Wie säkular ist unsere Gesellschaft?

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Foto: Blick auf den Dom und die Severikirche in Erfurt, Michael Sander, (CC-BY-SA-3.0)

ERFURT. (hpd) Die linke Bundesarbeitsgemeinschaft "Demokratie und Soziale Befreiung" hatte für den 2. bis 4. Januar 2014 zu ihrer alljährlichen Winterschule in Thüringens Landeshauptstadt Erfurt eingeladen. Innerhalb der Winterschule gab es auch einen Philosophie-Kurs unter Leitung des bereits 1974 aus der Kirche ausgetretenen evangelischen Pfarrers Karl-Helmut Lechner.

Die Teilnehmer kamen aus fast allen westdeutschen Bundesländern sowie aus Österreich. Ihr Kurs beschäftigte sich ausschließlich mit einer auch für Humanisten interessanten Frage: "Sind die Götter zurückgekehrt - Der verlorene Himmel: Wie säkular ist unsere Gesellschaft?"

Im ersten Teil ging es anhand von Schriften Immanuel Kants, Niklas Luhmanns und Detlef Pollacks um die Frage nach der Definition von "Religion". Und in einem zweiten Teil anhand von Gerhard Czermak und Detlef Pollack um die Frage nach der Definition von "Säkularisation".

Grundlage für die dreitägigen Diskussionen gab der nachstehende religionssoziologische Text Lechners: 

Die These von der Säkularisierung der Gesellschaft geht davon aus, daß Religion und Moderne in einem grundlegenden Spannungsverhältnis stehen. Wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Fortschritt verdrängen Religion und Kirchen aus ihren Jahrhunderte alten gesellschaftlichen Positionen, führen zu deren Bedeutungsverlust und damit für die Zukunft zum — oftmals erhofften — allmählichen Absterben von Religion. Die Grundgedanken dieser These gehen auf Max Weber und Émile Durkheim zurück, die beide davon ausgingen, dass Rationalisierung und Individualisierung in der heutigen Welt zu einem Niedergang von Religion führen werden.

Der Begriff von Säkularisierung ist seit einigen Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion in die Kritik geraten. Diese Kritik stellt zunächst einfach fest, daß die Moderne das Religiöse nicht verdrängt hat und dass die rechtliche Trennung von Staat und Kirche nichts über die Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft aussagt. Oft geht diese Kritik aber weiter. In der öffentlichen Diskussion wird zunehmend vertreten, Religion habe auch unter modernen Bedingungen ihre Prägekraft bewahrt, sei mit der modernen Welt kompatibel und könne sogar selbst zur Quelle der Modernität werden.

In diesem Artikel wird dagegen die Auffassung vertreten: Auch wenn in unserer westlichen Welt Religion und Kirche zur Linie der Herausbildung der modernen Gesellschaft gehören und sich in ihr behauptet haben, sind sie von den Folgen der Modernisierung insgesamt eher negativ betroffen. Ob sie je gänzlich verschwinden werden, das steht auf einem anderen Blatt. Und wenn, so könnten wir dies ohnehin nur im geschichtlichen Rückblick wissenschaftlich korrekt beschreiben — und nicht als Prophezeiung.

Religion — eine Problemlösung neben anderen

In den Medien wird ebenso wie in der religionssoziologischen Forschung oft sehr allgemein von Religion gesprochen. Häufig wird bewusst eine Definition vermieden. Offensichtlich meinen die Menschen schon immer irgendwie zu "wissen", was Religion ist. Ist von Religion die Rede, schwappen die Gefühle hoch, negativ wie überschwenglich positiv. Religion gehört eben mit zu den am stärksten emotional besetzten Erfahrungen der Menschen.

Wollte eine Definition wissenschaftlich allgemeingültig sein, so müsste sie so weit gefaßt sein, um auch jene Phänomene mit einbeziehen zu können, die außerhalb der institutionalisierten Religionen anzutreffen sind. Also nicht nur in Jahrtausenden gewachsene Religionen und Volksfrömmigkeit. Sind ohne Widerspruch Christentum, Islam, Buddhismus, Schamanismus und Bahai als Religionen zu definieren, so müßten auch Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Scientology, Wahrsagerei, Telepathie oder Zivilreligion in diese Begrifflichkeit mit einbezogen werden. Es muß dem entsprechend zwischen ihnen etwas Gemeinsames geben. Eine derartige Definition muß uns zugleich aber auch aufzeigen, was Religion nicht ist. Nur so sind wir dann in der Lage, sie zum Beispiel von Philosophie, Kunst oder Literatur methodisch korrekt zu unterscheiden.

