Wie säkular ist unsere Gesellschaft?

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Foto: Blick auf den Dom und die Severikirche in Erfurt, Michael Sander, (CC-BY-SA-3.0)

ERFURT. (hpd) Die linke Bundesarbeitsgemeinschaft "Demokratie und Soziale Befreiung" hatte für den 2. bis 4. Januar 2014 zu ihrer alljährlichen Winterschule in Thüringens Landeshauptstadt Erfurt eingeladen. Innerhalb der Winterschule gab es auch einen Philosophie-Kurs unter Leitung des bereits 1974 aus der Kirche ausgetretenen evangelischen Pfarrers Karl-Helmut Lechner.

Die Teilnehmer kamen aus fast allen westdeutschen Bundesländern sowie aus Österreich. Ihr Kurs beschäftigte sich ausschließlich mit einer auch für Humanisten interessanten Frage: "Sind die Götter zurückgekehrt - Der verlorene Himmel: Wie säkular ist unsere Gesellschaft?"

Im ersten Teil ging es anhand von Schriften Immanuel Kants, Niklas Luhmanns und Detlef Pollacks um die Frage nach der Definition von "Religion". Und in einem zweiten Teil anhand von Gerhard Czermak und Detlef Pollack um die Frage nach der Definition von "Säkularisation".

Grundlage für die dreitägigen Diskussionen gab der nachstehende religionssoziologische Text Lechners: 

Die These von der Säkularisierung der Gesellschaft geht davon aus, daß Religion und Moderne in einem grundlegenden Spannungsverhältnis stehen. Wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Fortschritt verdrängen Religion und Kirchen aus ihren Jahrhunderte alten gesellschaftlichen Positionen, führen zu deren Bedeutungsverlust und damit für die Zukunft zum — oftmals erhofften — allmählichen Absterben von Religion. Die Grundgedanken dieser These gehen auf Max Weber und Émile Durkheim zurück, die beide davon ausgingen, dass Rationalisierung und Individualisierung in der heutigen Welt zu einem Niedergang von Religion führen werden.

Der Begriff von Säkularisierung ist seit einigen Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion in die Kritik geraten. Diese Kritik stellt zunächst einfach fest, daß die Moderne das Religiöse nicht verdrängt hat und dass die rechtliche Trennung von Staat und Kirche nichts über die Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft aussagt. Oft geht diese Kritik aber weiter. In der öffentlichen Diskussion wird zunehmend vertreten, Religion habe auch unter modernen Bedingungen ihre Prägekraft bewahrt, sei mit der modernen Welt kompatibel und könne sogar selbst zur Quelle der Modernität werden.

In diesem Artikel wird dagegen die Auffassung vertreten: Auch wenn in unserer westlichen Welt Religion und Kirche zur Linie der Herausbildung der modernen Gesellschaft gehören und sich in ihr behauptet haben, sind sie von den Folgen der Modernisierung insgesamt eher negativ betroffen. Ob sie je gänzlich verschwinden werden, das steht auf einem anderen Blatt. Und wenn, so könnten wir dies ohnehin nur im geschichtlichen Rückblick wissenschaftlich korrekt beschreiben — und nicht als Prophezeiung.

Religion — eine Problemlösung neben anderen

In den Medien wird ebenso wie in der religionssoziologischen Forschung oft sehr allgemein von Religion gesprochen. Häufig wird bewusst eine Definition vermieden. Offensichtlich meinen die Menschen schon immer irgendwie zu "wissen", was Religion ist. Ist von Religion die Rede, schwappen die Gefühle hoch, negativ wie überschwenglich positiv. Religion gehört eben mit zu den am stärksten emotional besetzten Erfahrungen der Menschen.

Wollte eine Definition wissenschaftlich allgemeingültig sein, so müsste sie so weit gefaßt sein, um auch jene Phänomene mit einbeziehen zu können, die außerhalb der institutionalisierten Religionen anzutreffen sind. Also nicht nur in Jahrtausenden gewachsene Religionen und Volksfrömmigkeit. Sind ohne Widerspruch Christentum, Islam, Buddhismus, Schamanismus und Bahai als Religionen zu definieren, so müßten auch Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Scientology, Wahrsagerei, Telepathie oder Zivilreligion in diese Begrifflichkeit mit einbezogen werden. Es muß dem entsprechend zwischen ihnen etwas Gemeinsames geben. Eine derartige Definition muß uns zugleich aber auch aufzeigen, was Religion nicht ist. Nur so sind wir dann in der Lage, sie zum Beispiel von Philosophie, Kunst oder Literatur methodisch korrekt zu unterscheiden.

