Plädoyer für eine transkulturelle Erziehung

arata-takeda-2011.gif

Arata Takeda / Foto: americanfriends-of-avh.org

CHICAGO/BERLIN. (hpd) Arata Takeda, der das Buch „Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung“ veröffentlichte, drückte in einem Gruß seine Wertschätzung für die Kritische Islamkonferenz aus, die auch das transkulturelle Lernen thematisiert. In einem Interview erläutert er das Konzept.

gbs: Herr Takeda, vergangene Woche schickten Sie der Giordano-Bruno-Stiftung aus Chicago einen Gruß mit „großer Wertschätzung darüber, dass die Kritische Islamkonferenz 2013 sich unter anderem auch dem Thema ‚Transkulturelles Lernen in der Schule‘ widmen wird“. Der Begriff ist sicher nicht jedem auf Anhieb geläufig, könnten Sie ihn bitte kurz erklären?

Arata Takeda: Ich finde es ausgesprochen erfreulich, dass die Kritische Islamkonferenz sich neben vielen anderen auch dieses Themas annimmt. Das Thema ist im Augenblick in der Erziehungsdebatte noch eher unterrepräsentiert, aber ich bin davon überzeugt, dass dies sich bald ändern wird. In der Debatte ist gerade vieles in Bewegung, und die Kritische Islamkonferenz beweist, indem sie sich dem Thema zuwendet, dass sie da ganz vorne mitspielt.

Transkulturelles Lernen heißt, mit einem Wort, lernen, über kulturelle Differenzen hinauszudenken. Seitdem wir wissen, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, denken wir immer häufiger in kulturellen Differenzen. Das ist an sich eine begrüßenswerte Entwicklung, denn über die lange Zeit, da Deutschland sich weigerte, sich als Einwanderungsland zu verstehen, war auch das nicht nötig. Die Einwanderungsgesellschaft hat uns für die Vielfalt von Kulturen sensibilisiert. Wir wissen heute viel mehr über andere Kulturen als vor ein paar Jahrzehnten, und wir sind auch viel besser in der Lage, kulturelle Differenzen zu erkennen und zu verstehen. Aber sind wir damit auch als Gesellschaft insgesamt zusammengerückt? Das ist die entscheidende Frage, die sich nach einem halben Jahrhundert Einwanderung in Deutschland stellt.

Ich sehe, dass das Denken in kulturellen Differenzen auch die Gefahr mit sich gebracht hat, die Bedeutung von Kultur überzubewerten. Worte wie „kulturbedingt“ und „kulturspezifisch“ haben in unserem Vokabular Hochkonjunktur. Dinge, die so bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit viel komplexer, aber Kultur macht das Erklären von Dingen einfacher, bequemer. In den USA geschieht das gerade: Die mutmaßlichen Bombenleger von Boston werden in erster Linie als muslimische und tschetschenische Einwanderer wahrgenommen. Ein solches Denken hat drei fatale Folgen: Das vermindert unser Urteilsvermögen, verfälscht unser Wissen über Kulturen und treibt die multikulturelle Gesellschaft auseinander.

Transkulturelles Lernen kann helfen, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Wenn es etwas gibt, was uns am harmonischen Zusammenleben hindert, so ist es nicht die Kultur, sondern die allzu starre Einstellung dazu. Um solche Einstellungen aufzuweichen, ist es notwendig, dass wir erkennen, dass Kultur etwas Bewegliches, Veränderbares ist, und dass jeder einzelne von uns Teil dieser Bewegung und Veränderung ist. Nicht die Kultur bestimmt, wer wir sind, sondern wir bestimmen die Kultur, indem wir sie von Tag zu Tag verändern und neu gestalten. In diesem Sinne sind wir gut beraten, unsere Annahmen über Kulturen stets zu hinterfragen. Und die erste Anleitung dazu kann in der Schule beginnen.

