Fragen an die Schweizer Sterbehelferin Dr. Erika Preisig

"Ich werde deutschen Boden nicht mehr betreten"

727_0624_2015-06-20-bercef_1.jpg

Dr. Erika Preisig, Basel
Dr. Erika Preisig, Basel

BERLIN. (dghs) Das Interesse an der innerdeutschen Debatte um ein "Recht auf Letzte Hilfe" war auch in unserem Nachbarland Schweiz sehr hoch. Hatte man doch Hoffnung, dass sich der "Sterbetourismus" verringern lassen könnte. Nach Verabschiedung des Strafrechtsparagraphen 217 dürften die Anfragen nach legalen Freitodbegleitungen eher wieder ansteigen, aber werden sie erfüllt? Eine Ärztin stand Rede und Antwort.

hls: Mit welchen Gefühlen haben Sie als Vorsitzende von lifecircle und die zwei weiteren Sterbehilfeorganisationen, bei denen auch Deutsche Mitglied werden können, also "Dignitas" und "Ex International", die intensive innerdeutsche Debatte um ein Verbotsgesetz der organisierten Suizidhilfe verfolgt?

Dr. Preisig: Mit sehr viel Hoffnung, dass für Deutschland ein liberales Gesetz angenommen wird. Wir sind absolut überfordert mit all den Anfragen aus der ganzen Welt und es wäre für mich und die Stiftung Eternal Spirit (ET) eine sehr große Entlastung, wenn schon nur in einem einzigen Land die Freitodbegleitung (FTB) legalisiert würde.

Nun ist ein solches Gesetz, das organisierte Suizidhilfe mit bis zu drei Jahren Haft ahndet, gegen den Willen einer breiten Bevölkerungsmehrheit in Deutschland als § 217 StGB zum 10. Dezember 2015 geltendes Recht geworden. Wie verändert das Ihren Umgang mit Anfragenden aus Deutschland, die Ihre Hilfe möchten?

All unsere Mitarbeiter haben strikte Weisung, sich in keiner Form mit Deutschen über eine Freitodbegleitung (FTB) zu unterhalten oder Anweisungen zu geben. Wir haben das Glück, dass wir bei dem Verein lifecircle (LC) in der Lebenserhaltung arbeiten, also dürfen alle Angestellten weiterhin in diesem Bereich Auskünfte (Patientenverfügung, Pflege zu Hause, Palliativmedizin) geben. Aber sobald ein Mitglied von LC Informationen zur FTB wünscht, übernehme ich.

Es kann nicht sein, dass Deutsche von einem Verein als Mitglieder zweiter oder fünfter Kategorie behandelt werden. Es widerstrebt meiner innersten Überzeugung, den Deutschen keine Informationen mehr zu geben. Somit habe ich mich entschieden, als einzige Person innerhalb unseres Vereines den Deutschen weiterhin, und genauso wie bisher uneingeschränkt und mit hochstehender Qualitätssicherung alle gewünschten Auskünfte zu geben. Ich arbeite also genauso weiter wie vor dem Gesetz. Damit könnte ich mich strafbar machen in Deutschland. Somit werde ich in den nächsten Jahren nicht mehr nach Deutschland reisen, um mich einer Verhaftung zu entziehen.

Wie kann eine Behörde die Meinungsfreiheit in einer Demokratie so einschränken, dass wir nicht mehr miteinander kommunizieren können/dürfen? Wie kann eine Behörde der Bevölkerung ein Menschenrecht verweigern, das jedem zusteht? Ich akzeptiere das nicht.

Unsere Mitglieder aus Italien, Frankreich, England und vielen andern Ländern haben den Mut, mit ihren Angehörigen zu einer FTB in die Schweiz anzureisen wohl wissend, dass sie das Gesetz brechen in ihrem Land, dass sie bis zu 14 Jahre Haft riskieren, wenn sie ihre Angehörigen zur FTB in die Schweiz begleiten. Sie tun es trotzdem, sie akzeptieren das Gesetz ihres Landes nicht. Habe ich weniger Mut als diese Angehörigen aus aller Welt? Nein, ich wage es, gegen das deutsche Gesetz zu verstoßen, weil es ein absolut unmenschliches Gesetz ist, das nie hätte angenommen werden dürfen.

Haben Sie kurz vor Verabschiedung des Gesetzes eine stärkere Nachfrage von Hilfesuchenden aus Deutschland erlebt?

Ja, die Anfragen haben sich extrem vermehrt, wir konnten nicht alle Menschen auffangen.

Wer sich als Deutscher bei aussichtsloser Erkrankung den Notausgang über eine Freitodbegleitung in der Schweiz sichern will, muss zuvor den Kontakt zu einer Schweizer Organisation suchen, dort Mitglied werden und dann seine Krankengeschichte belegen. Wie prüfen Sie nach, ob die Angaben zur Erkrankung wahrheitsgemäß sind?

Es wäre optimal, wenn wir jedes Mitglied zu Hause besuchen könnten, dies geht nicht wegen Zeitnot. Wir können aber mit immer mehr Deutschen Hausärzten offen Kontakt haben. Manchmal kommt sogar der Hausarzt mit an die FTB in die Schweiz, weil er seinen Patienten im letzten Moment nicht alleine lassen will. Wir haben mit den Mitgliedern so lange sehr persönlichen Kontakt, dass wir anhand der diversen Arztberichte, persönlichen Briefe, Telefonate und Mails sagen können, dass die Krankheit wirklich besteht. Wenn wir Zweifel haben, rufen wir nach Einholung der Erlaubnis der Betroffenen, den Arzt an.

