OBERWESEL/SALZBURG. (hpd/gbs) Der wissenschaftliche Rationalisierungsprozess hat die Welt nicht nur „entzaubert“, sondern zugleich „den Zauber eines Universums enthüllt, das um ein Vielfaches geheimnisvoller ist, als es sich sämtliche Religionsstifter haben vorstellen können.“ Dies erklärte gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon vergangene Woche im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Ouverture spirituelle“, mit der die „Salzburger Festspiele 2013“ starteten.
Es war wohl das erste Mal, dass ein entschiedener Religionskritiker zur „Ouverture spirituelle“ eingeladen wurde (begonnen hatten die diesjährigen „Disputationes“ noch „standesgemäß“ mit einem Vortrag des Präsidenten des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, Kardinal Jean-Louis Tauran).
Wahrscheinlich erwarteten viele Zuhörer (darunter der Salzburger Erzbischof), dass Schmidt-Salomon religiöse Empfindungen in Bausch und Bogen verdammen und der Lächerlichkeit preisgeben würde. Stattdessen aber drehte er den Spieß um: Wenn Religiosität tatsächlich „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ meine, dann habe die wissenschaftliche Welterklärung religiösen Menschen mehr zu bieten als jeder traditionelle Offenbarungsglaube, sagte Schmidt-Salomon. Die Wissenschaft sei nämlich in der Lage, jene „unauflösliche Verbindung des Teils mit dem Ganzen zu erklären, die der Mystiker in seiner Verschmelzung mit dem Kosmos erfährt“. Insofern sei „das Mystische rational geworden und das Rationale mystisch“.
Das gemeinhin als eher konservativ geltende Salzburger Publikum reagierte auf Schmidt-Salomons Darlegungen mit lang anhaltendem Applaus. Viele bekundeten nach dem Vortrag, dass sie die Dinge von dieser Warte noch nie betrachtet hätten.
Wir dokumentieren nachfolgend Schmidt-Salomons Ausführungen in Wort und Ton:
Hier können Sie den Vortrag als Audio-Datei herunterladen: „Jenseits der Illusionen: Über Rationalität und Mystik“ (Auszug, mp3-Datei, 14 Minuten, ca. 20 MB)
***
„Jenseits der Illusionen: Über Rationalität und Mystik“
(Redemanuskript, Auszug)
Vortrag im Rahmen der „Ouverture spirituelle“, Salzburger Festspiele, 24.7.2013
(…) Die psychologische Wahrheit der buddhistischen Lehre vom „Nicht-Selbst“ (Anatta) lässt sich, wie ich meine, recht gut in einem einzigen Satz zusammenfassen: Wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelasseneres Selbst. Gelassenheit hat nämlich sehr viel mit Gelassenhaben, dem Loslassenkönnen der Fiktion eines von der Welt abgegrenzten Ichs zu tun. Das wusste schon Meister Eckart, dem wir das schöne Wort „Gelassenheit“ in der deutschen Sprache verdanken und der als christlicher Mystiker (und Ketzer) zu Erkenntnissen kam, die in erstaunlichem Maße mit den Ansichten östlicher Mystiker übereinstimmen.
In welchem Verhältnis stehen nun Rationalität und Mystik zueinander? Wir sind es gewohnt, diese beiden Zugangsweisen zur Wirklichkeit als Gegensatzpaare zu verstehen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die rationale Methode darin besteht, Unterscheidungen vorzunehmen, während Mystiker das geheimnisvolle Ganze hinter diesen Unterscheidungen erfahren.
Ich halte diese Gegenüberstellung für historisch überholt: Denn gerade die rationale Methode hat in den letzten 200 Jahren wesentlich dazu beigetragen, klassische Unterscheidungen zu überwinden und den unaufhebbaren Zusammenhang zwischen den Dingen sichtbar zu machen. Im Zuge des wissenschaftlichen Forschungsprozesses wurden die traditionellen Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Natur und Kultur – und wenn sie so wollen: auch zwischen Gott und der Welt – in fundamentaler Weise aufgehoben. An die Stelle des alten Dualismus trat ein neuer Monismus – eine rationale Einheitsdeutung der Welt, die in bemerkenswerter Weise mit der mystischen Einheitserfahrung korrespondiert.
Die Wissenschaft, meine Damen und Herren, ist heute in der Lage, eben jene unauflösliche Verbindung des Teils mit dem Ganzen zu erklären, die der Mystiker in seiner Verschmelzung mit dem Kosmos erfährt. Mit anderen Worten: Das Mystische ist rational geworden und das Rationale mystisch.
So wissen wir heute, dass das „Ich“, das uns so ungeheuer wichtig erscheint, bloß ein virtuelles Theaterstück ist, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird. Diese Inszenierung ist so überzeugend, weil sie sich im Verlauf der Evolution als nützliches Instrument für das Überleben des Individuums in komplexen Gruppen erweisen hat, weshalb es kein Wunder ist, dass das, was wir unser „Ich“ nennen, wesentlich durch die Zuschreibungen der Gruppe bestimmt ist, in der wir leben.
