Plädoyer für eine transkulturelle Erziehung

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Arata Takeda / Foto: americanfriends-of-avh.org

CHICAGO/BERLIN. (hpd) Arata Takeda, der das Buch „Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung“ veröffentlichte, drückte in einem Gruß seine Wertschätzung für die Kritische Islamkonferenz aus, die auch das transkulturelle Lernen thematisiert. In einem Interview erläutert er das Konzept.

gbs: Herr Takeda, vergangene Woche schickten Sie der Giordano-Bruno-Stiftung aus Chicago einen Gruß mit „großer Wertschätzung darüber, dass die Kritische Islamkonferenz 2013 sich unter anderem auch dem Thema ‚Transkulturelles Lernen in der Schule‘ widmen wird“. Der Begriff ist sicher nicht jedem auf Anhieb geläufig, könnten Sie ihn bitte kurz erklären?

Arata Takeda: Ich finde es ausgesprochen erfreulich, dass die Kritische Islamkonferenz sich neben vielen anderen auch dieses Themas annimmt. Das Thema ist im Augenblick in der Erziehungsdebatte noch eher unterrepräsentiert, aber ich bin davon überzeugt, dass dies sich bald ändern wird. In der Debatte ist gerade vieles in Bewegung, und die Kritische Islamkonferenz beweist, indem sie sich dem Thema zuwendet, dass sie da ganz vorne mitspielt.

Transkulturelles Lernen heißt, mit einem Wort, lernen, über kulturelle Differenzen hinauszudenken. Seitdem wir wissen, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, denken wir immer häufiger in kulturellen Differenzen. Das ist an sich eine begrüßenswerte Entwicklung, denn über die lange Zeit, da Deutschland sich weigerte, sich als Einwanderungsland zu verstehen, war auch das nicht nötig. Die Einwanderungsgesellschaft hat uns für die Vielfalt von Kulturen sensibilisiert. Wir wissen heute viel mehr über andere Kulturen als vor ein paar Jahrzehnten, und wir sind auch viel besser in der Lage, kulturelle Differenzen zu erkennen und zu verstehen. Aber sind wir damit auch als Gesellschaft insgesamt zusammengerückt? Das ist die entscheidende Frage, die sich nach einem halben Jahrhundert Einwanderung in Deutschland stellt.

Ich sehe, dass das Denken in kulturellen Differenzen auch die Gefahr mit sich gebracht hat, die Bedeutung von Kultur überzubewerten. Worte wie „kulturbedingt“ und „kulturspezifisch“ haben in unserem Vokabular Hochkonjunktur. Dinge, die so bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit viel komplexer, aber Kultur macht das Erklären von Dingen einfacher, bequemer. In den USA geschieht das gerade: Die mutmaßlichen Bombenleger von Boston werden in erster Linie als muslimische und tschetschenische Einwanderer wahrgenommen. Ein solches Denken hat drei fatale Folgen: Das vermindert unser Urteilsvermögen, verfälscht unser Wissen über Kulturen und treibt die multikulturelle Gesellschaft auseinander.

Transkulturelles Lernen kann helfen, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Wenn es etwas gibt, was uns am harmonischen Zusammenleben hindert, so ist es nicht die Kultur, sondern die allzu starre Einstellung dazu. Um solche Einstellungen aufzuweichen, ist es notwendig, dass wir erkennen, dass Kultur etwas Bewegliches, Veränderbares ist, und dass jeder einzelne von uns Teil dieser Bewegung und Veränderung ist. Nicht die Kultur bestimmt, wer wir sind, sondern wir bestimmen die Kultur, indem wir sie von Tag zu Tag verändern und neu gestalten. In diesem Sinne sind wir gut beraten, unsere Annahmen über Kulturen stets zu hinterfragen. Und die erste Anleitung dazu kann in der Schule beginnen.

Was läuft beim Lernen in der Schule momentan falsch, Stichwort: „Kulturalismusfalle“? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Zusammenleben verschiedener Kulturen?

Ich würde nicht sagen, dass etwas in der Schule falsch laufe. Ich würde eher sagen, dass wir jetzt den Zeitpunkt erreicht haben, da das bisherige Lernen in eine neue Phase treten muss. Es hat sich in letzter Zeit viel getan in Sachen interkulturelles Lernen. Es wurde viel erreicht bei der Förderung von Verständnis für, Akzeptanz von und Toleranz gegenüber anderen Kulturen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Wir sind, durch interkulturelle Erziehung, auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ein sehr großes Stück vorangekommen. Aber jetzt müssen wir darauf den nächsten Schritt folgen lassen. Jetzt ist transkulturelle Erziehung an der Reihe.

