Bericht aus Istanbul (1)

Angekommen in Eminönü beobachte ich die mir vertraute Normalität am Pier. Straßenverkäufer, Touristen, Reisende kreuz und quer. Wir laufen in Richtung Galatabrücke und überqueren das Goldene Horn. Auch hier die mir vertraute Normalität: Hobbyangler werfen ihre Köder aus und warten geduldig, bis ein Fisch anbeißt.

Am anderen Ende der Brücke steigen wir in ein Taxi ein. Der Mann meiner Cousine sagt dem Taxifahrer, dass wir auf den Taksim Platz wollen. Wir werden in Kenntnis gesetzt, dass es nicht möglich sei bis zum Platz zu fahren, weil fast alle Straßen durch Barrikaden der Demonstranten versperrt sind. Er schlägt vor, uns nach Gümüssuyu bis zur ersten Barrikade zu fahren und dass wir dann den Rest zu Fuß gehen könnten. Seiner Meinung nach war das die günstigste Route. Auch wir finden diesen Vorschlag gut und unterhalten uns weiter mit dem Taxifahrer.

Ich frage ihn, wie er die letzte Zeit erlebt hat und ob es weitere Ausschreitungen nach denen gibt, die wir den Medien entnehmen konnten. Der Taxifahrer sagt, dass es keine Ausschreitungen gab bis die Polizei kam: "… mit der Polizei kam die Gewalt, vorher ging es friedlich zu! Menschenunwürdig, wie sie die Wasserstrahler direkt auf die Menschen gezielt haben und ihr Gift unentwegt abgefeuert haben."

Meine Cousine hat auch Mitleid mit den Polizisten und wendet ein, dass doch diejenigen die Schuld hätten, die das Volk aufeinander hetzen und nicht allein die Polizisten. Der Taxifahrer war mit diesem Einwand nicht konform und wütend entgegnete er: "… diese hinterhältigen Unmenschen haben nicht in die Luft geschossen, um die Menge aufzulösen, sie haben direkt auf Menschen geschossen. Es waren auch alte Menschen und Kinder unter den friedlichen Demonstranten …" Er habe zahlreiche Verletzte gesehen und die Spuren der Brutalität auf Körpern junger Menschen.

Eine der von Demonstranten errichteten BarrikadenAngekommen in Gümüssuyu steigen wir an der ersten Barrikade aus und laufen entlang der Spuren der Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Polizei in Richtung Taksim Platz.

Als wir am Taksim Platz ankommen, ist der Platz bereits ziemlich voll. Bunte Fahnen schwingen, Menschen tragen ihre Schilder hoch. Eine bunte Mischung. Am Gebäude des Atatürk Kültür Merkezi hängt ein großes Bild von Deniz Gezmis, ein Idol für viele junge Türken, der Mitglied der türkischen 68er-Bewegung war und 1971 hingerichtet wurde (bis zu seiner Hinrichtung blieb er ein überzeugter Verfechter des Marxismus-Leninismus).

Wir laufen in den Gezi Park. Viele Gruppierungen haben ihre Zelte aufgeschlagen, es wird gesungen, geschlafen und diskutiert. Menschen spenden Lebensmittel im provisorischen Park-Supermarkt.

Wieder auf dem Taksim Platz versuchen wir, uns an einen schattigen Platz zu stellen. Auf der Bühne werden Reden gehalten und gemeinsam gerufen: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!" oder "Schulter an Schulter gegen den Faschismus!". Um uns herum sehen wir auch jede Menge Frauen mit ihren Kopftüchern. Sie tragen türkische Fahnen und solidarisieren sich.

Auf dem roten Band steht "Atam izindeyiz" das bedeutet: "Atatürk, wir sind auf Deinem Pfad"17 Uhr - Inzwischen ist es erdrückend voll auf dem Platz. Wir halten es kaum aus und machen uns auf den Rückweg und verlassen die Menschenmenge. Auf dem Weg zurück Richtung Gümüssuyu kommen uns noch mehr Menschen entgegen, als zu der Zeit, als wir auf dem Weg zum Taksim Platz waren. Viele haben ihre Kinder dabei und wir hoffen, dass die Polizei sich zurückhält.

Wir nehmen ein Taxi und lassen uns zum Pier nach Besiktas fahren. Dort angekommen, sehen wir ein Polizeiaufgebot; mehrere Wasserwerfer (TOMAs), parkende Linienbusse, in den Bussen schlafende Polizisten. Im Park am Pier wimmelt es von Polizisten, die auf den Bänken sitzen oder hin und her laufen. Wir steigen in die Fähre ein und verlassen den europäischen Teil der Stadt.

Später am Abend erfahren wir, dass es in Istanbul zu keinen Vorfällen kam und ca. 300.000 Menschen friedlich an der Kundgebung teilgenommen haben. Die Bilder aus Ankara hingegen waren jedoch weiterhin Grund für Besorgnis.

Çapulcu Zeliha