Die fehlgeplante Natur

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Die von A. R. Wallace erforschten Nashornvögel (Buchcover)

STANFORD/CA, USA. (hpd) Alfred Russel Wallace (1823-1913) hat sich u. a. als Entdecker der natürlichen Selektion, Begründer der Biogeographie und Anti-Kreationist einen Namen gemacht. [1] Im Alter von 80 Jahren veröffentlichte der Forscher allerdings Thesen, die man im Sinne des christlichen Intelligenten Design (ID) interpretieren könnte. War Wallace ein Vertreter der ID-Ideologie?

Der hpd unterhielt sich dazu mit dem Vorsitzenden des Arbeitskreises (AK) Evolutionsbiologie, Herrn Prof. Dr. Ulrich Kutschera, der sich derzeit in Stanford/Kalifornien aufhält.

hpd: Das vom AK Evolutionsbiologie zum 100. Todesjahr begangene „Wallace-Jahr 2013  hat zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt. In einem Letter im Wissenschaftsmagazin Science [2] hatten Sie dargelegt, dass Wallace auch als Anthropologe und Psychologe mit politischen Interessen agierte. War der Evolutionsforscher ein religiöser Mensch?

U. Kutschera: Alfred Wallace hat sich zeitlebens neben der Wissenschaft auch für gesellschaftspolitische Themen interessiert. Religiöse Ansichten, z. B. mit Bezug zur Bibel, gibt es in seinen 22 Büchern keine. Er hat sich eindeutig als ungläubiger, nicht christlicher sozialistischer Naturforscher verstanden, der aber in der zweiten Lebenshälfte den Spiritismus verteidigte, allerdings in einer nicht christlich geprägten Variante.

hpd: In einigen US-Internet-Quellen kann man jedoch nachlesen, dass Wallace die Intelligent Design (ID)-Theorie der Kreationisten vertreten haben soll. Ist das korrekt?

U. Kutschera: In der Tat findet man auf Webseiten des Discovery Institute, einer der einflussreichsten Kreationisten-Vereinigungen hier in den USA, die Behauptung, Wallace wäre ein Kreationist und Vordenker der ID-Ideologie gewesen. In meinem Buch „Design-Fehler in der Natur“ [3] habe ich im Detail dargelegt, dass diese Behauptung unzutreffend ist. Wallace hat in seinen Spätwerken die nicht-religiöse begründete These von einem Design vertreten, welches er naturwissenschaftlich begründen wollte. Dies sind inhaltsleere philosophische Spekulationen geblieben.

hpd: Wallace gilt als Mit-Entdecker der Evolution durch natürliche Auslese und man kann sich schwer vorstellen, dass in seinen Werken christliche Dogmen, wie das ID-Konzept, zu finden sind. Wie kommen die US-Kreationisten zu ihrer Behauptung?

U. Kutschera: Hier in den USA, insbesondere auch in Kalifornien, gibt es noch immer eine latente „Anti-Darwin-Grundstimmung“. Man verbindet in den Vereinigten Staaten das Thema Evolution mit einer atheistischen Ideologie, „Darwinismus“ genannt, und da passt der „Mann im Schatten des Teufels Darwin“ gut hinein. Wallace wird als gläubiger Gegenpart zu Darwin aufgebaut, und das mit Erfolg.

hpd: In dem YouTube-Video des Discovery Institute mit dem Titel „Did the Co-Founder of Evolution Embrace Intelligent Design?“ wird überzeugend aus den Spätwerken von Wallace das ID-Konzept abgeleitet. Ist das eine Verdrehung der Tatsachen?

U. Kutschera: Alfred Wallace hat 1867 eine umfassende Widerlegung des aus der christlichen Naturtheologie abgeleiteten ID-Glaubens vorgelegt, welche heute noch von Bedeutung ist, da er die Argumente, wie sie z. B. noch immer von der evangelikalen „Studiengemeinschaft Wort und Wissen“ vertreten werden, ad absurdum geführt hat. Die US-Kreationisten ignorieren diese Tatsache und berufen sich auf die letzten Bücher von Wallace, wo er zweifelhafte philosophische Thesen niedergeschrieben hat. Auf seine schwergewichtigen früheren Anti-ID-Schriften geht man hier in den USA nicht ein.

hpd: Charles Darwin und Alfred Wallace beschrieben in ihren Büchern immer wieder „Perfektionierungen“ bei Lebewesen. Ist diese Sicht der Natur heute noch gerechtfertigt?

U. Kutschera: Die Pioniere der Evolutionsforschung sind in der Tat davon ausgegangen, dass Lebewesen über natürliche Ausleseprozesse bei sich ändernder Umwelt immer perfekter werden und in gewisser Weise irgendwann einmal fehlerfrei arbeiten. Physiologische und biochemische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben aber gezeigt, dass es keine perfekten Lebewesen gibt, sondern überall Planungsfehler der Natur zu verzeichnen sind. Diese Design-Mängel reichen von Defektstrukturen bei Kristallen bis zum chaotischen Erbgut (Genom) des Menschen [3]. Darwin und Wallace konnten davon nichts wissen, weil die Methoden der damaligen Zeit derartige Analysen nicht erlaubt haben und man auf eine recht grobe Naturbeobachtung angewiesen war.

hpd: Sind die von Ihnen beschriebenen „Design-Fehler in der Natur“ vereinbar mit der Annahme eines planenden christlichen Schöpfer-Gottes?

