Im Januar gründete sich die "Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch" (DAVA). Derzeit ist sie formaljuristisch eine Wählervereinigung. DAVA will bei der Europawahl 2024 sowie zukünftig bei Bundestags- und Landtagswahlen antreten. Die Initiative schmückt sich mit progressivem Vokabular, versammelt jedoch Lobbyisten des Politischen Islam in ihren Reihen. Auch ihr Wahlprogramm ist bei genauerer Betrachtung konservativ-islamischer Prägung. Wie sind ihre Erfolgsaussichten einzuschätzen und wer errichtet eine Brandmauer gegen die "türkische Variante der AfD"?
Chef des Parteivorhabens ist Teyfik Özcan. Özcan war 30 Jahre Mitglied der SPD und fiel dort bereits mit seiner Sympathie für Recep Tayyip Erdoğan auf. Mit der DAVA-Gründung kündigte Özcan seine SPD-Mitgliedschaft auf und will nun "enttäuschte Migranten" ansprechen. Was nicht wundert: Die SPD galt lange als Sammelbecken für AKP-nahe Deutsch-Türken, erfährt allerdings seit ihrer linksliberalen Ausrichtung Ablehnung aus diesen Kreisen.
Aufgestellt für die Europawahl sind drei Spitzenkandidaten. An erster Stelle steht Fatih Zingal. Früher war er Funktionär der Union internationaler Demokraten (UID), ehemals UETD, einer Interessenvertretung der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland. Die UID gehört auch zur deutschen Struktur der rechtsextremen Grauen Wölfe. Zingal organisierte maßgeblich den Wahlkampf für Erdoğan in hiesigen Moscheegemeinden.
Auf Platz zwei der Liste steht Ali Ihsan Ünlü. Ünlü ist ein Vertreter des Moscheeverbandes DITIB, der von der türkischen Religionsbehörde Diyanet gesteuert wird.
Auf Listenplatz drei steht Mustafa Yoldas. Er agierte über Jahre als bedeutsamer Akteur der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), dem Auslandsableger des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakans. Die IGMG wird dem Netzwerk des legalistischen Islamismus zugeordnet und vom Verfassungsschutz beobachtet. Zusätzlich bekleidete Yoldas ehemals das Amt des Vorsitzenden der türkischen Hilfsorganisation IHH (Internationale Humanitäre Hilfsorganisation), die unter anderem der Hamas Spenden zukommen ließ und somit 2017 vom Bundesinnenministerium verboten wurde.
"Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch": Intendierte Täuschung
"Dava" bedeutet übersetzt aus dem Türkischen "Prozess" oder "Anliegen". Unverkennbar ist die Nähe zum arabisch-islamischen Begriff der Da'wa, der die religiöse Missionierung als Teil des Djihads meint. Erdoğan adressiert seine Wähler gerne als "dava arkadaşlar": Freunde der gemeinsamen Sache. Auch die türkischen Rechtsextremisten der Ülkücü-Bewegung benutzen diesen Ausdruck.
Türkisch-islamische Identitätspolitik
Im Deutschen steht die Abkürzung wie erwähnt für "Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch". Eine Betitelung, die den Eindruck von Antirassismus, Toleranz und Grundgesetztreue erwecken soll. Im Interview mit dem ZDF äußerte Fatih Zingal: "Wir möchten über Probleme von Menschen sprechen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte mit muslimischem Background (…). Wir möchten uns über latenten Rassismus unterhalten." Der Abbau von "Islamfeindlichkeit" bildet im Wahlprogramm ein zentrales Thema. DAVA strebt danach, "Bildungsangebote", "Medieninhalte" und "die öffentliche Verwaltung" islampolitisch mitzugestalten. Ziel sei die Zeichnung eines "realistischere[n] und positivere[n] Bild[es] des Islam".
Zu fragen wäre, welche "Vielfalt" im Parteinamen gemeint ist? Der Vielfalt von türkischen Einwanderern in Deutschland wird mit dem Parteivorhaben keine Rechnung getragen. Es spricht ausschließlich Muslime an. Wo verbleiben Jesiden, Aleviten, Christen, Armenier, Zaza, Assyrer, Aramäer und säkulare Kurden, die ihre kulturelle oder religiöse Herkunft nicht zum Dreh- und Angelpunkt politischer Forderungen erheben? Sie alle haben in der türkisch-islamischen Synthese keinen Platz.