Was läuft beim Lernen in der Schule momentan falsch, Stichwort: „Kulturalismusfalle“? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Zusammenleben verschiedener Kulturen?

Ich würde nicht sagen, dass etwas in der Schule falsch laufe. Ich würde eher sagen, dass wir jetzt den Zeitpunkt erreicht haben, da das bisherige Lernen in eine neue Phase treten muss. Es hat sich in letzter Zeit viel getan in Sachen interkulturelles Lernen. Es wurde viel erreicht bei der Förderung von Verständnis für, Akzeptanz von und Toleranz gegenüber anderen Kulturen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Wir sind, durch interkulturelle Erziehung, auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ein sehr großes Stück vorangekommen. Aber jetzt müssen wir darauf den nächsten Schritt folgen lassen. Jetzt ist transkulturelle Erziehung an der Reihe.

Interkulturelles und transkulturelles Lernen sind keine Gegensätze, sie schließen einander nicht aus. Vielmehr ergänzen sie einander, so dass das eine, wenn es seine Aufgabe erfüllt hat, durch das andere abgelöst werden soll. Der Zeitpunkt kann jetzt günstiger nicht sein. Wissen Sie, dass das Statistische Bundesamt Menschen von der ersten bis zur dritten Zuwanderergeneration als Personen mit Migrationshintergrund einstuft? Das kulturelle Selbstverständnis der heute heranwachsenden zweiten und dritten Zuwanderergeneration widersetzt sich, soweit ich übersehen kann, einer solchen Kategorisierung dezidiert. Unsere Gesellschaft befindet sich im Übergang, und wenn die Schule damit Schritt halten will, so muss auch sie sich neu aufstellen. Es ist an der Zeit, von interkulturellen zu transkulturellen Ansätzen überzugehen.

Sie haben das Stichwort „Kulturalismusfalle“ genannt. Wir tappen in diese Falle, wenn wir komplexe Probleme kurzerhand auf kulturelle Differenzen zurückführen, ohne dabei andere Faktoren zu beachten wie etwa soziale, politische oder ökonomische. So scheint am Ende Kultur an vielem schuldig zu sein: Bildungsarmut, Kriminalität, fehlender Integration. Solche Kurzschlüsse sind nicht nur sachlich falsch, sie sind dem gesellschaftlichen Zusammenleben abträglich. Interkulturelles Lernen hat uns dazu angeleitet, die eigene Kulturbrille abzulegen, und unser Blick für andere Sichtweisen und Standpunkte wurde geschärft. Das war richtig und wichtig. Aber wir sollten die Kulturbrille dann auch wirklich abgelegt haben, und sie nicht bloß durch eine Kulturalismusbrille ersetzt haben.

Sie haben eine Schrift zum Thema veröffentlicht, „Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung“, in dem Sie die Erziehung als Beginn gesellschaftlichen Denkens postulieren.

Die Schule ist die Gesellschaft in Miniatur. Das gemeinschaftliche Zusammenleben im Kleinen bereitet für das gesellschaftliche Zusammenleben im Großen vor. Insofern beginnt schon in der Schule das Denken darüber, wie man mit anderen respektvoll umgeht, wie man harmonisch zusammenlebt. Dieses Denken will gelernt sein. Unter lernen verstehe ich weniger das Anhäufen als vielmehr das Sich-Aneignen, Sich-zu-eigen-Machen von Wissen im Hinblick darauf, wie man es anwendet. Erziehung ist anwendungsorientierte Wissensvermittlung. Daher richtet sich mein Buch an Lehrerinnen und Lehrer, das heißt Vermittlerinnen und Vermittler von Wissen, dessen Anwendung respektvollen Umgang miteinander und harmonisches Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft fördert.

