Studie zieht einseitige Schlüsse

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BERLIN. (hpd) Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) veröffentlichte Anfang April das Ergebnis einer Studie zum Thema "Christliche Religiosität und elterliche Gewalt". Wichtigstes Ergebnis: In evangelikalen Familien werden Kinder sehr viel häufiger geschlagen als in katholischen oder evangelischen. Das ist aber nicht alles.

Als Nebenergebnis wird erwähnt, dass sich in katholischen und evangelischen Familien eine intensivere Religiosität eher hemmend auf die Gewalttätigkeit der Eltern auswirkt. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Das Forschungsinstitut konstatiert: "In katholischen Familien, in denen die Eltern keine Akademiker sind und in denen ein nicht religiöses Elternhaus vorliegt, berichten 14,3 % der Befragten von schwerer elterlicher Gewalt; in Familien, in denen das Elternhaus sehr religiös ist, liegt der Anteil bei 11,8 %. Mit zunehmender Religiosität geht die Erfahrung schwerer elterlicher Gewalt in katholischen Familien also leicht zurück." (S. 7)

Anschließend wird behauptet, dass für evangelische Familien ein ähnlicher Zusammenhang feststellbar sei, abgesehen von den nicht-akademischen Familien. Wirft man aber einen Blick in die entsprechende Statistik (Abb. 4), so wird klar, dass nicht nur in den nicht-akademischen, sondern in allen evangelischen Familien die schwere Gewalt mit zunehmender Religiosität deutlich zunimmt, nämlich von 12,4 % (nicht religiös) auf 16,8 % (sehr religiös). In den nicht-akademischen Familien gab es dagegen eine Steigerung in der ausgeübten schweren Gewalt von 13,4 % (nicht religiös) auf 16,9 % (sehr religiös). Da der Unterschied bei allen evangelischen Familien 4,4 % beträgt, bei den nicht-akademischen Familien aber lediglich 3,5 %, muß daraus geschlossen werden, dass die Gewalt in evangelischen Akademiker-Familien mit zunehmender Religiosität noch stärker zunimmt als bei Nichtakademikern.

Gleiches trifft auf die katholischen Akademikerfamilien zu, deren Gewaltverhalten bei zunehmender Religiosität dermaßen stark ansteigt, dass in der Gesamtstatistik lediglich ein Rückgang schwerer Gewalt von 1,7 % (im Vergleich zu 2,5 % bei den Nichtakademiker-Familien) zu verzeichnen ist.  Diese Tatsachen werden im Ergebnisbericht verschwiegen.

Verschwiegen wird auch, dass das gesamte Ausmaß an Gewalt - also leichte und schwere zusammengerechnet - mit zunehmender Religiosität sowohl bei katholischen Familien (von 57,3 % bei nichtreligiösen auf 58,5 % bei sehr religiösen Familien) als auch bei evangelischen Familien (von 58,2 % bei nicht-religiösen auf 61,1 % bei sehr religiösen Familien) zunimmt. Und das fast doppelt so stark bei evangelischen (2,9 %) als bei katholischen Familien (1,5 %).

Insofern stimmt dieser Satz aus der Studie nicht: "Während für katholische und evangelische Familien festgehalten werden kann, dass eine stärkere Religiosität die Anwendung innerfamiliärer Gewalt tendenziell unwahrscheinlicher macht, gilt für die freikirchlichen Familien, dass mit zunehmender Religiosität die innerfamiliäre Gewalt steigt."

Hier müsste auch deutlich zwischen evangelischen und katholischen Familien unterschieden werden, denn die Ausgangsfrage hieß: "Unterscheiden sich Katholiken, Protestanten und Angehörige der evangelischen Freikirchen hinsichtlich der erlebten Erziehungserfahrung, insbesondere hinsichtlich der Erfahrung innerfamiliärer Gewalt?"

Es steht zu vermuten, dass es in evangelischen Kreisen eine gegen Kinder gerichtete Gewalttradition gibt, der Urvater Luther ganz wesentliche Impulse gegeben hat. Diese Tradition scheint sich auch bei den evangelikalen Familien fortzusetzen.

Das Ergebnis der Erwachsenenbefragung des KFN von 2011, die ähnliche Fragestellungen hatte, wird zitiert mit: "Bei den katholischen und evangelischen Befragten findet sich dagegen kein Zusammenhang zwischen der Stärke der religiösen Bindung und den innerfamiliären Gewalterfahrungen."

Besieht man sich die Zahlen der entsprechenden Statistik genau (S. 8, Abb. 5), so ist festzustellen, dass umgekehrt zum Ergebnis der aktuellen Studie die Gesamtgewalt in katholischen Familien mit zunehmender Religiosität eindeutig zunimmt (von 43,7 % bei nicht oder etwas religiösen Familien auf 46,2 % bei sehr religiösen Familien), während sie bei evangelischen Familien nur geringfügig ansteigt (46 % zu 46,6 %). Ein Unterschied von 2,5 % war den Kriminologen bei der aktuellen Befragung noch eine Erwähnung wert gewesen.

Die aktuelle Studie kommt zu dem "überraschenden" Ergebnis, dass die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen mit zunehmender Religiosität abnimmt.
Viel mehr überrascht wäre die Forschergruppe, wenn sie genau dieselben Jugendlichen etwa 10-15 Jahre später nach ihrem Gewaltverhalten innerhalb der Kindererziehung befragte und feststellen müsste, dass diese Eltern genau so gewalttätig sind wie andere Eltern bzw. mit zunehmender Religiosität sehr wahrscheinlich noch gewalttätiger. 

Überrascht waren die Forscher auch, dass Jugendliche mit freikirchlichem Hintergrund tendenziell weniger gewalttätig waren, obwohl sie statistisch gesehen mehr familiäre Gewalt erlebt hatten. Erklärt wird dieses Phänomen mit der stärkeren sozialen Kontrolle innerhalb dieser Religionsgemeinschaften, der Angst vor Strafen bei Fehlverhalten und einem grundsätzlich ängstlich-angepassteren Verhalten.

Mit gleicher Begründung lässt sich erklären, warum evangelische und katholische Jugendliche laut dieser Statistik ebenso weniger gewaltbereit sind, je religiöser sie sind. Das betrifft besonders die streng religiösen katholischen Jugendlichen, die die niedrigste Gewalttätigkeit aufweisen. Im Katholizismus existiert immer noch die Drohung von Höllenstrafen bei Fehlverhalten, die auf Jugendliche besonders abschreckend wirkt.

Katharina Micada

Die Studie läßt sich hier nachlesen.