Wenn wir nun versuchen, die biologischen Prägungen und kulturellen Zuschreibungen (oder um es im buddhistischen Jargon auszudrücken: die „Anhaftungen“) von unserem „Ich“ abzuziehen, so entdecken wir, dass dieses „Ich“ im Grunde keinen wirklichen Inhalt hat. Tief in unserem Inneren sind wir weder gläubig noch ungläubig, weder gebildet noch ungebildet, weder schön noch hässlich, weder gut noch böse: Wir sind einfach!
Es ist wie bei einer Zwiebel: Wenn wir das Ich schälen, also Schale für Schale abtragen, was zur Konstruktion dieses speziellen Selbst geführt hat, bleibt von der virtuellen Inszenierung unseres Egos am Ende nichts übrig. Wenn man diese „produktive Leere“ erfährt (und dies ist das Ziel jeder meditativen Übung!), so spürt man den Urgrund der eigenen Existenz – und diesem Urgrund haftet nichts Eigenes, nichts Individuelles mehr an, es ist ein unbestimmtes und unbestimmbares Etwas, ein Etwas, das ein jeder von uns mit allen anderen Lebensformen auf der Erde teilt, nämlich das Leben selbst.
Der Staffellauf des Lebens und die „Reinkarnation der Atome“
Die Evolutionsbiologie hat gezeigt, dass der Staffellauf des Lebens seit seinem Start auf unserem Planeten niemals abgerissen ist. Macht man sich die ungeheuren Dimensionen dieses Staffellaufs bewusst, so entdeckt man, dass die wissenschaftliche Welterklärung einen mystischen Gehalt besitzt, der jeden religiösen Schöpfungsmythos übertrifft: Stellen Sie sich nur vor, wie viele Generationen von Organismen das kostbare Gut des Lebens weitertransportiert haben, von den Protoorganismen der Ursuppe über die ersten Fische, Amphibien, Säugetiere, Affen, über unzählige Generationen von Menschenartigen und Menschen, bis es letztlich zu Ihnen gelangte! Wir sind nicht nur allesamt miteinander verwandt, weil wir aus der gleichen Ursuppe stammen, wir sind im wahrsten Sinne des Wortes „eins“, denn jeder von uns trägt denselben vier Milliarden Jahre alten „Lebenskeim“ in sich.
Und damit nicht genug, schließlich sind wir nicht nur mit der Welt des Lebendigen verbunden. Jeder von uns besteht, so lehrt die moderne Physik, aus mehr als 10 hoch 27 Atomen, die seit etwa 13,7 Milliarden Jahren alle erdenklichen Formen von Materie hervorbringen. Bevor diese Atome sich in Ihnen, meine Damen und Herren, vereinigten, bildeten sie intergalaktische Gaswolken und Sterne, Felsen, Vulkane, Ozeane. Sie waren Bestandteile von Insektenflügeln, Fischkiemen, Dinosauriermägen und natürlich auch von unzähligen menschlichen Lebewesen.
Auf atomarer Ebene, so könnte man sagen, gibt es tatsächlich so etwas wie „Reinkarnation“: Die Atome, die einst dem historischen Buddha, dem historischen Jesus oder Mohammed Gestalt gaben, sind nicht nur bis heute erhalten geblieben, viele Millionen dieser „Buddha-, Jesus- oder Mohammed-Atome“ befinden sich jetzt, in diesem Moment, in unveränderter Form in Ihren Händen, Füßen, Beinen oder inneren Organen. Insofern ist jeder Mensch, aber natürlich auch jeder Hai oder jede Spitzmaus, ein „ökumenisches Religionsstiftertreffen“.
Die Atome, die Ihre jetzige Gestalt bilden, werden selbstverständlich auch nach Ihrem Tod fortexistieren. Sie werden überstehen, was kein irdisches Lebewesen überstehen kann, nämlich, dass sich die Erde in den nächsten zwei Milliarden Jahren in einen Wüstenplaneten und die Sonne sich allmählich in einen Roten Riesen verwandelt. Nach dem Tod unserer Sonne werden die Atome, die Ihr jetziges Sein ermöglichen, an der Bildung neuer Gaswolken, neuer Sonnen, neuer Planeten beteiligt sein, ja vielleicht sogar werden einige Atome, die sich gerade jetzt in Ihrer rechten Hand befinden, in einer weit entfernten Zukunft auf einem weit entfernten, noch gar nicht geborenen Planeten, die Gestalt einer neuen intelligenten Spezies mit hervorbringen, die über das Wunder des Universums ebenso wird staunen können, wie wir es heute tun.