Schülerinnen und Schüler befinden sich mitten in einer Reihe von Prozessen der Persönlichkeitsbildung. Es bilden sich Grundlagen von Selbstbewusstsein, Vorstellungen von Identität, Gefühle von Zusammengehörigkeit, aber auch Bedürfnisse nach Abgrenzung. Diese Prozesse wollen von einem Wissen begleitet sein, das ihren Verlauf kritisch reflektiert. Ob unsere Gesellschaft von morgen eine vereinte oder zerrissene Gesellschaft sein wird, wird davon abhängen, wie unsere Schülerinnen und Schüler von heute mit Kulturen gestalterisch umgehen lernen.

Weiter ziehen Sie den Schluss, dass die transkulturelle Erziehung „uns allen die Freiheit zurückzugeben vermag“. Wie das?

Vor ein paar Jahren begegnete mir ein Schüler, der sich mir vorstellte und sagte, er komme aus der Türkei. Im weiteren Verlauf des Gespräches stellte sich dann heraus, dass seine Eltern aus der Türkei nach Deutschland zugewandert waren, er aber in Deutschland geboren worden war. Er komme also nicht aus der Türkei, wollte ich berichtigen. Er hat verstanden, was ich damit sagen wollte, meinte aber, in mancher Situation sei es eben unkomplizierter zu sagen, er komme aus der Türkei. Unkomplizierter! Mir drängte sich die Frage auf: Was ist es, das ihm das Gefühl gibt, man erwarte von ihm, dass er sage, er komme aus der Türkei? Was ist es, das ihm die Freiheit verwehrt, sagen zu können, er komme aus Deutschland?

Man kann dazu eine Reihe von Faktoren nennen: gesellschaftliche, politische, psychologische. Ich will hier nur eines als Beispiel herausgreifen: die Sprache. Wir sprechen von „Deutsch-Türken“, „Deutsch-Kosovaren“ und so weiter, und meinen damit unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit dem und dem Migrationshintergrund. Vergleichen Sie diese Bezeichnungen mit solchen wie Deutsch-Amerikaner oder Afro-Amerikaner, also Amerikaner deutscher Abstammung, Amerikaner afrikanischer Abstammung. Ist das nicht merkwürdig? Soll ein Deutsch-Türke ein Türke deutscher Abstammung sein? Das Wort „Deutsch-Türke“ betont, dass die damit bezeichnete Person in der Hauptsache Türke ist, ganz gleich, ob er nur zu einem Viertel Türke ist oder einen deutschen Pass hat.

Das nenne ich grammatikalische Integrationsbehinderung. Durch einen bestimmen Gebrauch der Sprache wird hier die Zugehörigkeit zu Deutschen grammatikalisch verwehrt. Vielleicht gibt es neben der vielfach beschworenen Integrationsverweigerung auch so etwas wie die unbewusste, strukturelle Integrationsverwehrung. Transkulturelles Lernen soll uns dazu befähigen, solche strukturellen Hindernisse zu erkennen und zu durchbrechen. Das ist das, was ich mit der Freiheit meine: sich frei bewegen können, frei von Kategorien und Schemata, die die Politik und Gesellschaft an einen herantragen.

Wissen Sie noch, dass Christian Wulff, als niedersächsischer Ministerpräsident, eine Integrationsministerin mit türkischer Abstammung ins Kabinett holte? Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg folgte diesem Beispiel. In der neuen italienischen Regierung unter Enrico Letta wurde eine Integrationsministerin mit kongolesischer Abstammung ins Amt berufen. Ist das nicht gut? Das zeugt von interkultureller Öffnung und Chancengerechtigkeit. Aber auf den zweiten Blick lässt das in mir eine Skepsis aufkommen: Warum gerade dieses Ressort? Warum nicht eine Kultusministerin oder Justizministerin mit Migrationshintergrund? Gesellschaftliche Anerkennung darf nicht mit der Botschaft einhergehen, Personen mit Migrationshintergrund seien für ganz bestimmte Aufgaben prädestiniert.

Eine Vorlesung von Ihnen aus dem Jahre 2011 trägt den Titel „Transkulturelle Kompetenzen. Wie gehe ich als Lehrperson mit kulturellen Differenzen um?“ Ist es möglich, Lehrpersonen eine „erste Hilfe“ in wenigen Worten zu geben?

