Bericht aus Istanbul (1)

istanbul_titel.jpg

Istanbul 2013; Alle Fotos von der Autorin

ISTANBUL. (hpd) Fast zwei Wochen dauern die Proteste in Istanbul und in anderen Städten der Türkei bereits an. Die deutschen Medien berichten darüber meist sehr kurz und auch die Politiker konnten sich bisher noch nicht zu einer offiziellen Stellungnahme durchringen. Dem hpd ist es gelungen, einen Bericht direkt aus Istanbul zu erhalten, der über die Stimmung in der Stadt Auskunft gibt.

8.6.2013 13h – Landung in Istanbul

Der Flughafen ist erstaunlich leer und friedlich. Das erste Mal habe ich nicht in einer langen Schlange stehen müssen. Ich bin eher so programmiert, dass ich lange anstehen werde. Angenehme Überraschung. So komme ich relativ schnell aus dem Flughafengebäude raus. Mit dem Taxi fahre ich nach Bakirköy, um dann die Fähre nach Bostanci, dem asiatischen Teil der Stadt zu nehmen. Dort werde ich abgeholt. 

Die 14-Uhr-Fähre schaffe ich zeitlich, allerdings wird durchgesagt, dass die Kapazität ausgelastet ist. So bleibt nichts anderes übrig, als auf die nächste Fähre um 15 Uhr zu warten. Ein Mann schimpft laut: "… verarscht Euch selbst, seit der Privatisierung sind die Touren gekürzt und die Fähren überfüllt. Sie sparen nur Kosten um mehr Profit zu haben …". 2011 wurde die IDO für 861 Millionen Dollar privatisiert.

Am Kiosk des Wartesaals nehme ich mir eine Flasche Wasser und einen Tee, setze mich auf die Bank und warte geduldig. Eine Frau in einem Hosenanzug, ich schätze sie ca. Mitte 50, sitzt auf der Bank gegenüber und telefoniert laut. Offensichtlich spricht sie mit einer Freundin: "… meine Liebe, die waren schon immer so. Jetzt sieht man nur ihr wahres Gesicht. Vergiss die Nachrichten im TV, diese verkommenen Lumpen. Du hast doch Internet, dort findest Du wahre Berichterstattung. Schau, was dort alles geschrieben und gezeigt wird, dann siehst Du was wirklich los ist …"

Das "lila Quartier"Ich steige in die Fähre ein, nehme mir den erstbesten Platz. Eine junge Frau nimmt neben mir Platz und holt ihr Smartphone raus und geht ihre Twitter-News durch. Soweit ich einen Blick darauf werfen kann, versucht sie sich ein Bild zu verschaffen. Ich erkenne die Seite des Gezi Park, Carsi Gruppe und CHP.

Mittlerweile ist es fast 16 Uhr und ich bin auf dem asiatischen Kontinent gelandet. Mein Cousin, 34, Vater einer 4-jährigen Tochter, gerade dabei in der Textilbranche mit ein paar Freunden Fuß zu fassen, holt mich ab. Wir unterhalten uns. Er sagt, dass "… die Menschen im Gezi Park und auch diejenigen die solidarisch mit ihnen demonstrieren im Recht sind. Erdogan hat wirklich den Bogen zu sehr überzogen. Seine Haltung ist provokativ, er ist immer noch nicht einsichtig. Auch wenn ich es gut finde, dass die Menschen sich auflehnen. Ich bin sehr besorgt. Soweit ich sehen kann sind die Demonstrationen so bunt, es ist unkoordiniert. Unter ihnen gibt es auch Provokateure … ich weiß nicht wohin es führen soll …"

Ich frage ihn, ob denn dieses "Chaos" nicht ein Zeichen dafür ist, dass Menschen friedliche Absichten haben und ihr demokratisches Recht in Anspruch nehmen?
Er stimmt dem zu, dennoch bleibt seine Sorge, was daraus entstehen wird.

Er fährt mich zu seiner Schwester. Sie lebt seit 2 Jahren außerhalb der Stadt, nah am Flughafen Sabiha Gökcen. Sie sind in die Nähe der Arbeitsstätte des Ehemannes gezogen, eine kleine luxuriöse Neubausiedlung mit Reihenhäusern und Luxuswohnungen inklusive Sportplätzen, Pool und Security.