Substantiell oder funktional

Grob vereinfacht unterscheidet man in der Religionssoziologie zwischen einer "substantiellen" und einer "funktionalen" Definition von Religion. Die erstere bestimmt Religion durch ihre Substanz, also ihren Inhalt. So kann man zum Beispiel anhand von Lehraussagen, durch Heilige Schriften und Glaubensbekenntnisse Unterscheidungen zwischen religiösen Phänomenen treffen: die Heilige Dreieinigkeit im Christentum — Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist — im Unterschied zum alleinigen Gott Allah im Islam. Oder es sind elementare Erfahrungen, die das Leben von Menschen bestimmen, die sie für wahr halten und über die sich Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft definieren und voneinander abgrenzen. Als Beispiel seien hier die charismatischen Erweckungsgefühle der von Geist beseelten Gläubigen der Pfingstbewegungen genannt.

Die funktionale Definition dagegen beobachtet Religion und fragt in ihrer Methode danach, auf welches Problem sich Religion bezieht, was Religion jeweils zur Lösung eines bestimmten Problems beitragen kann. Sie will zum Beispiel wissen, wie Religion gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt, Ereignisse deutet, dazu Mut macht, Unterdrückung abzuschütteln oder persönlichen Trost spendet. Indem diese Methode Religion in ihrer konkreten Wirkungsweise beobachtet und darauf sieht, was sie gesellschaftlich oder für den einzelnen Menschen leistet, wird es ihr möglich, die "Funktion" von Religion zu erkennen. Im Licht dieser Alternativen entsteht die Möglichkeit des soziologischen Vergleichs: Sie entdeckt, wie Religion dadurch, was sie bewirkt, wie sie "funktioniert", zu einem Angebot neben anderen wird, um Probleme zu lösen. Was hilft mir mehr, mich zu beruhigen — in meiner höchsten Not im Gebet die Hände zu falten, buddhistisch zu meditieren oder nervös an meinen Nägeln zu kauen?

Was aber ist das generelle Bezugsproblem von Religion? Die moderne Religionssoziologie spricht hier von der Sinnhaftigkeit und der Kontingenz allen Daseins.

Kontingenz — Es könnte immer auch ganz anders sein.

Zunächst: Kontingenz kann in jedem Weltereignis erscheinen. "Daß ich meine Handschuhe verliere, ist ebenso kontingent wie die Möglichkeit, dass morgen mein Haus einstürzt." Kontingenz meint, dass etwas logisch oder gesetzmäßig durchaus möglich ist, daß es aber nicht notwendigerweise so ist, wie es ist. Es könnte immer auch ganz anders sein. Daher provoziert Kontingenz die existentielle Frage nach dem "Warum?": Warum ist etwas so, wie es ist? Warum ist es nicht anders? Und warum bin gerade ich betroffen?

Dabei ist nicht die Kontingenz selbst religiös. Um mit persönlich erfahrener Kontingenz umzugehen, kann ich mich zum Beispiel genauso gut in Arbeit stürzen, mich zum Psychotherapeuten begeben oder zur Flasche greifen. Die speziell religiöse Form, das Kontingenzproblem zu lösen, ist die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Die Unerreichbarkeit der Transzendenz, im Christentum ist es die Rede von Gott, überführt alles Unbestimmte und Unbestimmbare der Welt in die gewisse Bestimmbarkeit. "Gott" ist das Ende der "Warum? – Frage". Die Religion sagt, es geschieht alles nach dem Willen Gottes, er ist furchtbar in seinem Zorn und unergründlich in seiner Gnade, niemals aber ist er rein willkürlich in seinem Handeln. Religiöse Rituale, Gebete und Heilige Schriften haben die Aufgabe, diese unüberbietbare Gewissheit im Glauben herzustellen. Durch konkrete heilige Handlungen, wie das Spenden von Brot und Wein in den christlichen Sakramenten oder durch Meditation im Buddhismus oder im weltweit gemeinsamen Gebet der Muslime, wird die Einheit mit der Transzendenz real im Diesseits erfahrbar und für den Gläubigen zur Wirklichkeit.

Welche "Wahrheit" hinter dem vollzogenen Ritus auch immer stehen mag: Die funktionale Methodik der Religionssoziologie blendet diese Frage aus.