Ebenfalls wird die fatale Verknüpfung von antirassistischer Rhetorik mit dem "Faktor Islam" in der zitierten Parteiausrichtung deutlich. Islamfeindlichkeit, Rassismus und "Probleme der Muslime" nennt DAVA in einem Atemzug. Dies essentialisiert den Islam, erklärt ihn, unbewusst oder absichtlich, zur Natureigenschaft und lässt muslimische Migranten aus der Türkei nur über das Glaubensbekenntnis erreichbar erscheinen. Damit operiert DAVA ausgesprochen identitätspolitisch und rassistisch. Wenn DAVA auf die Integration des Islam in Deutschland abzielt, muss überprüft werden, welches Islamverständnis gemeint ist. Die politischen Hintergründe der Kandidaten legen nahe, dass es ihnen zwischen den Zeilen um den Machtzuwachs von Erdoğans politischem Staatsislam in Deutschland geht.
Burak Çopur, Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen, kommentiert im Tagesspiegel, DAVA bespiele "die Opferrolle als ausgegrenzte Gläubige des Islams, so wie es Erdoğan in der Türkei jahrelang erfolgreich getan hat". Ihr Programm instrumentalisiert Kulturverlustängste und politisiert vermeintliche oder reale Diskriminierungserfahrungen. Die urteilsfreie Verabsolutierung der Zugehörigkeit zu einer scheinbar unterdrückten Minderheit findet in DAVAs Wunsch, Mesut Özil als Werbegesicht der Partei zu gewinnen, ihre groteske Zuspitzung. Özil steht wegen seiner Verbindungen zu Erdoğan und den Grauen Wölfen in der Kritik. Statt Stellung zu beziehen, inszeniert er sich als Opfer von Rassismus. Wer betroffen ist, muss keine Verantwortung übernehmen. Mit DAVA würde einer Abschottung von Muslimen mindestens türkischer Herkunft in Deutschland zugearbeitet werden. Man erinnere sich an die Worte Erdoğans, die er unter dem Applaus von tausenden Deutsch-Türken bei seinem Besuch in Köln 2008 skandiert hat: "Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" – Gemeint hat er das landläufige Verständnis von Integration.
"Wolf im Schafspelz"
Auffällig, allerdings nicht unbekannt, ist der Missbrauch einer weltoffenen Sprache, um hinterrücks repressive Ziele durchzusetzen. Geläufig ist diese Methode bei Organisationen der Muslimbruderschaft. Die Rede ist von der Doppelstrategie des legalistischen Islamismus. Demokratische Prozesse dienen als Mittel zum Zweck einer sukzessiven Etablierung des Kalifats. Eine nähere Vergegenwärtigung des Wahlprogramms gibt Auskunft über DAVAs tiefere Agenda. Hervorstechen tut das Kapitel "Schutz der Familie".
Die DAVA-Gruppierung richtet sich gegen "Gender-Ideologie", nimmt eine "pro-life Position" ein und protestiert für den Schutz des ungeborenen Lebens in der Causa "Schwangerschaftsabbrüche". Im Hinblick auf LGBTQ-Menschen bekundet die Allianz: "Während DAVA die Bedeutung von Toleranz und den Schutz individueller Freiheiten anerkennt, betonen wir die Wichtigkeit traditioneller Familienstrukturen als Grundlage der Gesellschaft." Mitnichten ist DAVA eine Partei feministischer Queerkritiker oder bürgerlich-liberaler Woke-Gegner. Der Topos "Gender-Ideologie" ist für fundamentalistische Muslime eine Projektionsfläche verschiedener Ängste, etwa vor einer "Verschwulung", "Feminisierung", "Degeneration", vor der "Zersetzung traditioneller Werte" oder vor dem "Untergang naturwüchsiger Gemeinschaften". Im Ergebnis kann eine politische Entscheidungskraft von DAVA Angriffe auf gleichgeschlechtliche Ehen, Antidiskriminierungsgesetze oder Paragraf 218a nach sich ziehen und somit die Demontage von emanzipatorischen Errungenschaften bedeuten.
