"Ärzte sollten nicht richten oder verurteilen..."

BERLIN. (hpd/dghs) Seit 2009 lebt Martin Winckler, bis 2008 als Arzt im Bereich Schwangerschaftsabbruch und Schmerztherapie tätig, im kanadischen Quebec und setzt sich in Essays, Artikeln, Sachbüchern und in belletristischen Werken immer wieder mit medizinethischen Fragen auseinander. In seinem jüngsten Werk "Es wird leicht, Du wirst sehen", das kürzlich auch auf Deutsch erschienen ist, geht es um das Arzt-Patienten-Verhältnis und um Sterbehilfe.

Das Interview ist eine Übernahme aus der Zeitschrift der DGHS "Humanes Leben, Humanes Sterben" (HLS) 1/2014, das der hpd mit freundlicher Genehmigung ebenfalls veröffentlichen darf.

 

HLS: Martin Winckler, Sie heißen eigentlich Marc Zaffran. Warum führen Sie dieses Pseudonym?

Martin Winckler: Ich habe neben meiner Arbeit als Arzt immer geschrieben, aber ich wollte beides trennen. In Fernseh-Interviews zeigte ich jahrelang bewusst nicht mein Gesicht, da ich eine Zeit lang in einer Klinik für Schwangerschaftsabbrüche arbeitete. Irgendwann wollte ich mich nicht mehr verstecken.

 

Kürzlich erschien Ihr Buch "Es wird leicht, Du wirst sehen" auf Deutsch, das sich mit Sterbehilfe befasst. Der Plot: Der Schmerztherapie-Arzt Immanuel Zacks wird von seinem Freund André um Sterbehilfe gebeten. Er erfüllt diesen Wunsch, und von da ab fragen immer mehr Menschen nach dieser Art Hilfe. Zacks beginnt, die Lebensgeschichten aufzuschreiben. Immer wieder geht es darum, was eigentlich ein guter Tod ist und um die hierarchische Rolle der Ärzte als "Götter in Weiß". Warum haben Sie darüber einen Roman und nicht ein Sachbuch geschrieben?

Ausgelöst durch einen persönlichen Verlust wollte ich lieber über Gefühle schreiben. Ich hatte ja vorher als Ethiker über beide Themen geschrieben. Wenn ein Arzt einen Essay schreibt, kommt dies oft sehr autoritär daher, nach dem Motto: "Ich bin Arzt und sage Euch jetzt mal was Sache ist". Ich möchte aber mit den Lesern auf einer Ebene stehen. Ich suche den Dialog.

 

Was sollte sich zwischen Arzt und Patient ändern?

Ärzte sollten lernen, mit ihren Patienten über Sterben und Tod zu sprechen, je früher desto besser. Patienten sollten die Möglichkeit haben zu sagen, dass sie gehen möchten so wie meine Figur André.

Viele Patienten sprechen über ihren Sterbewunsch, aber viele setzen ihn dann gar nicht in die Tat um. Interessanterweise kommt es ja in Ländern, in denen man dies frei wählen kann, häufig nicht dazu. Darüber reden und dann frei entscheiden zu dürfen, ist für mich das Wesentliche. Wir sollten schon mit unseren Kindern über den Tod sprechen.

 

Viele Ärzte wirken sehr rational. Dürfen sie sich keine Gefühle erlauben?

Natürlich dürfen sie das. Viele Mediziner denken, dass ihr Status sonst gefährdet ist. Ärzte sollten nicht richten oder verurteilen, sondern beistehen. Dazu sind sie da, das ist ihr eigentlicher Job.

 

In Ihrem aktuellen Buch vertrauen die Menschen dem Protagonisten Dinge an, über die sie nicht mal mit ihren engsten Vertrauten gesprochen haben.

Da fließen Erfahrungen aus meiner Zeit als Arzt mit ein.

Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, dass Menschen, die im Sterben sind, die Möglichkeit haben, sich alles von der Seele zu reden. Viele können das bei ihren Angehörigen nicht. Ich habe meinen Vater, als er im Sterben lag, viele Fragen gestellt und seine Lebensgeschichte aufgezeichnet. Dann war er tot. Ich dachte, dass ich ihn vielleicht nicht alles gefragt hätte. Aber als ich das Band später noch mal abhörte, wusste ich, dass er alles gesagt hatte. Bei meiner Mutter habe ich das leider nicht gekonnt. Ich wollte damals nicht hören, was sie zu sagen hatte. Später habe ich das sehr bereut.

 

Warum haben Sie Frankreich verlassen und sind nach Kanada gezogen?

Frankreich ist in vielen Dingen und innerhalb seiner Institutionen sehr restriktiv. Die Wissenschaftler sind sehr verschlossen und elitär. Irgendwann wollte ich nicht mehr zu diesem ausgewählten Club gehören. In Quebec gehöre ich nun dem sogenannten "Vierten Stand", quasi dem Proletariat, an. Ich möchte ein kanadischer Bürger sein, ich möchte dort arbeiten, das ist alles. Keine prominente Elitefigur. In Kanada ist mehr in Bewegung und ich empfinde das Land nicht als Machtstaat.

 

Wie sieht es dort in puncto Sterbehilfe aus?

Bei uns erlaubt das oberste Gericht den ärztlich assistierten Suizid, wenn es dem Wunsch der Patienten entspricht und die "Sinnlosigkeit" aller weiteren medizinischen Bemühungen außer Frage steht. Die Verfassung dort basiert auf der individuellen Freiheit.

 

Waren Sie selbst schon mal als Arzt in der Situation, Sterbehilfe zu leisten?

Ich habe damit seit 25 Jahren Erfahrung. Es sollte allerdings meiner Ansicht nach nicht die Aufgabe des Arztes sein, zu entscheiden, ob ein Mensch, der beispielsweise im Koma liegt, weiterleben oder lieber sterben soll. Es ist vielmehr die Entscheidung der Freunde und der Familie, oft ein schwieriger Prozess. Und noch etwas: Es sind nicht immer die psychisch Kranken oder Schwerkranken, die nicht mehr leben wollen. Ich hatte auch mal jemanden, der seinen Sohn verloren und sieben Jahre heftig gelitten hat. Er wurde mit dessen Tod einfach nicht fertig.

 

In Deutschland sind viele Politiker, unterstützt durch die Kirche, offiziell gegen die Sterbehilfe. Und obwohl viele unter der Hand die Ziele der DGHS positiv bewerten, gilt es noch immer als Tabu, sich dazu öffentlich dazu zu bekennen. Glauben Sie, dass sich in Deutschland noch etwas verändern wird?

In Quebec war die Kirche einst auch sehr stark. Aber wir haben ihren Einfluss durch breit gestreute Informationen und viele Diskussionen geschwächt. Um dies auch in Deutschland zu erreichen, müssen die Erfahrung aus den Niederlanden und Belgien "übersetzt" und soweit sowie möglich verbreitet werden. Sehen wir es doch einmal so: Politiker haben alle Väter und Mütter, die ihnen irgendwann mal sagen, wie schizophren das ist, was sie nach außen propagieren, aber im Privaten machen. Und denken Sie doch mal an die Situation vor über 50 Jahren. In vielen Ländern durften Frauen nicht wählen. Jetzt ist dies völlig selbstverständlich.

 

Also besteht Grund zur Hoffnung?

Sicher. Es bewegt sich vielleicht auf den ersten Blick nicht viel, aber es bewegt sich etwas. Denken Sie doch mal an die Situation, als der kalte Krieg noch herrschte. Wer hätte gedacht, dass die Mauer fällt? Es dauert alles seine Zeit, aber es wird etwas geschehen. Macht und verkrustete Strukturen können nicht ewig aufrechterhalten werden. Solidarität ist immer stärker. Weltreiche zerfallen.

 

Herr Winckler, danke für das Gespräch.

 


Das Interview führte HLS-Redakteurin Katja Winckler (Die Namensgleichheit ist zufällig!)

Den kritischen Text "Ein Akt der Fürsorge" zum Thema "Arzt-Patienten-Verhältnis" von Martin Winckler können Sie auf der DGHS-Webseite lesen.