Der Begriff der Säkularisierung

Unsere Definition von Säkularisierung will alle Erscheinungsformen von Religion beschreiben: religiöse Institutionen, verbindliche Weltdeutung und öffentlich vollzogene Rituale ebenso, wie individuelle Ideen, Gefühle und Erfahrungen, aber auch das, was unter Zivilreligion verstanden wird. Religiöse Phänomene dürfen keinesfalls auf das Institutionelle begrenzt und Religion gar mit Kirche gleichgesetzt werden. Die Kernthese der Säkularisierungstheorie ist, dass Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluß auf die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausüben. Sie nimmt an, dass sich das gesellschaftlich bedeutsame Gewicht von Religion in modernen Gesellschaften im Vergleich zu früheren Zeitepochen abschwächt, mag es auch immer wieder gegenläufige Bewegungen geben. Die Säkularisierungsthese setzt voraus, dass in vormodernen Gesellschaften und Kulturen Religion und Kirchen einen höheren Stellenwert hatten als in der modernen Welt. Sie grenzt mit diesem Maßstab neuzeitliche Epochen von früheren ab.

Die wachsende Fähigkeit der Menschen, ihre natürliche Umwelt zu erkennen und Kontrolle über sie auszuüben, führt dazu, dass der magische "deus ex machina" (der rettende Gott aus der Höhe) an den Rand der Welt zurückgedrängt wird. Wo Naturwissenschaften praktiziert werden, ist kein Platz für Wunder. Beten dafür, „daß es gelingen möge“, ist im Ablauf der Fertigung einer Fabrik nicht das adäquate Steuerungsinstrument. Die Effektivität der mit Hilfe von Forschung und Technik erfundenen Werkzeuge und Maschinen führt dem Menschen vor Augen, daß er selbst Herr der Dinge ist. Im Islam gilt z. B. das Verbot zur Darstellung von Allah, seinem Propheten und überhaupt von Personen auch deshalb, weil der Mensch sich nicht anmaßen darf, gleich wie Gott schöpferisch tätig zu sein. Eigen-Leistungen, gründend auf wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfahrung, bringen den Menschen dazu, fromme Traditionen, Routinen, Gewohnheiten und gemeinschaftlicher Bindungen aufzugeben.

Es verselbständigen sich zunehmend gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und auch die Religion. Sie differenzieren sich aus. Nicht mehr gesamtgesellschaftlich gültige religiöse Werte setzen, wie in vormodernen Gesellschaften, die Maßstäbe des Handelns für den Einzelnen. Es sind nun die Regeln des jeweiligen Bereichs. Im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft spielt bei der Beschlussfassung die Frage der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift keine Rolle, wohl aber der aktuelle Börsenkurs und die Frage nach der Eigenkapitalrendite. Funktionieren die Systeme der Sozialversicherungen, erübrigt sich das Almosen des Frommen, der sich damit den Himmel verdienen will.

Herkunft und Milieu legen nicht mehr ausschließlich fest, was der einzelne Mensch denkt, fühlt und glaubt. War bis in die frühe Neuzeit ein Überleben des Individuums außerhalb der für ihn bestimmten Gesellschaft und Klasse so gut wie unmöglich und damit praktisch ausgeschlossen, nicht an Gott zu glauben, so ist für die moderne Person heute die Gesellschaft durchlässiger geworden und sie kann ihren Glauben an Gott frei wählen. Die neuzeitliche Gesellschaft erlebt die Pluralisierung kultureller Identitäten. Es gibt den Markt der religiösen Möglichkeiten. Heute kann keine Glaubensgemeinschaft mehr selbstverständlich die Gültigkeit ihrer Ideen behaupten. Sie muß es sich gefallen lassen, hinterfragt zu werden. Den eigenen Absolutheitsanspruch durchzuhalten, fällt immer schwerer. Der einzelne Mensch hat die Freiheit der Auswahl, was für ihn wahr, gerecht, schön, gut und erstrebenswert ist. Es verbietet ihm niemand, inmitten des katholischen Altötting in Bayern Anhänger des tibetischen Dalai Lama zu werden. Die Globalisierung — vor allem im Bereich der Massenmedien — hat sich auch der Religion bemächtigt. Die Möglichkeit, aus einer Glaubensgemeinschaft wieder auszutreten, ist ebenso verbrieftes Recht der Religionsfreiheit.