Zusätzlich lassen sich im Wahlprogramm Haltungen zur Demokratieförderung, inneren Sicherheit, deutsch-türkischen Beziehung, zum Angriffskrieg auf die Ukraine und Distanzierungen vom Islamismus vermissen. Bemerkenswert viel Platz bekommt das Bekenntnis zur "Zwei-Staaten-Lösung in Nahost" im außenpolitischen Part eingeräumt. "Wir unterstützen die Schaffung eines souveränen, lebensfähigen und unabhängigen palästinensischen Staates, der in Frieden neben Israel existiert", heißt es bei DAVA. Gefordert wird "die Beendigung aller Aktivitäten, die eine Zwei-Staaten-Lösung gefährden könnten". Welche Führung Palästina regieren soll, welche Bewertung die Hamas erfährt und ob Juden in dem palästinensischen Gebiet gleichberechtigt leben dürfen, bleibt unerwähnt. Çopur resümiert: "Die Dava-Partei kann im Wahlkampfprogramm schreiben, was sie will, sie bleibt ein Ableger der AKP und wird hierzulande Lobbyarbeit für das Erdoğan-Regime machen – nach der Europawahl vielleicht sogar in europäischen Gremien."
Erfolgsaussichten
1,5 Millionen Muslime türkischer Abstammung besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Wahlbeteiligung unter Deutsch-Türken bei der türkischen Parlamentswahl 2023 lag bei 50,4 Prozent. Von ihnen wählten 67,2 Prozent Recep Tayyip Erdoğan. Mobilisiert DAVA ernsthaft in den Auslandsdependancen des türkischen Staates, der UID, DITIB und IGMG, kann sie sich den Stimmen der Erdoğan-treuen Türken in Deutschland sicher sein. Bei der Europawahl existiert keine Fünf-Prozent-Hürde. Hier ist ein Einzug ins Parlament realistisch.
Um über die Fünf-Prozent-Hürde der Bundestagswahl zu gelangen, bräuchte eine Partei mindestens zweieinhalb Millionen Stimmen. Die Stimmen bisheriger Erdoğan-Wähler aus Deutschland (342.251 gültige Angaben) wären nur ein Siebtel davon und reichen nicht aus. Von 5,5 Millionen Muslimen im Land haben 2,5 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft. Weitet DAVA ihr politisches Profil von ethnisch-national zu islamisch-orthodox aus, so könnte sie einen breiteren Fundus an Wählern gewinnen. Eine noch größere Chance für die Wählervereinigung bietet sich mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes, das die Einbürgerung von Zuwanderern erleichtern soll. Viele Migranten bringen deutlich traditionellere Werte als die deutsche Aufnahmegesellschaft mit, wovon DAVA profitieren kann.
Selektiver Antifaschismus
Ultranationalismus, religiöser Fundamentalismus, Ausschluss von Minderheiten, patriarchale Rollenbilder und populistisches Politiktreiben mit Ängsten charakterisieren DAVA. Eigenschaften, die sich bei den extremen Rechten der AfD wiederfinden. Nicht unbegründet spricht der Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland Ali Ertan Toprak gegenüber der taz von einer "türkischen AfD". Während zur selben Zeit in der Bundesrepublik geschlossene Bündnisse gegen den Rechtsextremismus demonstrieren, bleibt der islamische Faschismus ein blinder Fleck. Noch mehr enttarnt sich eine Doppelmoral, wenn die Parole "Nie wieder ist jetzt" gegen Abschiebefantasien von Neurechten ins Feld geführt wird, sie aber den Hamas-unterstützenden DAVA-Kandidaten Yoldas ausspart.