U. Kutschera: Die Design-Mängel im Mineralien- und Pflanzenreich sowie Fehlplanungen bei Tieren, einschließlich des Menschen, belegen, dass alle Organismen der Erde die derzeitigen Endprodukte einer nach Zufall und Notwendigkeit abgelaufenen, richtungslosen biologischen Evolution sind. Diese neuen Argumente, welche auch das „Sauerstoff-Paradoxon“ einschließen, sind in den theologischen Diskussionen unbekannt.

hpd: Warum wird dennoch an christlichen Bekenntnisschulen u. a. religiösen Institutionen die These eines Generalplanes in der Natur bzw. das Dogma vom allwissenden Designer-Gott gelehrt?

U. Kutschera: Um die Planungsfehler der Natur zu verstehen, muss man sich auf den Gebieten der Physiologie und Biochemie auskennen, sonst kann man die komplexen Sachverhalte nicht nachvollziehen. In einem aktuellen Sachbuch [3] sind diese Zusammenhänge anschaulich dargestellt, unter Verweis auf die englischsprachige Fachliteratur. ID-Kreationismus wird übrigens in Deutschland nicht nur an evangelischen Bekenntnisschulen gelehrt, sondern auch in sogenannten Waldorf-Schulen. Unter den Anthroposophen ist der Glaube an ID noch weit verbreitet, der recht gut zur irrationalen Ideologie des Philosophen Rudolf Steiner passt. Dieser „Anthro-Kreationismus“ wird ausführlich thematisiert. [3]

hpd: Was sollte unternommen werden, um endlich den Glauben an den christlichen Designer-Gott aus der Biologie zu verbannen?

U. Kutschera: Zunächst sollte das aktuelle Faktenwissen vermittelt werden, beginnend mit physikalisch-chemischen Sachverhalten, über die Biologie bis hin zur Geologie. Hier in den USA gibt es leider keinen übergeordnet geregelten naturwissenschaftlichen Unterricht, die Local Schoolboards bestimmen, was gelehrt wird. In Deutschland haben wir bessere Chancen, das Bildungsniveau im Bereich Evolutionsbiologie zu verbessern. Die geplante Aktion der GBS „Evokids“, d. h. der Versuch, evolutionsbiologisches Basiswissen in der Grundschule zu vermitteln, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. [4] Es ist unakzeptabel, dass unsere Kinder im Schulunterricht zunächst christlich-religiös indoktriniert werden, und erst viel später einige wenige evolutionsbiologische Grundlagen erlernen. Das reicht nicht aus, denn nur eine evolutionäre Weltsicht kann zur Lösung der Menschheitsprobleme beitragen, auf die der vor 100 Jahren verstorbene Alfred Russel Wallace bereits hingewiesen hat (z. B. Naturzerstörung) [2, 3].

Danke für das Gespräch.
Die Fragen stellte Hellge Wilhelmi.

Ulrich Kutschera [5] ist seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie an der Universität Kassel. Nach Gastvorträgen in den USA (Februar 2007) wurde er zum Visiting Professor ernannt und ist seither nebenbei an der Carnegie Institution for Science (Stanford University, Kalifornien) tätig. Weiterhin beschäftigt er sich intensiv mit biologiehistorischen und wissenschaftstheoretischen Themen und steht mit seinen Kollegen vom US-National Center for Science Education in Oakland, CA, in stetiger Verbindung. Er hat bisher zehn Bücher und ca. 240 wiss. Publikationen verfasst. [5].

Literatur zum Thema Alfred Russel Wallace und Intelligentes Design:

Ulrich Kutschera: Design-Fehler in der Natur. Alfred Russel Wallace und die Gott-lose Evolution. Lit-Verlag, Berlin, 2013, 384 Seiten, 114 Abbildungen, broschiert, € 19,90. ISBN-Nr. 3-643-12133-2. Das Buch ist auch im denkladen erhältlich. [6].

Internetseite [7] und YouTube-Kanal des AK Evolutionsbiologie [8] im Deutschen Biologenverband.

Quellen-URL:
[1] http://hpd.de/node/14999
[2] http://www.uni-kassel.de/fb19/plantphysiology/media/files/2013_KUT_The-a...
[3] http://www.uni-kassel.de/fb19/plantphysiology/media/files/rezensionen/LI...
[4] http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/evokids-evolution-grundschule
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Kutschera
[6] http://www.denkladen.de/Natur-Forschung/Evolution/Kutschera-Design-Fehle...
[7] http://www.evolutionsbiologen.de
[8] http://www.youtube.com/user/evolutionsbiologenDE