Säkularisation beschreibt die Rolle von Religion in einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft. Aus religiöser Warte wird das als Provokation und Angriff empfunden. Von ihrem Selbstverständnis her tut Religion sich schwer damit, in der heutigen Zeit von ihrer Stellung hoch über den vielen gesellschaftlichen Bereichen, denen sie Jahrtausende lang den einen verbindenden und verbindlichen Sinn gegeben hat, in der modernen Welt zu einem ausdifferenzierten Bereich unter vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen geworden zu sein. Religion kann sich selbst gerade nicht als Fachbereich für transzendente Fragen unter ferner liefen verstehen und auf die eigene Zuständigkeit für den Rest der Welt verzichten. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 hat die Katholische Kirche daher gebraucht, Religionsfreiheit in der bürgerlichen Staatsordnung überhaupt anzuerkennen und nicht ausdrücklich zu verdammen. Denn wer "Religionsfreiheit" sagt, verzichtet auf das dogmatische Prinzip "Wahrheit vor Freiheit!" und damit praktisch auf den Anspruch, die allein selig machende Organisation für die gesamte Welt zu sein. Er findet sich wieder — eingereiht unter die vielen, die ihr religiöses Angebot anpreisen. Mit dem Begriff von der Welt als Schöpfung Gottes reklamieren die christlichen Kirchen weiterhin auch noch heute, zwar erheblich gedämpft, ihren universellen Deutungsanspruch und verstehen ihre Botschaft als Erlösung von der den Menschen umgebenden bösen Gesellschaft. Jede Enzyklika des Papstes, aber ebenso jede lutherische Predigt ruft das in Erinnerung, aber sie sind zu einer Stimme unter den vielen geworden.

Um an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorzubauen: Diese hier angeführten Merkmale der Säkularisation bewirken natürlich kein automatisches Verschwinden von Religion. Sie treten aber zu ihr in Widerspruch. Es ist wichtig, sie immer in ihrer ambivalenten Funktion zu verstehen. Die unaufhörliche Erweiterung des Wissens verunsichert das Individuum. Die Erfahrung von weltweit umsichgreifenden Krisen und Kriegen lassen den Einzelnen orientierungslos zurück. Die Zunahme der Komplexität von Welt und Gesellschaft erzeugt, bezogen auf das Selbstgefühl, einen erhöhten Bedarf an Sicherheiten. Es ist auch heute schwer vorstellbar, daß Menschen in Sinnkrisen oder um Unheil abzuwehren plötzlich ganz aufhören werden, auf die Angebote von Religion zurückzugreifen. Manche Soziologen bescheinigen der Religion aus diesem Grund eine unabnutzbare Dauer ihrer gesellschaftlichen Funktion. Dies kann zu neuer rigider Religiosität führen; aber auch zu dem Wunsch nach emanzipatorischem rationalem Begreifen und solidarischen Handeln. Ob das in aller Zukunft aber so bleiben muß? Eine zielgerichtete Entwicklung oder gar Evolution kann die soziologische Forschung nicht erkennen.

Geschichtliche Beobachtungen

Als Beispiel für den weltweiten Erfolg christlicher Missionstätigkeit gelten die evangelikalen und charismatischen Bewegungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgehend von den Vereinigten Staaten, ausgestattet mit viel Geld und medialer Unterstützung, ist es ihnen gelungen, christlichen Glauben neu zu beleben. Sie gelten religiösen Hoffnungsträgern als "Nagel im Sarg der Säkularisierungstheorie". Diese charismatischen, auch Pfingstbewegung genannten Gruppen, haben besonders starken Zuspruch unter den Ärmsten in Afrika und den Ländern Südamerikas. Ekstatische Anbetung als der lebendige Beweis, daß der Geist Gottes über sie gekommen ist, zeichnet sie aus. Bereits bis zu 30 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas werden ihnen in manchen Berichten zugerechnet. Sie machen für uns dramatisch sichtbar, wie soziale Ungleichheit zu neuer Religiosität führt.

In Deutschland waren nach 1945 die Kirchen die einzigen Institutionen, die in den Augen der Siegermächte als "nicht bestrafungswürdig" galten. Die beiden großen Kirchen hatten tatsächlich das Ende der Nazi-Diktatur einigermaßen unbeschadet überstanden. Evangelische wie katholische Kirche besaßen in der Nachkriegszeit eine starke gesellschaftliche Stellung. Den Kirchen traute man am ehesten zu, einen Neuanfang nach dem Faschismus herbeizuführen. Kirchliche Angebote, wie Gottesdienste, wurden genutzt. So gut wie jedes Kind wurde in den fünfziger Jahren getauft, gefirmt beziehungsweise konfirmiert. Von den Alliierten gesteuert — denen ebenfalls noch vorhandene betriebsrätliche und gewerkschaftliche Institutionen eher suspekt waren — durften Kirchliche Hilfswerke unmittelbar wirtschaftliche Versorgungsaufgaben übernehmen. Ein Gleichklang der Interessen lag nahe: Beim Kirchgang konnte man Kunden- und Wählerkontakte knüpfen. Die Kirchengemeinden waren politisch, wirtschaftlich und sozial integriert.