Um die AfD realpolitisch zu isolieren, schlossen sich alle demokratischen Parteien zur "Brandmauer gegen rechts" zusammen. Gegenüber DAVA lässt sich ein Statement seitens der Linkspartei vermissen und die SPD reagiert gelassen. Mit antirassistischen Diskursstrategien erhofft sich DAVA eine Anschlussfähigkeit an den Mainstream. In Skepsis verbleibend sei noch einmal Erdoğans Gedichtrezitation vor Augen geführt: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."
18 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Der letzte Satz von Erdogan muss jedem Demokraten klarmachen wohin die Reise der
türkischen DAVA gehen soll.
David Z am Permanenter Link
Richtig. Und was ist ihre Lösung für das Problem, was sich offensichtlich in Zukunft nicht bessert sondern eher verschlechtert?
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
3 Dinge können da nur helfen.... Aufklärung-Aufklärung-Aufklärung!!!
Ich sehe uns als humanistische Demokraten da auf einen guten Weg und bin optimistisch,
dass letztendlich der Intellekt siegt, Pessimismus ist da kontraproduktiv!
David Z am Permanenter Link
Ich würde mir wünschen, dass Sie Recht haben.
Was für andere Lösungsoptionen könnte es geben, vor dem Hintergrund, dass unsere Gesellschaft einerseits immer a-religiöser wird, aber andererseits sich fragwürdige Ideen und Konzepte aus der islamischen Religion immer mehr ausbreiten?
Roland Fakler am Permanenter Link
Sehr guter Artikel, der die für den Dschihad empfohlene Täuschung = Taquia der Ungläubigen glänzend enttarnt. „Fatih“ heißt übrigens auf deutsch Eroberer.
A.S. am Permanenter Link
Die Migranten waren in den letzten Jahren soetwas wie die "heiligen Kühe" linker Politik.
Wo soll den da eine "Brandmauer" herkommen?
Generell sehe ich "Brandmauern" kritisch, weil "Brandmauern" die Gesellschaft spalten.
"Brandmauern" im baurechtlichen Sinne trennen Gebäude, aber reichen nicht bis auf die Straße. Über die Straße können die Menschen, die rechts und links der Brandmauer wohnen, zusammen kommen.
Das Erdogan-Zitat : "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." lässt sich auch auf andere machtgierige Religionen anwenden.
Alişan Genc am Permanenter Link
Guter Artikel. Nicht nur deutsch-einheimische Rechte ist eine Gefahr für die Demokratie, sondern auch die Rechte mit Migrationshintergrund.
Bluewhitedotinthesky am Permanenter Link
Vertreten die Mitglieder der DAVA nicht jene Denk- & Lebensweise, Interessen und Politik, welche im „Ilmihal - Katechismus für Frauen“ beschrieben wird?
Die Osmanen Germania wurde 2018 in Deutschland verboten, soll nun dessen Ziele mittels neuem, politischem Verein in Deutschland umgesetzt werden? Die Mitglieder leben ja unbehelligt in der Schweiz: Motto: „Wir kommen und übernehmen das ganze Land", heisst es in einem Musikvideo? Wie ist es möglich, das ein Verein, der finanziert ist von der AKP/Erdogan, dessen Mitglieder gegen Menschenrechte verstossen und Frauen in eine sklavereiähnliche Stellung bringen, mittels Zwangsehen (Zusatzübereinkommen zur Abschaffung der Sklaverei, Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Praktiken und Einrichtungen, in Kraft in Deutschland seit 14.1.1959, Art. 1b Verbot der Leibeigenschaft, 1c Verbot der Zwangsehen, 1d Verbot Kinder & Jugendliche unter 18 Jahren entgeltlich /unentgeltlich Dritten zu überlassen, wobei laut Art. 6 bereits die Planung, Besprechungen, Zusammenkünfte zu deren Organisation unter Strafe stehen), die zum EuGH-Entscheid C-621/21 vom 24.1.2024 führte, der diese Gewalt als Fluchtgrund anerkennt? Ein politischer, vom Ausland finanzierter Verein, der auf politischer Ebene versucht, die Demokratie abzuschaffen. Es sollte doch auch möglich sein, jenen, welche die demokratische Grundordnung und international geltende Menschenrechte missachten, den deutschen Pass wieder zu entziehen? Sie fühlen sich ihrem Herkunftsland ja so verbunden? Ich verweise an dieser Stelle an Aktion-tu-was.de > Bekämpfung von Extremismus
Carsten Ramsel am Permanenter Link
Zum Thema ein Vortrag und Diskussion mit Dr. Lale Akgün beim Düsseldorfer Aufklärungsdienst:
Der lange Arm des Recep Tayyip Erdogan - Über die Auswirkungen türkischer Politik auf Deutschland
https://www.youtube.com/watch?v=_zNV-z_P078
David Z am Permanenter Link
Wichtiges Thema. Allerdings irritiert mich der Umstand, dass viele Menschen bei der Sache offensichtlich überrascht sind.