Hier würde die FTB zu Hause durch den Hausarzt eine enorme Erleichterung bringen. Der Hausarzt kennt seinen Patienten am besten, und weiß auch, ob er durch jemanden unter Druck gesetzt wird. Aber überlegen Sie, wie sehr muss jemand leiden oder sterben wollen, bis er Dokumente vorlegt, die nicht seinem Krankheitsbild entsprechen? Hat er in einem solchen Falle nicht das Recht darauf, sein Leben ohne Gefahr des Scheiterns zu beenden?

Früher sind Sie selbst nach Deutschland gereist, um Vorgespräche mit den Sterbewilligen zu führen? Handhaben Sie das nach Verabschiedung des § 217 StGB immer noch so?

Ich werde bis zur Annullation dieses schrecklichen menschenverachtenden Paragraphen nicht mehr deutschen Boden betreten.

Haben Sie es schon erlebt, dass ein begleitender Angehöriger nach seiner Rückkehr aus der Schweiz von den deutschen Behörden befragt wurde?

Es wurde mir noch nie davon berichtet.

Alle Schweizer Selbstbestimmungsorganisationen haben im Januar über die neue deutsche Rechtslage miteinander beraten. Was ist die wichtigste Konsequenz aus diesem Gespräch?

Jede Organisation verhält sich anders in den Konsequenzen gegenüber deutschen Mitgliedern. Konsens ist, dass niemand sicher weiß, welche Konsequenzen und Gefahren das neue Gesetz wirklich bringt. Alle Organisationen haben ihre Missbilligung gegen dieses neue Gesetz ausgesprochen und können nicht nachvollziehen, warum dieses angenommen wurde, entgegen der Mehrheit des Bevölkerungswunsches.

Sie haben sich in den letzten Jahren immer sehr dafür eingesetzt, dass deutsche Schwerstkranke ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende auch im eigenen Land wahrnehmen können. Was würden Sie deutschen Ärzten, die im (vom Gesetz als legal beschriebenen) Einzelfall dabei helfen wollen, raten?

Alle sollten dieses eine Mal ausschöpfen, und den deutschen Behörden einen Bericht abliefern über ihre Erfahrung, verbunden mit der Frage, wie sie nun vorgehen sollen, falls noch einer ihrer Patienten unheilbar krank und schwerstleiden, mit einem Todeswunsch an sie herantritt. Aber wie können denn die deutschen Ärzte helfen, wenn Natrium-Pentobarbital (NAP) in Deutschland verboten ist? Sollen sie mit Helium und unsicheren Medikamenten arbeiten? Das ist ein Hohn gegenüber Ärzten, die bereit wären, ihren Patienten zu helfen, und auch den Patienten selbst gegenüber.

Was glauben Sie, wie lange das Verbot der organisierten Suizidhilfe in Deutschland Bestand haben wird?

Glauben hilft wenig, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Deutschland kennt (beim Schwangerschaftsabbruch, d. Red.) die Fristenlösung und hat sie legalisiert. Es wurde lange darum gerungen.

An pflegebedürftigen Personen, insbesondere wenn sie ausgeliefert sind und sich nicht wehren können, kann man über Jahre hinweg viel Geld verdienen in Spitälern, Pflegeheimen, Hospizen. Ich denke, dass auch ein wirtschaftliches Interesse die Akzeptanz der FTB behindert. Zudem bestehen fast fanatisch-religiöse Gruppierungen, die sowohl Finanzen wie auch Einfluss haben und ebenfalls blockieren. Diese ökonomisch-ideellen Hindernisse werden wir noch lange nicht überwinden können.

Ich hoffe, dass in zwei bis drei Jahren eine andere, menschenfreundliche Sterbekultur auch in Deutschland an Boden gewinnt. Zudem bin ich überzeugt, dass wir in 15 Jahren ein ganz großes Problem haben werden. Dann sind die "Babyboomer", und mit ihnen auch ich, gegen 75 Jahre alt.

Meine Generation wird sich nicht dreinreden lassen, nicht im Leben, und nicht im Sterben. Diese Generation wird nicht ins Pflegeheim gehen. Sie wird sich rüstig halten und zu Hause wohnen bis zuletzt. Bei dieser Generation wird man eine Kultur des Sterbens fordern, bei der man den Tod rufen darf als Erlösung, bei der man nicht gezwungen wird, im Pflegeheim auf den Tod zu warten.

Die Zukunft wird durch unüberwindbare finanzielle Probleme im Gesundheitswesen auch die Behörden zwingen, umzudenken. Wir tun sehr gut daran, rechtzeitig gute kontrollierbare Strategien zu entwerfen um in den kommenden Jahren einen Missbrauch einer liberalen Anwendung der FTB zu verhindern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte die stellv. HLS-Chefredakteurin Wega Wetzel, das Interview erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der DGHS-Zeitschrift "Humanes Leben, Humanes Sterben" (HLS).