Ich wurde gleich mitgenommen zu einem Kindergeburtstag. Die Tochter der Nachbarin wurde 9 und die Nachbarschaft feierte fern der Proteste am Taksim Platz. Meine Cousine weiß, dass ich mich mit den aktuellen Geschehnissen auseinandersetze. Sie sagt, dass die ganze Nachbarschaft die Proteste am Taksim Platz gut findet. Auch sie hätten in ihrem Rahmen auf Töpfe geschlagen und zu den angekündigten Zeiten ihre Lichter ein- und ausgeknipst. Sie zeigt mir die Kinderfest-Animateurin. Sie sei eine Schauspielerin am Theater, die nebenbei auch private Tätigkeit annimmt, wie z. B. diese Kinderfestanimation. Stolz sagt sie mir, dass diese Schauspielerin fast täglich im Gezi Park ist und sich mit ihren Künstler-Kollegen engagiert.

Frauenorganistationen im Gezi-ParkSpäter beim Abendessen ist eine weitere Cousine dazu gekommen und natürlich dreht sich unser Gesprächsstoff um die aktuellen Ereignisse. Sie sagen mit, dass sie bedingt durch ihren Arbeitsalltag noch nicht in der Lage waren zum Taksim Platz, insbesondere in den Gezi Park zu gehen, um zu unterstützen. Wir sprachen darüber, dass am nächsten Tag um 16 Uhr eine große Kundgebung geplant ist und vereinbaren, dass wir gemeinsam hingehen werden.

Ich nehme Kontakt auf mit meiner Freundin, die in Cihangir (nähe Taksim-Platz) wohnt und täglich im Gezi Park ist. Von ihr erfahre ich, dass vor der großen Kundgebung am Taksim Platz auch eine Künstlergruppe am Pier in Kadiköy ab 13 Uhr protestieren wird.

9.6.2013 – Sonntag - Aufruf zur landesweiten Großkundgebung und friedlichem Protest gegen Erdogans Politik

Wie am Vorabend beschlossen, machen wir uns auf den Weg in Richtung Kadiköy. Eine meiner Cousinen sagt, sie habe noch nie an einer Demonstration teilgenommen. In den letzten Jahren jedoch hat sie sich an der Parade anlässlich ‚Cumhuriyet Bayrami‘ (Nationalfeiertag - Erinnerung an die Ausrufung der Republik durch Atatürk im Jahre 1923) beteiligt, weil diese durch AKP-Regierung in der Diskussion war, verboten zu werden.

Um 13 Uhr ist eine kleine Gruppe ausgestattet mit Plakaten, Trillerpfeifen und Megaphon vor dem Haldun Dormen Tiyatrosu versammelt. Auf den Schildern steht: "Hände weg von meiner Kunst", "Taksim gehört uns, die Bühnen auch!", "Schluss mit der Zensur in der Kunst!". Auch wir schließen uns den Zuschauern an, die einen Kreis um diese kleine Gruppe bildet. Die Ansprache erfolgt per Megaphon. Die jungen Künstler kritisieren die Kürzungen der Budgets für die staatlichen Kunst- und Kulturinstitutionen, sie wehren sich gegen die Zensur in der Kunst und fordern, dass sie ihre Kunst frei aufführen zu dürfen. Zwischendurch pfeifen, klatschen die Leute und rufen Slogans wie: "Schulter an Schulter gegen den Faschismus" oder auch "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand".

Andenken an die Proteste der sogenannten Samstagsmütter. Mütter, die jeden Samstag sich auf der Istiklal Caddesi (Fussgängerzone) versammelt haben, um auf ihre 'verschwundenen' Kinder aufmerksam zu machen.Die Künstler laden die Zuschauer dazu ein, sich am kurzen Demonstationszug zu beteiligen und mit ihnen gemeinsam zu einem in der Nähe liegenden Kino zu laufen.
Währenddessen kommt ein Mini Cooper hupend angefahren und ein junger Mann ruft aus dem Fenster des Beifahrersitzes laut: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!". Das Autokennzeichen ist aus Izmir.

Am Pier jedoch ist eine Menschenflut. Viele haben türkische Fahnen aufgerollt oder kaufen von den Straßenverkäufern welche. Am Peer sieht es aus wie auf dem Jahrmarkt – Familienfeststimmung. Auch wir folgen der Menschenflut und kaufen uns am Automaten die Münzen für die Fähre, um auf die europäische Seite zu kommen. 13:30 Uhr soll die Fähre nach Karaköy und Besiktas abfahren und die Menschenmenge vor uns gibt uns unmissverständlich zu verstehen, dass wir es sicherlich nicht mit der nächsten Fähre schaffen können. Nebenan gähnende Leere nach Eminönü. Spontan entscheiden wir diese zu nehmen, auch wenn sie etwas weiter weg von unserem Ziel ist.

Auf der Fähre teilen mir meine Cousinen ihre Sorgen mit und hoffen, dass es friedlich abläuft und die Polizei nicht eingreift.