Es ist doch wohl seit Jahrzehnten völlig klar, dass sowas früher oder später passiert. Und es ist ebenfalls klar, dass das Phänomen in Zukunft eher zu- als abnimmt. Übrigens bedarf es nicht unbedingt neuer Parteien, um diese archaischen, anti-modernen Ideen in die Gesellschaft zu transportieren. Die Einbringung der Ideen kann auch über bereits existierende Parteien geschehen. Und im Grunde kann es sogar auch ganz ohne Parteien passieren, wie zB an Schulen, wo Mädchen sich dem Druck des Umfeldes fügen und die Ideen aus sozialem Druck annehmen.
SG aus E am Permanenter Link
DAVA ist nach BIG (2010) und ADD (2016) die dritte Kleinpartei, der man nachsagt, sie sei Ableger der AKP in Deutschland.
Säkulare Republikaner, die in der Türkei CHP und in Deutschland SPD wählen, werden einen AKP-Ableger kaum wählen; linke Kurden und HDP-Sympathisanten sowieso nicht. Von DAVA angesprochen fühlen können sich eigentlich nur diejenigen, die – warum auch immer – ihre Stimme nicht mehr der CDU geben wollen. Was also könnte konservative Türkeistämmige und andere konservative Muslime dazu bewegen, sich von der CDU abzuwenden? Die Antwort dürfte klar sein: In dem Maße, in dem die CDU deutsche Türken und Muslime ausgrenzt, sie unter Generalverdacht stellt und Muslimfeindlichkeit deckt, wird sie für diese unwählbar.
In ihrem neuen Grundsatzprogramm schreibt die CDU: „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland.” Nach ihrem Selbstverständnis teilt die Mehrheit der Besucher der Ditib-, IGMG- und VIKZ-Moscheen diese Werte. Wenn die CDU diese Gemeinsamkeiten in der konservativen Weltsicht etwas mehr hervorhöbe und der Parteivorsitzende Friedrich Merz seine manchmal etwas grobschlächtige Rhetorik besser in den Griff bekäme, stünde Stimmengewinnen der CDU bei unserer muslimischen Minderheit eigentlich wenig entgegen. Der deutsch-US-amerikanische Publizist Yascha Mounk weist in seinem Buch „Das große Experiment. Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert” (2022) darauf hin, welche Aufgabe konservativen Parteien in Europa und Nordamerika bei der politischen Integration der neuen Minderheiten zukommt.
PS: Eigentlich waren wir in den letzten Jahren auf einem guten Weg, die Muslime ins politische System zu integrieren. Muslime (auch bekennende) finden sich in allen demokratischen Parteien des Bundestags. Ob die Situation sich seit dem 7. Oktober 2023 geändert hat, will sagen: was die politische Klasse in Deutschland mit ihrer rigorosen Nicht-Beachtung muslimischer Perspektiven seitdem kaputt gemacht hat, wäre gesondert zu betrachten.
malte am Permanenter Link
Was genau meinen Sie mit "rigoroser Nicht-Beachtung muslimischer Perspektiven"?
David Z am Permanenter Link
Ihr Erklärungsversuch greift mir zu kurz. Im Grunde werfen Sie der CDU vor, nicht konservativ genug zu sein.
Die Weltsicht von DAVA oder DITIB & Co geht weit über das hinaus, was die CDU bieten könnte. Das Aus- und Ansprechen dieser Unterschiede, wie zB Merz mit seinem "kleine Paschas" Kommentar, ist daher nur eine logische Konsequenz. Nicht die CDU muss sich anpassen, sondern die, die in unserer Gesellschaft leben wollen.
