Der Stuttgarter Rat der Religionen machte vergangenen Monat mit einem "Tag der Religionen" im Rathaus auf sich aufmerksam. Räte der Religionen vertreten ausschließlich Religionsgemeinschaften, keine nicht-religiösen Weltanschauungen. Sie sind kein Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft hinsichtlich religiöser und nicht-religiöser Anliegen der Bürger, sondern staatlich gehätschelte Lobbyorganisationen.
Der 2015 gegründete Stuttgarter Rat der Religionen hat Anfang Oktober mit dem ersten Stuttgarter "Tag der Religionen" im Rathaus auf sich aufmerksam gemacht. Das Land Baden-Württemberg hatte 2017 in Zusammenarbeit mit dem Weltethos-Institut Tübingen ein Projekt finanziell gefördert, um weitere Städte dabei zu unterstützen, eigene Runde Tische der Religionen einzurichten. Anfänglich kam in den Texten noch der Begriff "Weltanschauungen" vor, diese wurden aber in lokalen Räten der Religionen (manchmal auch Vereinigungen mit Bezeichnungen wie "Runder Tisch der Religionen", "Forum der Religionen", "interreligiöser Dialog") definitiv ausgeschlossen, sodass die Räte der Religionen nun ausschließlich für die religiösen Interessen der beteiligten Institutionen sprechen. Eine staatliche Förderung der Religiosität der Bürger und von religiösen Verbänden muss in einem säkularen Staat jedoch unterbleiben.
Erster Stuttgarter "Tag der Religionen" im Rathaus
In der Einladung zu dem offenen Treffen heißt es:
"Zwanzig Religionsgemeinschaften in Stuttgart, die den Rat der Religionen bilden, laden gemeinsam mit der Stadt Stuttgart herzlich zum ersten 'Tag der Religionen' ein. Der Stuttgarter Rat der Religionen ist einer der größten in der Bundesrepublik. Beim ersten Stuttgarter 'Tag der Religionen' am Donnerstag, den 6. Oktober 2022, ab 18.00 Uhr im Rathaus Stuttgart, Großer Sitzungssaal und Foyer, stellen sich Rat und Mitglieder in ihrer Vielfalt vor, bieten sich als Ansprechpartner*innen für Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft an und freuen sich darauf, Ihnen für Ihre Fragen zur Verfügung zu stehen und mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Der Eintritt ist frei. Ahmadiyya Muslim Jamaat, Alevitische Gemeinde, Armenische Gemeinde, Bahá'i-Gemeinde, DITIB, Die Christengemeinschaft, Evangelische Kirche, Êzidische Sonne, Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, Griechisch-Orthodoxe Gemeinde, Hindu Verein, Islamische Gemeinschaft, Israelitische Religionsgemeinschaft, Katholische Kirche, Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Netzwerk Buddhistische Zentren, Neuapostolische Kirche, Russisch-Orthodoxe Kirche, VIKZ Kultur- und Bildungswerk, Stadt Stuttgart."
Bericht und Bewertung
Der Stuttgarter Rat der Religionen tritt mit dem Anspruch auf, die Stadtgesellschaft weltanschaulich zu vertreten und ihren Zusammenhalt zu fördern. Er bietet sich als Ansprechpartner bei multi-religiösen Fragen an, zum Beispiel bei der Bestattung von Angehörigen anderer Religionen oder beim Umgang mit religiösen Konflikten auf dem Schulhof.
Viermal im Jahr findet ein Treffen in den Räumen einer Religionsgemeinschaft statt. Man konzentriert sich auf Stuttgarter Themen. Aktionen wie Feiern, Gedenken, Beten für den Frieden und der Volkstrauertag sollen gemeinsam begangen werden. Jedes Jahr soll ein "Tag der Religionen" stattfinden, eine bundesweite Aktion ist geplant.