In der Vorlesung hatte ich Lehramtsstudierenden der Universität Tübingen vier Empfehlungen an die Hand gegeben, die ich dann später in dem Buch „Wir sind wie Baumstämme im Schnee“ ausgearbeitet habe. Sie lauten: differenzieren statt polarisieren, entkategorisieren bzw. entschematisieren, historisieren statt essentialisieren, kontextualisieren statt kulturalisieren. Ich will sie am Beispiel von zwei Aufgabenbereichen erläutern, die mir als Kulturwissenschaftler besonders am Herzen liegen.

Zum einen: Die Wertevermittlung. Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte werden gerne westliche Werte genannt. Ich denke, dass dies eine kulturelle Vereinnahmung ist. Die ihr zugrunde liegende Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt polarisiert. Darin schwingt zudem ein Moment der Essentialisierung mit, die sich über das historische Ringen um diese Werte hinwegsetzt und die Kompetenz zu ihrer Vermittlung gleichsam monopolisiert. Wenn wir uns vergegenwärtigen, durch welche globalen Kämpfe diese Werte sich Schritt für Schritt, von Konsens zu Konsens, zu ihrer heutigen Form entwickelt haben, so sollten wir vielmehr von universellen Werten sprechen. Kultur trennt nicht, sondern vereint. Sie bietet Chancen zur Teilhabe.

Zum anderen: Die Sensibilisierung für Kultur und Politik, und wie sie einander bedingen. Es gibt Regionen in der Welt, in denen radikale religiöse oder politische Gruppierungen agieren. Um den Problemen gerecht zu werden, ist es wenig damit getan, sie aus größtmöglichem Abstand als Ausdrucksformen andersartiger Kulturen zu begreifen, das heißt sie zu kulturalisieren. Im Gegenteil: Wo wir die Andersartigkeit von Kultur herausstreichen, bleiben soziale, politische und ökonomische Probleme, die ebenfalls zu Prozessen der Radikalisierung beitragen, unterbelichtet. Die Interessen der Elite, die Rolle der Geheimdienste, der konzentrierte Reichtum, die Massenarmut: Das sind alle Faktoren, die der Entwicklung von Kultur vielmehr hinderlich sind. Kultur kann nur in ihren komplexen Zusammenhängen angemessen erfasst werden.

Lehrerinnen und Lehrer können sich vier Kontrollfragen stellen, um zu sehen, ob sie sich auf dem transkulturellen Weg befinden:

  1. Spreche ich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern von Kulturen als etwas, worauf sie ihr Leben lang Einfluss nehmen können, statt als etwas, woran sie nichts ändern können?
  2. Messe ich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern Faktoren wie sozialer Schicht, Geschlecht, Religion, sozialem Umfeld und sexueller Orientierung vergleichbare Bedeutung bei wie dem Faktor „Kultur“?
  3. Achte ich genauso darauf, welche Wege die Schülerinnen und Schüler in ihrem bisherigen Leben zurückgelegt haben, wie darauf, woher sie, ihre Eltern oder ihre Großeltern stammen?
  4. Achte ich genauso darauf, was bei den Schülerinnen und Schülern an außerkulturellem Potential vorhanden ist, wie darauf, was bei ihnen an kulturellen Ressourcen da ist?

Ich bin zuversichtlich, dass mit der Zeit immer mehr Lehrerinnen und Lehrer diese Fragen bejahen werden. Ihnen wird die Zukunft gehören.

Herr Takeda, vielen Dank für das Interview und Ihre Erfolgswünsche an die Kritische Islamkonferenz 2013!

Lassen Sie mich transkulturell entgegnen: Thank you for having me! Meine Erfolgswünsche an die Kritische Islamkonferenz kann ich nur mit größtem Nachdruck wiederholen.

Die Fragen stellte Nicolai Sprekels.