Interkulturelles und transkulturelles Lernen sind keine Gegensätze, sie schließen einander nicht aus. Vielmehr ergänzen sie einander, so dass das eine, wenn es seine Aufgabe erfüllt hat, durch das andere abgelöst werden soll. Der Zeitpunkt kann jetzt günstiger nicht sein. Wissen Sie, dass das Statistische Bundesamt Menschen von der ersten bis zur dritten Zuwanderergeneration als Personen mit Migrationshintergrund einstuft? Das kulturelle Selbstverständnis der heute heranwachsenden zweiten und dritten Zuwanderergeneration widersetzt sich, soweit ich übersehen kann, einer solchen Kategorisierung dezidiert. Unsere Gesellschaft befindet sich im Übergang, und wenn die Schule damit Schritt halten will, so muss auch sie sich neu aufstellen. Es ist an der Zeit, von interkulturellen zu transkulturellen Ansätzen überzugehen.

Sie haben das Stichwort „Kulturalismusfalle“ genannt. Wir tappen in diese Falle, wenn wir komplexe Probleme kurzerhand auf kulturelle Differenzen zurückführen, ohne dabei andere Faktoren zu beachten wie etwa soziale, politische oder ökonomische. So scheint am Ende Kultur an vielem schuldig zu sein: Bildungsarmut, Kriminalität, fehlender Integration. Solche Kurzschlüsse sind nicht nur sachlich falsch, sie sind dem gesellschaftlichen Zusammenleben abträglich. Interkulturelles Lernen hat uns dazu angeleitet, die eigene Kulturbrille abzulegen, und unser Blick für andere Sichtweisen und Standpunkte wurde geschärft. Das war richtig und wichtig. Aber wir sollten die Kulturbrille dann auch wirklich abgelegt haben, und sie nicht bloß durch eine Kulturalismusbrille ersetzt haben.

Sie haben eine Schrift zum Thema veröffentlicht, „Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung“, in dem Sie die Erziehung als Beginn gesellschaftlichen Denkens postulieren.

Die Schule ist die Gesellschaft in Miniatur. Das gemeinschaftliche Zusammenleben im Kleinen bereitet für das gesellschaftliche Zusammenleben im Großen vor. Insofern beginnt schon in der Schule das Denken darüber, wie man mit anderen respektvoll umgeht, wie man harmonisch zusammenlebt. Dieses Denken will gelernt sein. Unter lernen verstehe ich weniger das Anhäufen als vielmehr das Sich-Aneignen, Sich-zu-eigen-Machen von Wissen im Hinblick darauf, wie man es anwendet. Erziehung ist anwendungsorientierte Wissensvermittlung. Daher richtet sich mein Buch an Lehrerinnen und Lehrer, das heißt Vermittlerinnen und Vermittler von Wissen, dessen Anwendung respektvollen Umgang miteinander und harmonisches Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft fördert.

Schülerinnen und Schüler befinden sich mitten in einer Reihe von Prozessen der Persönlichkeitsbildung. Es bilden sich Grundlagen von Selbstbewusstsein, Vorstellungen von Identität, Gefühle von Zusammengehörigkeit, aber auch Bedürfnisse nach Abgrenzung. Diese Prozesse wollen von einem Wissen begleitet sein, das ihren Verlauf kritisch reflektiert. Ob unsere Gesellschaft von morgen eine vereinte oder zerrissene Gesellschaft sein wird, wird davon abhängen, wie unsere Schülerinnen und Schüler von heute mit Kulturen gestalterisch umgehen lernen.

Weiter ziehen Sie den Schluss, dass die transkulturelle Erziehung „uns allen die Freiheit zurückzugeben vermag“. Wie das?

Vor ein paar Jahren begegnete mir ein Schüler, der sich mir vorstellte und sagte, er komme aus der Türkei. Im weiteren Verlauf des Gespräches stellte sich dann heraus, dass seine Eltern aus der Türkei nach Deutschland zugewandert waren, er aber in Deutschland geboren worden war. Er komme also nicht aus der Türkei, wollte ich berichtigen. Er hat verstanden, was ich damit sagen wollte, meinte aber, in mancher Situation sei es eben unkomplizierter zu sagen, er komme aus der Türkei. Unkomplizierter! Mir drängte sich die Frage auf: Was ist es, das ihm das Gefühl gibt, man erwarte von ihm, dass er sage, er komme aus der Türkei? Was ist es, das ihm die Freiheit verwehrt, sagen zu können, er komme aus Deutschland?

Man kann dazu eine Reihe von Faktoren nennen: gesellschaftliche, politische, psychologische. Ich will hier nur eines als Beispiel herausgreifen: die Sprache. Wir sprechen von „Deutsch-Türken“, „Deutsch-Kosovaren“ und so weiter, und meinen damit unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit dem und dem Migrationshintergrund. Vergleichen Sie diese Bezeichnungen mit solchen wie Deutsch-Amerikaner oder Afro-Amerikaner, also Amerikaner deutscher Abstammung, Amerikaner afrikanischer Abstammung. Ist das nicht merkwürdig? Soll ein Deutsch-Türke ein Türke deutscher Abstammung sein? Das Wort „Deutsch-Türke“ betont, dass die damit bezeichnete Person in der Hauptsache Türke ist, ganz gleich, ob er nur zu einem Viertel Türke ist oder einen deutschen Pass hat.