Religiosität der Stuttgarter Bevölkerung wird überzeichnet
Bereits in seiner Einführung zu der Veranstaltung im Rathaus betonte Bürgermeister Clemens Maier, Religionsbeauftragter der Landeshauptstadt Stuttgart und Bürgermeister für Ordnung, Sicherheit und Sport, die angeblich ungebrochene Relevanz der Religionen: Laut einer methodisch fragwürdigen Umfrage bezeichnen sich 60 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung – das wären circa 350.000 Bürger – als religiös. Dies ist die mehrfach betonte Legitimation für das Engagement der Stadt Stuttgart. Der aus der kommunalen Statistik ersichtliche drastische Rückgang der Religiosität, der sich unter anderem in den rasant schwindenden Mitgliedszahlen der Großkirchen auch in Stuttgart widerspiegelt, wird hingegen geflissentlich ignoriert. Dass von den Kirchenmitgliedern zudem nur ein kleiner einstelliger Prozentsatz zu den praktizierenden Gläubigen zählt, die regelmäßig (mindestens einmal pro Monat) die Gottesdienste besuchen, war auch nicht der Erwähnung wert. Eine kürzlich durchgeführte Studie hat ergeben, dass die protestantischen Freikirchen in Stuttgart, denen circa zwei Prozent der Bevölkerung angehören, um 40 Prozent mehr Besucher haben als die Gottesdienste der evangelischen Landeskirche, der aktuell etwa 21,8 Prozent der Stuttgarter Bürger angehören. Im Rat der Religionen sind die aktiv Gläubigen und deren Repräsentanten dominierend.
Der anmaßende gesellschaftliche Alleinvertretungsanspruch der Religionen in einer zunehmend säkularen Stadt führt zu kuriosen Ergebnissen: Ein Mitglied der nicht-religiösen Organisation der Humanisten Baden-Württemberg schlug in der Fragerunde der Veranstaltung vor, den Rat der Religionen zu einem Rat der Weltanschauungen umzufunktionieren; hierdurch würde der nicht-religiöse Anteil der Bevölkerung stärker berücksichtigt und Organisationen wie seinem Verband die Mitgliedschaft ermöglicht. Die Moderatorin Verena Neuhausen (Koordinatorin des Rats der Religionen, Vertreterin des Katholischen Stadtdekanats Stuttgart und SWR-Journalistin) verwies in ihrer Antwort kühl auf die im Saal repräsentierten Religionen: Wenn der Fragende im Rat vertreten sein wolle, müsse er einfach nur bei einer von ihnen Mitglied werden. Die Gründungsorganisatoren haben sich ganz bewusst auf rein religiöse Organisationen beschränkt. Wie sich bei derartiger Ignoranz der von Maier formulierte Anspruch begründet, nicht-religiöse Bürger ebenfalls zu vertreten, wird nicht ersichtlich.
Maier betonte die große Bedeutung, die der wegen Krankheit entschuldigte Oberbürgermeister Frank Nopper dem Rat der Religionen beimisst. Die Aktivitäten des Rats werden durch die Stadt, die auch formelles Mitglied ist, unterstützt. Ein greifbares Beispiel hierfür ist der von der Stadt erstellte und finanzierte "Stuttgarter Atlas der Religionen", der leider nur eine einseitige Darstellung der Stadtgesellschaft aus Sicht der Religionen bietet.
Befragt, wie viele Ressourcen er und das Ordnungsamt für den Rat der Religionen aufwenden, nahm Maier, promovierter katholischer Theologe, die auch zu seinem Aufgabengebiet zählende Sportförderung der Stadt als Vergleichsmaßstab: Das Sportamt hat 60 Mitarbeiter und die Stadt stellt Räume und Sportstätten zur Verfügung. Wenn die Stadt Sport fördere, so Maier, müsse sie auch Religion fördern. Und bei deren Unterstützung gebe es, so Maier, durchaus "Luft nach oben".
Natürlich gibt es von Seiten der Ratsmitglieder viele Wünsche nach mehr Unterstützung: Manche Religionsgemeinschaften haben keine Räume. Maier und die anwesenden Mitglieder des Stuttgarter Gemeinderates wurden von der Moderatorin aufgefordert, ihr Engagement auszuweiten. Eine feste Stabstelle, ein Etat, ein aktiv unterstützender Ansprechpartner, Hilfe bei der Planung von Veranstaltungen, ein Hineinwirken in die Schulen, stärkere Berücksichtigung der Religionsgemeinschaften in der Stadtplanung – all das ist Teil der umfangreichen Wunschliste.