Angekommen in Eminönü beobachte ich die mir vertraute Normalität am Pier. Straßenverkäufer, Touristen, Reisende kreuz und quer. Wir laufen in Richtung Galatabrücke und überqueren das Goldene Horn. Auch hier die mir vertraute Normalität: Hobbyangler werfen ihre Köder aus und warten geduldig, bis ein Fisch anbeißt.

Am anderen Ende der Brücke steigen wir in ein Taxi ein. Der Mann meiner Cousine sagt dem Taxifahrer, dass wir auf den Taksim Platz wollen. Wir werden in Kenntnis gesetzt, dass es nicht möglich sei bis zum Platz zu fahren, weil fast alle Straßen durch Barrikaden der Demonstranten versperrt sind. Er schlägt vor, uns nach Gümüssuyu bis zur ersten Barrikade zu fahren und dass wir dann den Rest zu Fuß gehen könnten. Seiner Meinung nach war das die günstigste Route. Auch wir finden diesen Vorschlag gut und unterhalten uns weiter mit dem Taxifahrer.

Ich frage ihn, wie er die letzte Zeit erlebt hat und ob es weitere Ausschreitungen nach denen gibt, die wir den Medien entnehmen konnten. Der Taxifahrer sagt, dass es keine Ausschreitungen gab bis die Polizei kam: "… mit der Polizei kam die Gewalt, vorher ging es friedlich zu! Menschenunwürdig, wie sie die Wasserstrahler direkt auf die Menschen gezielt haben und ihr Gift unentwegt abgefeuert haben."

Meine Cousine hat auch Mitleid mit den Polizisten und wendet ein, dass doch diejenigen die Schuld hätten, die das Volk aufeinander hetzen und nicht allein die Polizisten. Der Taxifahrer war mit diesem Einwand nicht konform und wütend entgegnete er: "… diese hinterhältigen Unmenschen haben nicht in die Luft geschossen, um die Menge aufzulösen, sie haben direkt auf Menschen geschossen. Es waren auch alte Menschen und Kinder unter den friedlichen Demonstranten …" Er habe zahlreiche Verletzte gesehen und die Spuren der Brutalität auf Körpern junger Menschen.

Eine der von Demonstranten errichteten BarrikadenAngekommen in Gümüssuyu steigen wir an der ersten Barrikade aus und laufen entlang der Spuren der Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Polizei in Richtung Taksim Platz.

Als wir am Taksim Platz ankommen, ist der Platz bereits ziemlich voll. Bunte Fahnen schwingen, Menschen tragen ihre Schilder hoch. Eine bunte Mischung. Am Gebäude des Atatürk Kültür Merkezi hängt ein großes Bild von Deniz Gezmis, ein Idol für viele junge Türken, der Mitglied der türkischen 68er-Bewegung war und 1971 hingerichtet wurde (bis zu seiner Hinrichtung blieb er ein überzeugter Verfechter des Marxismus-Leninismus).

Wir laufen in den Gezi Park. Viele Gruppierungen haben ihre Zelte aufgeschlagen, es wird gesungen, geschlafen und diskutiert. Menschen spenden Lebensmittel im provisorischen Park-Supermarkt.

Wieder auf dem Taksim Platz versuchen wir, uns an einen schattigen Platz zu stellen. Auf der Bühne werden Reden gehalten und gemeinsam gerufen: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!" oder "Schulter an Schulter gegen den Faschismus!". Um uns herum sehen wir auch jede Menge Frauen mit ihren Kopftüchern. Sie tragen türkische Fahnen und solidarisieren sich.

Auf dem roten Band steht "Atam izindeyiz" das bedeutet: "Atatürk, wir sind auf Deinem Pfad"17 Uhr - Inzwischen ist es erdrückend voll auf dem Platz. Wir halten es kaum aus und machen uns auf den Rückweg und verlassen die Menschenmenge. Auf dem Weg zurück Richtung Gümüssuyu kommen uns noch mehr Menschen entgegen, als zu der Zeit, als wir auf dem Weg zum Taksim Platz waren. Viele haben ihre Kinder dabei und wir hoffen, dass die Polizei sich zurückhält.

Wir nehmen ein Taxi und lassen uns zum Pier nach Besiktas fahren. Dort angekommen, sehen wir ein Polizeiaufgebot; mehrere Wasserwerfer (TOMAs), parkende Linienbusse, in den Bussen schlafende Polizisten. Im Park am Pier wimmelt es von Polizisten, die auf den Bänken sitzen oder hin und her laufen. Wir steigen in die Fähre ein und verlassen den europäischen Teil der Stadt.

Später am Abend erfahren wir, dass es in Istanbul zu keinen Vorfällen kam und ca. 300.000 Menschen friedlich an der Kundgebung teilgenommen haben. Die Bilder aus Ankara hingegen waren jedoch weiterhin Grund für Besorgnis.

Çapulcu Zeliha