Der Hintergrund für die Entstehung von DAVA sehe ich ganz woanders. Es ist die durch Identity Policies erschaffene Opfermentalität , die Teile der Gesellschaft glauben läßt, benachteiligt oder gar unterdrückt zu sein. Aus dieser Wahrnehmung heraus entstehen Erwartungshaltungen, Forderungen, dann Aktivistengruppen und unter Umständen eben auch Parteien.
Ihr PS verstehe ich nicht. Sicher meinen Sie nicht die berechtigte Kritik an den antisemitischen Umzügen, Äusserungen und Taten, die seit dem 7 Okt. eine toxische Durchsetzung unserer europäischen Gesellschaften mit antisemitischem Gedankengut offenlegen - egal ob D, FR, SWE oder UK etc. Aber was meinen Sie dann?
SG aus E am Permanenter Link
Sollte – wider Erwarten – eine Partei einer nationalen Minderheit in Deutschland nennenswerten Erfolg haben, muss die Mehrheitsgesellschaft sich fragen lassen, was sie falsch macht.
Was mein PS angeht: Wollen wir dieses große Fass hier wirklich aufmachen? Es geht um das „Nie wieder” unserer hochrangigen Politiker: Was wird in Berlin derzeit aus „Nie wieder Faschismus! – Nie wieder Krieg!” gemacht? Ist dieses „Nie wieder” exklusiv für Juden oder inklusiv zu verstehen? Und es geht darum, was die Öffentlichkeit empört – und was nicht. Antisemitische Schmierereien sind ein Skandal, in vielen Politikerreden wurden sie verurteilt. Antiarabische und antiislamische hingegen erregen anscheinend nur eine Minderheit:
→ https://www.islamiq.de/wp-content/uploads/2023/12/Unbenannt-21.jpg
→ https://www.islamiq.de/wp-content/uploads/2023/12/Unbenannt-1-1.jpg
Es gibt übrigens noch eine migrantische Kleinpartei, sympathischerweise nicht aus dem rechtsreligiösen Spektrum: → https://www.die-urbane.de/ (nur als Hinweis).
malte am Permanenter Link
Es ist nicht ersichtlich, ob diese Schmierereien aus Deutschland stammen oder wann sie entstanden sind.
Selbst wenn sie tatsächlich aus Deutschland und der Zeit nach dem 7. Oktober 2023 stammen sollten: Ich finde es befremdlich, von den Parolen "Arabs go home" und "Kill all palestinians" eine Verbindung zu "muslimischen Perspektiven" herzustellen. Die Gleichsetzung von "arabisch" und "muslimisch" ist ein Grundübel der gesamten Islamdebatte, und der Fehler, die Religion zum alles andere überstrahlenden Identitätsmerkmal zu überhöhen, machen leider nicht nur rechte "Abendlandschützer" sondern auch wohlmeinende "Antirassisten".
SG aus E am Permanenter Link
‹malte› schrieb: "Die Gleichsetzung von 'arabisch' und 'muslimisch' ..."
Da haben Sie recht. Allerdings sollen Kommentare auch kurz und leicht lesbar sein, was manchmal ungewollt zu unscharfen Aussagen führt. Im monierten Fall der 'muslimischen Perspektiven' habe ich mich für dieses Adjektiv entschieden, da das verbindende Element zwischen türkisch-konservativen DAVA-Sympathisanten und Palästinensern die islamische Prägung ist.
Über die Schmiererei "kill all palestinians" berichtete am 15.12.2023 auch der Bayerische Rundfunk: → https://www.br.de/nachrichten/bayern/stadt-muenchen-verurteilt-rassistische-schmierereien-an-gymnasium,TyXJX4m
Die Frage, wie jene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit am besten zu benennen sei, ob als Islam-, Muslim- oder allgemein als Fremdenfeindlichkeit oder als antimuslimischer Rassismus, wurde auch hier auf hpd.de schon erörtert. Ich persönlich bevorzuge derzeit: 'antiorientalischer Rassismus' oder 'Antiorientalismus'. Bekanntlich gibt es keine Menschenrassen und die gemeinte Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit trifft Anhänger verschiedener Religionen und Säkulare gleichermaßen, aber immer Menschen, denen eine bestimmte 'Herkunft' zugeschrieben wird.
David Z am Permanenter Link
Sehe ich anders. Der Wahlerfolg einer Partei, auch und grade einer Minderheit, hängt nicht notwendigerweise von Fehlern der Mehrheitsgesellschaft ab.
Ich komme immer noch nicht ganz mit, was Sie mit dem PS meinen. Sie scheinen zu kritisieren, dass man sich angesichts der mörderischen Terrormassaker der Hamas vom 7. Okt und den im folgenden bei uns auf den Strassen stattfindenden Umzügen mit volksverhetzenden, antisemitischen Parolen sowie den tätlichen Angriffen auf Juden und Synagogen unter dem Motto "Nie wieder!" vereint. Als Argument führen Sie "andere Schmierereien" an, die uns Ihrer Ansicht nach weniger interessieren würden. Nun, Schmierereien gibt es viele: Gegen Gruppierungen wie die AfD, Die Grünen, die Polizei, die Christen, den Kapitalismus, das System, gegen Grenzen, gegen Deutsche etc. Es besteht aber doch wohl ein eindeutiger Sachunterschied zwischen dem, was in Israel passiert ist und dann als Folge bei uns auf den Strassen und in Unis (und immer noch passiert, jetzt kürzlich auf der Berniale. Oder in anderen Ländern, siehe UK, FR) und einer "Schmiererei", sowohl im Ausmass als auch der "Qualität" - was folglich die unterschiedliche Gewichtung erklärt.
Danke für den link zu Die Urbane. Das sieht ja wirklich gruselig aus. Dort vereint sich all das, was es an identity policies zu kritisieren gibt.
SG aus E am Permanenter Link
Zu meinem PS von oben habe ich folgende Passage aus dem Politikpodcast #357 des Deutschlandfunks gefunden. Stephan Detjen sagt ab Minute 27:48 (die Transkription ist von mir):
"Und ich glaube, eines der Themen, die wir seit dem Herbst nicht genügend wahrgenommen haben, ist auch, welche Frustration deutsche Politik unter Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund ausgelöst hat durch dieses Durchexerzieren einer Staatsräson, die Deutsche als Nachfahren von Tätern der Schoah sieht, andere ausgrenzt oder nicht in den Blick nimmt.
Es gab vor einer Woche, etwas mehr als einer Woche, ein Treffen des Bundeskanzlers mit Vertretern und Vertreterinnen von migrantischen Organisationen im Bundeskanzleramt. Und ich habe danach auch mit Teilnehmern aus dem Kanzleramt gesprochen. Die sind da ziemlich blass herausgekommen und haben gesagt: 'Wir haben gesehen, wir haben in den letzten Monaten eine ganze Generation von Leuten verloren'." (1)
Zuvor, ab Min. 25, hatte er die Frage aufgestellt: "Wie verstehen wir uns als Deutsche, als Deutsche, die Nachfahren von Tätern der Schoah sind, ...?" Und das dann in den Kontext der Einwanderungsgesellschaft gestellt.
Der Bundeskanzler beteuerte den anwesenden Vertretern der Einwanderungsgesellschaft im Anschluss zwar: "Wir stehen fest an Ihrer Seite. [...] Alle verdienen Respekt und darum geht es" (2). Ich persönlich aber glaube, dass die arabisch-palästinensische Sicht auf Schoah, Alija und Nakba auch in Zukunft wenig gehört werden wird. Dazu ist die Betonung der unverbrüchlichen Solidarität Deutschlands mit dem Staat Israel für die Nachfahren der Täter einfach zu entlastend.
—
(1) https://www.deutschlandfunk.de/streitgespraech-nahostkrise-wann-ist-israelkritik-antisemitisch-dlf-df517791-100.html
(2) https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/scholz-alabali-radovan-migrantische-dachverbaende-2257902