Substantiell oder funktional

Grob vereinfacht unterscheidet man in der Religionssoziologie zwischen einer "substantiellen" und einer "funktionalen" Definition von Religion. Die erstere bestimmt Religion durch ihre Substanz, also ihren Inhalt. So kann man zum Beispiel anhand von Lehraussagen, durch Heilige Schriften und Glaubensbekenntnisse Unterscheidungen zwischen religiösen Phänomenen treffen: die Heilige Dreieinigkeit im Christentum — Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist — im Unterschied zum alleinigen Gott Allah im Islam. Oder es sind elementare Erfahrungen, die das Leben von Menschen bestimmen, die sie für wahr halten und über die sich Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft definieren und voneinander abgrenzen. Als Beispiel seien hier die charismatischen Erweckungsgefühle der von Geist beseelten Gläubigen der Pfingstbewegungen genannt.

Die funktionale Definition dagegen beobachtet Religion und fragt in ihrer Methode danach, auf welches Problem sich Religion bezieht, was Religion jeweils zur Lösung eines bestimmten Problems beitragen kann. Sie will zum Beispiel wissen, wie Religion gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt, Ereignisse deutet, dazu Mut macht, Unterdrückung abzuschütteln oder persönlichen Trost spendet. Indem diese Methode Religion in ihrer konkreten Wirkungsweise beobachtet und darauf sieht, was sie gesellschaftlich oder für den einzelnen Menschen leistet, wird es ihr möglich, die "Funktion" von Religion zu erkennen. Im Licht dieser Alternativen entsteht die Möglichkeit des soziologischen Vergleichs: Sie entdeckt, wie Religion dadurch, was sie bewirkt, wie sie "funktioniert", zu einem Angebot neben anderen wird, um Probleme zu lösen. Was hilft mir mehr, mich zu beruhigen — in meiner höchsten Not im Gebet die Hände zu falten, buddhistisch zu meditieren oder nervös an meinen Nägeln zu kauen?

Was aber ist das generelle Bezugsproblem von Religion? Die moderne Religionssoziologie spricht hier von der Sinnhaftigkeit und der Kontingenz allen Daseins.

Kontingenz — Es könnte immer auch ganz anders sein.

Zunächst: Kontingenz kann in jedem Weltereignis erscheinen. "Daß ich meine Handschuhe verliere, ist ebenso kontingent wie die Möglichkeit, dass morgen mein Haus einstürzt." Kontingenz meint, dass etwas logisch oder gesetzmäßig durchaus möglich ist, daß es aber nicht notwendigerweise so ist, wie es ist. Es könnte immer auch ganz anders sein. Daher provoziert Kontingenz die existentielle Frage nach dem "Warum?": Warum ist etwas so, wie es ist? Warum ist es nicht anders? Und warum bin gerade ich betroffen?

Dabei ist nicht die Kontingenz selbst religiös. Um mit persönlich erfahrener Kontingenz umzugehen, kann ich mich zum Beispiel genauso gut in Arbeit stürzen, mich zum Psychotherapeuten begeben oder zur Flasche greifen. Die speziell religiöse Form, das Kontingenzproblem zu lösen, ist die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Die Unerreichbarkeit der Transzendenz, im Christentum ist es die Rede von Gott, überführt alles Unbestimmte und Unbestimmbare der Welt in die gewisse Bestimmbarkeit. "Gott" ist das Ende der "Warum? – Frage". Die Religion sagt, es geschieht alles nach dem Willen Gottes, er ist furchtbar in seinem Zorn und unergründlich in seiner Gnade, niemals aber ist er rein willkürlich in seinem Handeln. Religiöse Rituale, Gebete und Heilige Schriften haben die Aufgabe, diese unüberbietbare Gewissheit im Glauben herzustellen. Durch konkrete heilige Handlungen, wie das Spenden von Brot und Wein in den christlichen Sakramenten oder durch Meditation im Buddhismus oder im weltweit gemeinsamen Gebet der Muslime, wird die Einheit mit der Transzendenz real im Diesseits erfahrbar und für den Gläubigen zur Wirklichkeit.

Welche "Wahrheit" hinter dem vollzogenen Ritus auch immer stehen mag: Die funktionale Methodik der Religionssoziologie blendet diese Frage aus.