In den 1960er Jahren entstand eine zunehmende innere Abkehr vom Glauben und der Kirche durch gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung. Mehr und mehr setzte man sich stillschweigend über religiöse Normen hinweg. Das führte auch zu einer bewussten ersten Austrittswelle. Ganz praktisch waren oft die Gründe. Witwen im Krieg gefallener Soldaten lebten ohne kirchlichen Segen und Trauschein mit Partnern zusammen — selbst im sicher eher konservativ geprägten ländlichen Dithmarschen —, um ihren Rentenanspruch durch eine Eheschließung nicht zu verlieren. Trotz der „bleiernen“ Adenauerzeit ging den Kirchen ihre familiäre Deutungshoheit anhand der Reformen im Ehe- und Familienrecht verloren. Dem widerspricht nicht, wie stark dennoch die Politik in Westdeutschland von katholischer und evangelischer Religion durchdrungen war. Anders als die rein katholische Partei des "Zentrum" bis 1933, versuchten CDU/CSU durch eine Neugründung einen Zusammenschluss evangelischer und katholischer Strömungen zu erreichen. Das hat angesichts katholischer Flüchtlingsströme, die nach 1945 in den Westen kamen, erheblich dazu beigetragen, die fortbestehenden konfessionellen Spannungen in Westdeutschland abzubauen.

In den 1960er und 1970er Jahren öffneten sich die Kirchen gegenüber der modernen Gesellschaft. Erinnert sei an das Zweite Vatikanische Konzil in Rom und den in diesen Jahren sprunghaften Ausbau von sozialen Einrichtungen der Caritas und Diakonie in Westdeutschland. Es war der Übergang von der "strafenden" zur "helfenden" Kirche, vom "gläubig folgenden" zum eher "suchenden Christen". Neue Spiritualität und erlebnisreiche Gottesdienste prägten diese Jahrzehnte. Dennoch zerfiel die kulturelle und politische Position der Kirchen. An die Stelle von Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit traten Werte wie Selbstverwirklichung, politische Teilhabe, sexuelle Selbstbestimmung und Lebensgenuss. Das führte Ende der 60er Jahre zu einer breiten Kirchenaustrittswelle. Analysiert man die Zahlen der Kirchenaustritte aus den katholischen Bistümern und evangelischen Landeskirchen seit dieser Zeit, so zeigen sich zwei statistische „Hochphasen“ und vier „Gipfelpunkte“. Die beiden Hochphasen sind die gesellschaftskritischen Jahre 1969-1978 und die von 1990-1995. Die vier statistischen Gipfeljahre innerhalb dieser beiden Phasen sind Reaktionen auf materielle, politische Vorkommnisse: 1970 der Konjunkturzuschlag, 1974 die Stabilitätsabgabe, 1991 die Einführung der Kirchensteuer in den Neuen Bundesländern und 1995 der Solidaritätszuschlag. 

Dabei laufen die beiden Phasen und die Gipfelpunkte bei den beiden großen Kirchen parallel — wobei interessant ist, dass sich der jahrzehntelange Abstand von 2 zu 1 bei den Kirchenaustritten zugunsten der Katholiken seit 1995 erheblich verringert hat und sie jetzt mit den Protestanten gleichziehen. 1990 wird zum ersten Mal die Anzahl von 100.000 Austritten pro Jahr bei beiden Kirchen überschritten.

Das soziologische Feld "DDR" ist für viele Religionssoziologen ein beliebtes Untersuchungsfeld. Die Kirche in der sozialistischen Gesellschaft war durchaus Bestandteil des öffentlichen und politischen Lebens, aber die soziale Fürsorge wurde weitgehend von staatlichen Institutionen übernommen. Dies war auch ihr gesellschaftspolitischer Anspruch.

Sicherlich war es in der DDR nicht gerade karriereförderlich, sich religiös zu betätigen und der Kirchenaustritt für viele Funktionäre faktisch vorausgesetzt. Aber davon unabhängig wurde gesellschaftlich in großem Maße der Kirche der Rücken gekehrt. Ideologisch wurde der Atheismus als aufgeklärte, dem fortschrittlichen Bürger entsprechende Einstellung gegenüber vertreten.

