(hpd) Der US-amerikanische Historiker Jonathan Sperber legt eine neue Marx-Biographie vor, welche den Denker nicht aus der Perspektive des 20., sondern des 19. Jahrhunderts sieht. Diese historisierende Perspektive steht für die Besonderheit und Qualität der Lebensbeschreibung auf neuestem Forschungsstand.
Nach der Auflösung der Staatensysteme des „real existierenden Sozialismus“ stellte sich bezogen auf Karl Marx die Frage: War die diktatorische Dimension der DDR oder der Sowjetunion bereits bei dem Philosophen angelegt oder hatte seine Lehre mit eben diesen politischen Phänomenen nichts zu tun? Die damit einhergehende Perspektive nahm somit einen Denker des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts in den Blick.
Gerade das will Jonathan Sperber, der an der Universität von Missouri als Professor Geschichte lehrt, nicht. Seine Biographie trägt im englischen Original den Titel „Karl Marx. A Nineteenth-Century Life“ und erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert“. Erklärtermaßen geht es dem Autor somit um die Einbettung des wohl nach Luther wirkmächtigsten Deutschen in seine Zeit. In der Einführung dazu stellt sich Sperber als Historiker vor, der die Vergangenheit aus sich heraus und nicht nach heutigen Vorstellungen beurteilen und deuten möchte.
Entsprechend heißt es auch: „Das Bild von Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: Er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der hegelschen Philosophie, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie. Vielleicht ist es sogar sinnvoller Marx als einen rückwärtsgewandten Menschen zu sehen, der die Gegebenheiten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Zukunft projizierte, und nicht als einen souveränen und vorausschauenden Interpreten historischer Tendenzen. Das sind die Prämissen, die dieser Marx-Biographie zugrunde liegen“ (S. 9). Neben dieser Perspektive macht die Auswertung der vollständigen Ausgabe der Schriften von Marx und Engels in Form der MEGA („Marx-Engels-Gesamtausgabe“) das Besondere der Lebensbeschreibung aus.
In der Struktur hat man es mit der klassischen historisch-chronologischen Darstellung zu tun, wobei Sperber den einzelnen Kapiteln jeweils Titel bezogen auf die Rolle von Marx gibt. Sie reichen von „Der Sohn“ und „Der Redakteur“ über „Der Umstürzler“ und „Der Aktivist“ bis zu „Der Ökonom“ und „Der Privatmann“. Nur in den letzten Kapiteln nimmt er eine übergreifende Betrachtung vor, etwa wenn es um die Person von Marx im engeren Sinne oder die Entwicklung seiner wirtschaftspolitischen Auffassungen geht.
Der Historiker liefert in seiner umfangreichen Lebensbeschreibung zwar keine wirklich bedeutsamen neuen Erkenntnisse, die von ihm gewählte Perspektive macht aber das nüchtern gehaltene Buch interessant. Immer wieder bettet Sperber das Denken und Handeln von Marx in die seinerzeitigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Europa ein. Er unterlässt dabei gleichwohl eine Einschätzung des Philosophen eben hinsichtlich dieser Dimension, fehlt doch etwa auch eine nähere Erläuterung seiner postulierten „Rückwärtsgewandtheit“.
Indessen findet man sehr wohl immer wieder interessante Details und Einschätzungen. So heißt es: „In seinen anfänglichen öffentlichen Kommentaren zum Thema Kommunismus kam dieser nicht gerade gut weg: eigentlich schlug Marx sogar ausgesprochen antikommunistische Töne an“ (S. 107). Sperber geht auch auf die Frage der jüdischen Identität von Marx ein und spricht die Vorwürfe des Antisemitismus an. Dabei formuliert er interessante Gedanken, die aber nicht inhaltlich abgeschlossen und systematisch zugespitzt werden.
Beachtenswert ist die Deutung des Historikers bezogen auf das Bild von einem angeblich unterschiedlichen Marx: „Die Postulierung eines Kontrasts zwischen dem jungen und dem älteren Marx übersieht die Kontinuität hegelscher Konzepte in Marx’ geistigem Schaffen“ (S. 152). Ebenso findet Marx’ persönliche Rolle bei inner-sozialistischen Auseinandersetzungen seine Aufmerksamkeit: „Die Streitigkeiten ... wurden überwiegend mit der Waffe der persönlichen Beleidigung ausgetragen“ (S. 274).
Armin Pfahl-Traughber
Jonathan Sperber, Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl Heinz Siber, München 2013 (C. H. Beck-Verlag), 634 S., 29,95 €.