Kooperatives Modell statt weltanschauliche Neutralität
Dass der Religionsbeauftragte es als Aufgabe der Stadt ansieht, Religionen genauso wie Sport zu unterstützen, ist zumindest fragwürdig. Die Unterstützung religiöser Aktivitäten und Religionsgemeinschaften berührt die weltanschauliche Neutralität des Staates und seiner öffentlichen Einrichtungen. Maier, der auch Jurist ist, sah dies allerdings in einer Diskussion in kleiner Runde entspannt; er postuliert für Deutschland stattdessen ein kooperatives Modell zwischen Religion und Staat. Dass mit der Förderung durch die Stadt ein Verstoß gegen die weltanschauliche Neutralität vorliege, müsse man ihm erst einmal nachweisen. Er ist zudem nicht der Ansicht, "dass Religion nur Privatsache ist".
Konflikte zwischen den Religionsgemeinschaften sind unvermeidlich, werden jedoch vom Rat ausgeblendet. Man redet nicht über Glaubensrichtungen und Glaubenswahrheiten; jedem wird das Recht zugestanden, seinen eigenen Glauben zu leben. Die Diversität, die Unvereinbarkeit und das teilweise Einander-Spinnefeind-Sein der Religionsgemeinschaften redet man sich mit einem bewundernden "Wie vielfältig ist doch der Glauben!" schön. Die Einigkeit der Mitglieder wird zelebriert; Michael Blume, ehemaliger Religionsbeauftragter und jetzt Antisemitismusbeauftragter des Landes, wurde mit Blick darauf folgendermaßen zitiert: "Wer einen von uns angreift, greift alle von uns an." Nicht überall funktioniert dieser Burgfrieden allerdings, denn Vorgängerorganisationen wie der 2003 ins Leben gerufene Runde Tisch der Religionen in Stuttgart, eine Einrichtung der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart, ist versandet beziehungsweise hat sich zerlegt, wie man zugeben musste.
Undemokratische, nationalistische und sogar rassistische Grundeinstellungen und Aktivitäten einiger Religionsgemeinschaften in ihren Heimatländern (und auch in Stuttgart) werden überdeckt durch Parolen wie "Hier in Stuttgart verstehen wir uns alle wunderbar miteinander" oder, wie im Fall der russisch-orthodoxen Kirche, deren Oberhaupt den russischen Angriff auf die Ukraine vehement unterstützt: "Wir versuchen, politische Fragen zu vermeiden und nur unsere Religion auszuleben".
Besonders krass wird diese Diskrepanz bei der als größter deutscher Dachverband der Muslime im Rat prominent platzierten DITIB. Dass diese Organisation, die der türkischen Religionsbehörde Diyanet und damit der Erdoğan-Regierung unterstellt ist, durchaus umstritten ist, wurde von der Moderatorin zwar kurz angerissen. Dass Gemeinden der DITIB allerdings laut Verfassungsschutz "verfassungsfeindliche nationalistisch-religiöse Aktivitäten" verfolgen, ist kein Hinderungsgrund für die Mitarbeit im Rat. Und die mancherorts von DITIB-Angehörigen unterstützten faschistischen Grauen Wölfe sind auch in Stuttgart aktiv. Die DITIB gab sich auf der Veranstaltung dagegen – unwidersprochen – überraschend liberal: "Alle Religionsgemeinschaften sollen ihren Glauben ausleben dürfen. Es gibt überall schwarze Schafe, die muss man ausschließen."
Weltanschauungen bleiben außen vor
Dass der Stuttgarter Rat der Religionen nicht-religiöse Weltanschauungen ausschließt, widerspricht dem ursprünglich von Manfred Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration, angestoßenen Projekt "Lokale Räte der Religionen auf den Weg bringen": "Ziel des Runden Tisches ist es, den Austausch der Landesregierung mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Land zu stärken, um die Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern." Die gbs Stuttgart hatte 2017 die Öffnung für nicht-religiöse Weltanschauungen beantragt, dies wurde abgelehnt. Immerhin wurde in dem Antwortschreiben noch bestätigt: "Die Anliegen der nicht religiösen Bevölkerung werden dabei selbstverständlich mit einbezogen. Herr Minister Lucha hat aber bereits festgehalten, dass das Gremium auch künftig unter der Überschrift 'Runder Tisch der Religionen' tagen soll. Aus Sicht der Landesregierung ist es unverzichtbar, möglichst alle landesweit organisierten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf Augenhöhe anzuhören." Im Jahr 2020 wurde der Geschäftsführer der Humanisten Baden-Württemberg einmalig als Vertreter der säkularen Bürger zu einem Treffen des Runden Tisches der Religionen Baden-Württemberg eingeladen.
Das von Minister Lucha 2017 angestoßene Modellprojekt sollte ergänzend zu den bis dahin erfolgreichen Initiativen (wie die in Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart und Ulm) in Zusammenarbeit mit der in Tübingen ansässigen Stiftung Weltethos bis 2021 in mindestens zehn weiteren Kommunen zur Etablierung zusätzlicher "Lokaler Räte der Religionen" führen. Bei Interesse an der Einrichtung eines solchen Rates können sich Kommunen vom Ministerium für Soziales und Integration und der Stiftung Weltethos kostenlos beraten lassen und von deren Expertise im Bereich des interreligiösen Dialogs profitieren. Dazu hat das Ministerium gemeinsam mit dem Weltethos-Institut einen Leitfaden "Lokale Räte der Religionen" herausgegeben. Darin werden Kommunen aufgefordert, die Etablierung solcher Lokaler Räte aktiv zu unterstützen. Das bis 2021 verlängerte und mit 100.000 Euro vom Land geförderte Modellprojekt richtete sich an Kommunen mit mindestens 20.000 Einwohnern, wovon es in Baden-Württemberg 92 gibt. Das Ziel wurde allerdings wohl kaum erreicht – manche Initiativen sind versandet oder wurden, wie in Ellwangen, "auf Eis gelegt". Bedauerlicherweise hat sich der Rat der Religionen zu einem weiteren staatlich geförderten Forum für den interreligiösen Dialog entwickelt, einer Einrichtung, die die Religiosität sowie die Gemeinschaft der Religionen und deren politische Wahrnehmung stärken soll – in einem Umfeld, wo die Religiosität der Bürger kaum noch eine Rolle spielt.
Im Gegensatz zu einem Rat der Religionen könnte man von einem "Rat der Weltanschauungen" gemeinsame Stellungnahmen zu gesellschaftsrelevanten Themen erwarten, zum Beispiel zur Gleichberechtigung von Frauen, zum Ethikunterricht für alle Schüler, zur Trennung von Staat und Kirche, für die Meinungsfreiheit und die weltweite Abschaffung von Blasphemie-Paragraphen, gegen die Verfolgung von Atheisten und Apostaten in theokratischen Gottesstaaten, gegen kirchliche Sonderrechte wie das kirchliche Arbeitsrecht, gegen die kircheninterne Aufklärung von Missbrauchsfällen, gegen Fatwas (islamische Rechtsurteile), die zur Tötung aufrufen (davon betroffen Salman Rushdie, Seyran Ateş, Hamed Abdel-Samad u.v.a.m.) sowie für den Vorrang von Menschenrechten und staatlichen Gesetzen vor religiösen Geboten. Solche Stellungnahmen sind von einem religiös orientierten Rat der Religionen nicht zu erwarten, weshalb diese Vereinigungen keine staatliche Unterstützung und Förderung erhalten dürfen.
Fazit
Die Räte der Religionen und auch der Stuttgarter Rat der Religionen vertreten allem Anschein nach ausschließlich Religionsgemeinschaften, keine nicht-religiösen Weltanschauungen und auch nicht die Zivilgesellschaft. Ein geschlossener Stuttgarter Rat der Religionen ist eine Lobbyorganisation und kein Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft der Stadt, für religiöse und nicht-religiöse Anliegen der Bürger. Es ist nicht Aufgabe des weltanschaulich neutralen Staates, die Religiosität der Bürger oder die Religionsgemeinschaften über derartige Räte zu fördern. Eine legitime Forderung wäre, den Stuttgarter Rat der Religionen zu einem Stuttgarter "Rat der Weltanschauungen" zu erweitern, der keine nicht-religiösen Weltanschauungen ausschließt. Wenn eine Stadt wie Stuttgart zudem einen Bürgermeister als Religionsbeauftragten ernennt, der sich ausschließlich für religiöse Weltanschauungen einsetzt, ist das mit der grundgesetzlich geforderten weltanschaulichen Neutralität einer öffentlichen Institution nicht vereinbar.