"Ein weiterer Faktor" schreibt Detlef Pollack, in "Säkularisierung — ein moderner Mythos?" auf Seite 80, "lag im sozial-strukturellen Umbau, der in Ostdeutschland Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren vollzogen wurde. In dieser Zeit wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Vergenossenschaftlichung des Handwerks, die Vertreibung des Besitzbürgertums sowie die Entmachtung des Bildungsbürgertums mit Mitteln der staatlichen Gewalt betrieben. An die Stelle der bisherigen gesellschaftlichen Eliten traten Aufsteiger aus der Arbeiterklasse und Angestelltenschicht. Dieser sozial-strukturelle Umbau der Gesellschaft brach den evangelischen Kirchen das sozial-strukturelle Rückgrat, denn der Protestantismus war vor allem in der Bauernschaft, bei den Akademikern und bei den selbständigen Handwerkern überrepräsentiert. Außerdem trugen zur Entkirchlichung auch Prozesse der Modernisierung bei ... Der Lebensstandard erhöhte sich, die alternativen Freizeitangebote vervielfältigten sich und gewannen an Attraktivität, das Bildungsniveau stieg an. Rationalisierung, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten die Alltagswelt sowie das Alltagsdenken der DDR-Bürger. Auch diese Prozesse übten einen negativen Einfluß auf die Kirchenbindung aus."

Der Anteil der Mitglieder der evangelischen Kirche an der ostdeutschen Bevölkerung sank von 90 Prozent im Jahr 1949 auf 30 Prozent in 1989 und liegt derzeit bei etwa 20 Prozent.

Nachdem die ostdeutschen Kirchen 1989 einen gewissen Nimbus als Widerstandskraft erringen konnten, verloren sie ihn schnell wieder nach dem Anschluß der DDR an die die Bundesrepublik und die Westkirche. Ein markanter Grund dafür war die Zustimmung der neu gegründeten Landeskirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zum nun ebenfalls „staatsidentischen“ Militärseelsorgevertrag. Der bis zuletzt aufflackernde Widerstand wurde mit kirchlichem Geld gebrochen. Vom Westen mit Milliarden DM-Beträgen schon zu DDR-Zeiten gestützt, trugen diese Kirchen nichts zu einer neuen Identität und einem neuen Selbstverständnis der dortigen Bevölkerung bei.

Gottesglaube und Bruttosozialprodukt

Zum Schluß sei auf die Grafik "Gottesglaube und Bruttosozialprodukt pro Kopf in Westeuropa" mit einem erläuternden Zitat von Detlef Pollack aus "Religion und Moderne", Seite 29, hingewiesen.

"Herauszufinden, worin die Ursachen dieses allgemein zu konstatierenden Rückgangs individueller Religiosität bestehen, erfordert die Durchführung komplexer Analysen... Es sei aber … zumindest darauf hingewiesen, dass das Religionsniveau, gemessen etwa am Kirchgang, am Glauben an 'Gott' oder an der Bedeutung, die der Einzelne Religion in seinem Leben zuweist, mit dem Modernitätsniveau sinkt. Je wohlhabender Gesellschaften sind, je geringer das Ausmaß sozialer Ungleichheit in ihnen ist und je besser der Sozialstaat ausgebaut ist, desto geringer ist das Religiositätsniveau. Dieser Zusammenhang sei hier an der Korrelation zwischen GDP per Capita (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) und Glaube an 'Gott' exemplarisch verdeutlicht."

Es ist eben durchaus auch möglich, dass die Segnungen der Moderne den religiösen Eifer schlichtweg erlahmen lassen: Je angenehmer sich das irdische Leben hienieden darstellt, desto schwerer ist es, sein Augenmerk darauf zu richten, was danach im Jenseits dermaleinst kommen soll. Die Ungläubigen und Skeptiker wirft daher die Kirche aus ihrem Himmel der Göttlichen Weisheit heraus; so wie es auf einem Bild in der Bibliothek im Stift Admont drastisch dargestellt wird. Ihnen ist der Himmel verloren gegangen.

 


Quellen: Detlef Pollack, "Religion und Moderne", Bochum 2007
Detlef Pollack, "Säkularisierung — ein moderner Mythos?", Tübingen 2012
Niklas Luhmann, "Die Religion der Gesellschaft", Frankfurt 2002
fowid (Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland)