Rationalität und Mystik

Beispielbild
Michael Schmidt-Salomon / Foto: Evelin Frerk
Sinn und Geschmack fürs Unendliche

Friedrich Schleiermacher definierte die Religion einmal als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Ich frage Sie: Gibt es irgendeine Erzählung in  irgendeiner Religion, die dem Unendlichen so nahe kommt wie die rationale Erhellung der Sachverhalte im Rahmen der Kosmologie, Evolutionsbiologie oder Hirnforschung?

Im Anschluss an Max Weber behaupten zwar viele, dass der wissenschaftliche Rationalisierungsprozess die Welt entzaubert habe, doch das ist nur die halbe Wahrheit: Tatsächlich nämlich hat die Wissenschaft nur den falschen Zauber, etwa den Glauben an magische Kräfte, an menschenähnliche Götter und Dämonen, entkräftet. Im Gegenzug jedoch legte sie einen sehr viel tieferen Zauber frei, nämlich die unendlichen Dimensionen eines Universums, das um ein Vielfaches geheimnisvoller, mystischer, ist, als es sich sämtliche Religionsstifter haben vorstellen können.

Wer diese unendlichen Dimensionen nicht nur intellektuell begriffen hat, sondern auch die Tiefe und Erhabenheit spürt, die in dieser Weltsicht liegt, der entwickelt eine besondere Form von „Religiosität“, die mit den traditionellen Religionen schwerlich in Einklang zu bringen ist. Es ist eben jene Form von Religiosität, von der schon Giordano Bruno, Spinoza und Einstein sprachen.

Um diese „Einsteinische Religiosität“ vom traditionellen Offenbarungsglauben abzugrenzen, wird häufig der Begriff „Spiritualität“ benutzt, was allerdings keine besonders glückliche Bezeichnung ist, da „Spiritualität“ von der Wortbedeutung her (spiritus = Geist, Hauch) einen Körper-Geist-Dualismus nahelegt, den die monistische, rational-mystische Weltsicht längst überwunden hat. In Ermangelung eines besseren allgemeinverständlichen Begriffs möchte ich dennoch das Wort „Spiritualität“ verwenden, um jene neue Form von Religiosität zu bezeichnen, von der ich meine, dass sie – vor allem hier in Europa – künftig immer stärker an die Stelle des alten Glaubens treten wird.

Mein Stiftungskollege, der Mainzer Neurophilosoph Thomas Metzinger, hat unlängst in einem sehr lesenswerten Artikel dargelegt, dass Spiritualität und rationales Denken bzw. Forschen von einer gemeinsamen „intellektuellen Tugend“ getragen werden, nämlich dem Streben nach „intellektueller Redlichkeit“. Rationale Denker und spirituelle Menschen (die sich nicht nur als solche bezeichnen) eint, so Metzinger, der Wille „zur bedingungslosen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber“. Sie wollen sich nicht von Illusionen blenden lassen, nicht einfach glauben, was man schon immer geglaubt hat, sondern die kulturellen Vorurteile beiseite schieben, die den Blick auf die Wirklichkeit behindern.

Solche Menschen finden in den traditionellen Religionen häufig keine überzeugenden Antworten mehr – was auch nicht verwunderlich ist: Zwar sind die Religionen kulturelle Schatzkammern der Menschheit, in denen man noch immer vieles finden kann, was bedenkenswert ist, aber summa summarum sind sie Relikte einer lange überwundenen Kulturstufe der Menschheit. Statt also weiterhin so zu tun, als könnten wir Dinge glauben, von denen wir wissen, dass sie niemals eintreten werden, sollten wir den Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn dies für den einen oder anderen schmerzhaft sein sollte.

Wir sollten endlich akzeptieren, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern bloß der Neandertaler von morgen, eine vorübergehende Randerscheinung in einem unendlichen Universum, das noch lange nach dem Ende unserer Spezies fortbestehen wird. Ich weiß, dass viele Angst davor haben, sich mit dieser Perspektive zu konfrontieren, aber gerade sie enthält eine tiefe existentielle Wahrheit, die wir in unserem eigenen Interesse berücksichtigen sollten: Denn gerade, weil das Leben endlich ist, ist es so unendlich kostbar.

Würden wir den Mut aufbringen, unsere selbstverliebten Illusionen bezüglich unserer Stellung im Kosmos aufzugeben, so würden wir nicht nur Rationalität und Mystik besser miteinander verbinden können, wir wären vielleicht auch dazu in der Lage, das Trennende zu überwinden, das immer wieder zu einem Clash der Kulturen führt. Jedenfalls wäre, so meine ich, schon viel für die Utopie eines dauerhaften Friedens unter den Menschen gewonnen, wenn wir uns künftig nicht mehr vorrangig als Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten oder Atheisten wahrnehmen würden, sondern als gleichberechtigte Mitglieder einer zur Selbstüberschätzung neigenden affenartigen Spezies, die mit ihrem kleinen blauen Planeten am Rande der Milchstraße sehr viel behutsamer umgehen sollte, als sie es bislang getan hat.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Anmerkung: Der hier dokumentierte Salzburger Vortrag greift auf Formulierungen aus Schmidt-Salomons Monographie „Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ zurück. Andere Textpassagen stammen aus Vorarbeiten zu einem neuen, 2014 bei Piper erscheinendem Buch (der genaue Titel dieser Veröffentlichung steht noch nicht fest). Dort finden sich auch zahlreiche Quellenangaben, die in diesem reinen Redemanuskript nicht enthalten sind.