Doch er hatte zur Folge, dass mein Vater 1973 die DDR enttäuscht verließ. In Nigeria gab es gerade einen Militärputsch, sodass er dorthin nicht zurück konnte und nach London ging, von wo aus er bis zu seinem Tode für eine fortschrittliche afrikanische Zeitung arbeitete.
Dann gab es lange Zeit keine Grenzüberwindungen mehr in unserer Familie. Wir lebten hinter der Mauer, die auch antifaschistischer Schutzwall genannt wurde. Und die DDR schützte uns vor viel Offenheit und vor ein wenig Wohlstand, sie schützte uns auch davor, dem Staat aufrichtig begegnen zu können und die Welt besser kennenzulernen. Sie schützte ihre Bürger – auch gegen ihren Willen. So ergab es sich, dass Menschen aus unserem Land flohen. Manche hatten Gründe, die unter die Genfer Flüchtlingskonvention fielen. Aber andere auch nicht: Sie wurden weder wegen ihrer Religion verfolgt, noch wegen der politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe wegen. Manche waren schlicht Wirtschaftsflüchtlinge, die einfach ein besseres Leben haben wollten. Selbstverständlich hatten diese Menschen ein Recht darauf. Ebenso selbstverständlich würden wir das heute nicht mehr gestatten. Da kann ja jeder kommen.
Nicht die Welt ist verrückt, sondern wir verrücken die Welt.
Migration gab es immer und wird es immer geben, sie gehört zur menschlichen Daseinsgeschichte. Weltweit wurde schon immer ein- und ausgewandert. Es kommen und gehen Wohlstandsmigranten genauso wie Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge. Und jeder von ihnen hat nur dieses eine Leben! Und wir machen daraus ein Ranking. Denn es geht immer mehr um Nützlichkeiten, die Migranten je nach Bedarf ein- oder ausschließen. Flüchtlinge ersticken in Containern, verdursten in der Wüste, ertrinken im Mittelmeer. Europa ist dann geschockt – und schottet sich ab. Was für eine Konsequenz?!
In unserer Familie reden wir darüber.
Mein Sohn (er ist heute 26) erzählte, dass es strafbar ist, wenn man Flüchtlinge aus der Seenot rettet. Wir wollten das gar nicht glauben. Doch es stimmt! Wer es "riskiert", Ertrinkende zu retten, kann vor Gericht landen (Wie die Besatzung der Cap Anamur im Juli 2004 vor der sizilianischen Küste). Pufferstaaten wie etwa Italien, Malta, Spanien oder Griechenland werden mit ihren Problemen oft allein gelassen. Dort gibt es längst einen Einwanderungsnotstand! Und Europa? Schaut betroffen drein, und – erinnert sich seiner geografischen Staatsgrenzen. Mein Sohn fragt: "Wenn wir also schon innerhalb der EU unsolidarisch sind, wie wollen wir dann gegenüber Flüchtlingen solidarisch sein?"
Meine Tochter (sie ist heute 21) findet sogar, wir sind ja nicht einmal in Deutschland untereinander solidarisch – und sie fragt sich: Warum wird aus einem Europa-Problem eigentlich so schnell ein Kommunal-Problem? So ganz ohne Zwischenstopp auf Bundesebene? Warum müssen die Kommunen die Unterbringung und Versorgung allein finanzieren? Genau dadurch wird doch die Stimmung vor Ort angeheizt. Ist das in Deutschland so gewollt?
Und meine Mutter fand es immer zynisch, dass vor Afrika die Küsten leer gefischt werden und die Fischer ihre Arbeit verlieren. Dass EU-Lebensmittel in Afrika billiger sein können als die der einheimischen Bauern. Wir berauben sie ihrer Existenz und wundern uns dann, wenn sie zu uns kommen? Ist es nicht ein Menschenrecht, sein Land verlassen zu können und sich woanders eine neue Existenz aufbauen zu wollen? Gelten europäische Werte wie Freiheit und Toleranz nur für Europa?
Wenn wir da so diskutieren, kommen wir schnell auf das Problem mit Europa: Die Idee von Europa ist eine hervorragende. Sie soll nicht kleingeredet werden – aber sie war mal größer.
In Europa geht es noch zu wenig um Menschen und zu sehr um Regelungswerke. Europa wird als Wirtschaftsraum wahrgenommen. Oder als bürokratisches Monster. Oder als Dickicht, das schwer zu durchschauen ist. Begriffe wie Fördermittelaufstockung und Grenzschutzagentur Frontex – all das macht die Menschen müde. Europa sollte mehr gelebt werden. So wie hier, heute Abend.
