natürliche Weise zu erklären. Es benötigt hierfür Kenntnisse über den kulturellen Hintergrund und die Sozialisation der betreffenden Personen. Für die christlichen mittelalterlichen Mystiker liegt eine Untersuchung vor, welche detailliert die Mechanismen mystischer Schauen beleuchtet. Mystiker waren demnach Menschen, die in ihrer Kindheit schwere seelische und körperliche Misshandlungen erlitten und in einer Umgebung aufwuchsen, welche ihnen religiöse Interpretationen ihres unverstandenen Schicksals anbot. Ihr ganzes Leben versuchten sie, mit schmerzhaften irrationalen Heilungsversuchen ihre Kindheitstraumata zu bewältigen. Halluzinationen, als Visionen verklärt, boten ihnen vorübergehende Erleichterung. (Näheres zu den psychischen Erkrankungen der christlichen Mystiker und zu den sogenannten apersonalen Mystiken, die sich vor allem in östlichen Religionen finden, in Religion).
Was grundsätzlich gegen mystische Erfahrungen spricht
Für die mystischen Erfahrungen gelten die gleichen Einwände wie für die Geistererfahrungen. Wir haben sie im ersten Abschnitt unserer Religionskritik dargelegt. Diese Einwände gelten auch für Erfahrungen der Mystiker polytheistischer Religionen.
Der Haupteinwand: Gegen Jenseitserfahrungen, ob schamanischer oder mystischer Natur, spricht die fehlende Überprüfbarkeit: Weder haben mehrere Menschen nachweislich gleichzeitig jenseitige Wesen wahrgenommen, noch haben solche etwas mitgeteilt, was die Menschen nicht wissen konnten und sich später als wahr herausstellte.
Bei den mystischen Erfahrungen stellt sich zudem die Frage nach der Vereinbarkeit der Erfahrungen der Mystiker der verschiedenen Religionen: Diese Erfahrungen können einfach nicht alle wahr sein. Wenn der Monotheismus wahr ist, kann es kein hinduistisches, buddhistisches oder taoistisches Jenseitspersonal geben. Und umgekehrt, wenn der Polytheismus wahr ist, kann es keinen Jahwe oder Allah als einzigen Gott geben. Auch sind die Erfahrungen der christlichen Mystiker nicht mit denen der muslimischen Mystiker vereinbar: Jesus wird von ersteren als Gottes Sohn oder als Gott erfahren, von letzteren nicht. Für den Islam ist Jesus ja nur ein Prophet unter vielen Propheten.
Warum erfahren Mystiker immer nur übernatürliche Wesen der eigenen Religion?
Höchstwahrscheinlich, weil diese Erfahrungen, genau wie die Geistererfahrungen, theorieinduziert sind. Den Mystikern wurde von diesen übernatürlichen Wesen von Kindesbeinen an erzählt, für ihre Psyche gehörten sie zur Familie, zur reichen Verwandtschaft. Als die Mystiker in ihre Psyche hinab stiegen, lernten sie endlich die reiche Verwandtschaft kennen.
Fazit: Dagegen, dass Offenbarungen von Gott oder anderen übernatürlichen Wesen stammen, spricht:
- Offenbarungen sind nicht überprüfbar, jeder kann solche behaupten.
- Sie enthalten kein Wissen, das über das ihre Entstehungszeit hinausgeht.
- Sie bedeuten widersprüchliche Behauptungen, da Wesenheiten erfahren werden die, nach dem Glauben der jeweiligen Religionen, nicht alle existieren können.
- „Begegnungen“ mit „jenseitigen“ Wesen lassen sich problemlos auf natürliche Weise erklären. Sie können bewusst oder unbewusst durch verschiedenste Methoden herbeigeführt werden.
Argumente für Religion auf dem Prüfstand (1), 7.1.2.2012
Alfred Binder studierte Sozialarbeit und Philosophie. 2009 erschien sein Buch „Mythos Zen“, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zen-Buddhismus. Der vorliegende Text basiert auf einem Kapitel aus seinem neuen Buch „Religion. Eine kurze Kritik“, das im Herbst als erster Band der Reihe Kritikpunkt.e im Alibri Verlag erschienen ist.
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.