Plädoyer für eine transkulturelle Erziehung

Das nenne ich grammatikalische Integrationsbehinderung. Durch einen bestimmen Gebrauch der Sprache wird hier die Zugehörigkeit zu Deutschen grammatikalisch verwehrt. Vielleicht gibt es neben der vielfach beschworenen Integrationsverweigerung auch so etwas wie die unbewusste, strukturelle Integrationsverwehrung. Transkulturelles Lernen soll uns dazu befähigen, solche strukturellen Hindernisse zu erkennen und zu durchbrechen. Das ist das, was ich mit der Freiheit meine: sich frei bewegen können, frei von Kategorien und Schemata, die die Politik und Gesellschaft an einen herantragen.

Wissen Sie noch, dass Christian Wulff, als niedersächsischer Ministerpräsident, eine Integrationsministerin mit türkischer Abstammung ins Kabinett holte? Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg folgte diesem Beispiel. In der neuen italienischen Regierung unter Enrico Letta wurde eine Integrationsministerin mit kongolesischer Abstammung ins Amt berufen. Ist das nicht gut? Das zeugt von interkultureller Öffnung und Chancengerechtigkeit. Aber auf den zweiten Blick lässt das in mir eine Skepsis aufkommen: Warum gerade dieses Ressort? Warum nicht eine Kultusministerin oder Justizministerin mit Migrationshintergrund? Gesellschaftliche Anerkennung darf nicht mit der Botschaft einhergehen, Personen mit Migrationshintergrund seien für ganz bestimmte Aufgaben prädestiniert.

Eine Vorlesung von Ihnen aus dem Jahre 2011 trägt den Titel „Transkulturelle Kompetenzen. Wie gehe ich als Lehrperson mit kulturellen Differenzen um?“ Ist es möglich, Lehrpersonen eine „erste Hilfe“ in wenigen Worten zu geben?

In der Vorlesung hatte ich Lehramtsstudierenden der Universität Tübingen vier Empfehlungen an die Hand gegeben, die ich dann später in dem Buch „Wir sind wie Baumstämme im Schnee“ ausgearbeitet habe. Sie lauten: differenzieren statt polarisieren, entkategorisieren bzw. entschematisieren, historisieren statt essentialisieren, kontextualisieren statt kulturalisieren. Ich will sie am Beispiel von zwei Aufgabenbereichen erläutern, die mir als Kulturwissenschaftler besonders am Herzen liegen.

Zum einen: Die Wertevermittlung. Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte werden gerne westliche Werte genannt. Ich denke, dass dies eine kulturelle Vereinnahmung ist. Die ihr zugrunde liegende Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt polarisiert. Darin schwingt zudem ein Moment der Essentialisierung mit, die sich über das historische Ringen um diese Werte hinwegsetzt und die Kompetenz zu ihrer Vermittlung gleichsam monopolisiert. Wenn wir uns vergegenwärtigen, durch welche globalen Kämpfe diese Werte sich Schritt für Schritt, von Konsens zu Konsens, zu ihrer heutigen Form entwickelt haben, so sollten wir vielmehr von universellen Werten sprechen. Kultur trennt nicht, sondern vereint. Sie bietet Chancen zur Teilhabe.

Zum anderen: Die Sensibilisierung für Kultur und Politik, und wie sie einander bedingen. Es gibt Regionen in der Welt, in denen radikale religiöse oder politische Gruppierungen agieren. Um den Problemen gerecht zu werden, ist es wenig damit getan, sie aus größtmöglichem Abstand als Ausdrucksformen andersartiger Kulturen zu begreifen, das heißt sie zu kulturalisieren. Im Gegenteil: Wo wir die Andersartigkeit von Kultur herausstreichen, bleiben soziale, politische und ökonomische Probleme, die ebenfalls zu Prozessen der Radikalisierung beitragen, unterbelichtet. Die Interessen der Elite, die Rolle der Geheimdienste, der konzentrierte Reichtum, die Massenarmut: Das sind alle Faktoren, die der Entwicklung von Kultur vielmehr hinderlich sind. Kultur kann nur in ihren komplexen Zusammenhängen angemessen erfasst werden.

Lehrerinnen und Lehrer können sich vier Kontrollfragen stellen, um zu sehen, ob sie sich auf dem transkulturellen Weg befinden:

  1. Spreche ich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern von Kulturen als etwas, worauf sie ihr Leben lang Einfluss nehmen können, statt als etwas, woran sie nichts ändern können?
  2. Messe ich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern Faktoren wie sozialer Schicht, Geschlecht, Religion, sozialem Umfeld und sexueller Orientierung vergleichbare Bedeutung bei wie dem Faktor „Kultur“?
  3. Achte ich genauso darauf, welche Wege die Schülerinnen und Schüler in ihrem bisherigen Leben zurückgelegt haben, wie darauf, woher sie, ihre Eltern oder ihre Großeltern stammen?
  4. Achte ich genauso darauf, was bei den Schülerinnen und Schülern an außerkulturellem Potential vorhanden ist, wie darauf, was bei ihnen an kulturellen Ressourcen da ist?

Ich bin zuversichtlich, dass mit der Zeit immer mehr Lehrerinnen und Lehrer diese Fragen bejahen werden. Ihnen wird die Zukunft gehören.

Herr Takeda, vielen Dank für das Interview und Ihre Erfolgswünsche an die Kritische Islamkonferenz 2013!

Lassen Sie mich transkulturell entgegnen: Thank you for having me! Meine Erfolgswünsche an die Kritische Islamkonferenz kann ich nur mit größtem Nachdruck wiederholen.

Die Fragen stellte Nicolai Sprekels.