Nicht nur die Menschen sollten sich um Europa – Europa sollte sich eben auch um die Menschen bemühen. Mehr als 500 Millionen Menschen leben in der EU – da müsste es doch auch Millionen Gründe geben, sich Europa zuzuwenden? Viele Europäer können nicht einmal zehn Gründe nennen. Gestern fielen die letzten Schranken der EU für Bulgarien und Rumänien. Und was steht heute in den Medien?: "Deutsche Städte sind überfordert von dem Ansturm aus Osteuropa". Oder: "Alle fürchten einen Sozialleistungs-Tourismus". Das klingt nach Ängsten und Sorgen – nicht nach Freude.
Europa ist zweifelsohne eine geografische Tatsache (mit 46 Staaten), die Europäische Union (mit 28 Staaten) dagegen wirkt manchmal wie eine politische Behauptung. Ein Beispiel: Mein Sohn – er studierte in Amsterdam und lebt jetzt in London – hat im Grunde keinen ungewöhnlichen Lebenslauf für einen jungen Menschen von heute. Junge Menschen sind neugierig auf Europa, sie wollen es erobern. Aber Europa ist noch immer nicht auf sie eingestellt: Weder bei Studienangelegenheiten, noch bei Versicherungen oder Netzbetreibern.
Ich könnte Ihnen zum europäischen Auslandsstudium etliche Beispiele nennen, bei denen Ämter oder Unternehmen komplett ratlos reagieren. Wie stellt man welche Angelegenheit um? Und das nach 22 Jahren EU!
Dass Europa sich immer verändern wird, sich immer wieder neu denken muss – das ist seit der Gründung 1992 klar.
Dass Europa keine Selbstverständlichkeit ist – auch.
Aber, dass Europa auf sich selbst bis heute nicht richtig vorbereitet ist – das überrascht.
Wie sollen die Menschen Europa verstehen, wenn sich Europa nicht einmal sich selbst versteht?
Warum bündelt Europa nicht seine besten Argumente? So, dass sie jeden erreichen.
Sich mit etwas zu identifizieren, und sei es mit sich selbst, ist der Anfang von allem.
Sich eine Meinung zu bilden, sein Handeln zu überdenken, eine Leidenschaft oder wenigstens doch ein Interesse zu entfachen – ohne diese Würze geht es nicht.
Dazu muss man erfahren: Was sagen die Europäer zu Europa? Dazu muss man erklären: Was ist eigentlich der europäische Mehrwert? Dazu muss man klarstellen: Was ist relevant für Europa?
Die Sensibilität der Menschen darf nicht unterschätzt werden. Die Menschen dürfen nicht unterschätzt werden.
Die Generation, die uns folgt, stellt vieles in Frage. Etwa dies: Wie notwendig sind geografische Grenzen überhaupt noch? Das klingt revolutionär, und ist es auch. So revolutionär klang einst vielleicht auch mal die Idee von Europa...
Europa wird immer eine Herausforderung bleiben. Ja, der Mensch hat die Neigung sich gern selbst im Weg zu stehen. Aber nein, er hat auch die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Wir brauchen anhaltende Aufklärung, Überzeugung und Identitätsbewusstsein.
Ich gebe zu, dass ich dabei auch selbst immer wieder meine eigene Haltung überprüfen muss. Ein letztes Beispiel: Im vergangenen Jahr habe ich eine Veranstaltung für unseren Verlag organisiert. Dabei ging es um Gentrifizierung, also um die Verdrängung vieler Mieter aus ihren hiesigen Kiezen. Es ging um unseren kleinen Berlin-Kosmos. Ich erzählte meinem Sohn (da lebte er schon in London) am Telefon, wie ich die Veranstaltung nennen wollte. Sie sollte heißen: "Wie viel Berlin bleibt den Berlinern?" Ich fand das sehr patriotisch. Mein Sohn war entsetzt. "Mom, wie kommst du darauf? Berlin gehört nicht den Berlinern!" Zuerst war ich verblüfft. Dann stellte ich mir vor, London würde nur den Londonern gehören. Und heute frage ich: Gehört Europa nur den Europäern?
Die Geschichte meiner Familie ist eine Geschichte von Aus- und Einwanderung:
- Deutschland,
- China
- Nigeria
- England
- die Niederlande
– aber: Sie ist keine Geschichte von Heimatlosigkeit.
Jeder Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen, seiner Erlebnisse, seiner Eigenarten. Jeder Mensch ist so vieles. Ich bin gern eine Weltbürgerin. Ich bin gern eine Europäerin. Ich bin auch gern Deutsche. Und Hand aufs Herz: Wenn Sie mir zum ersten Mal begegnen – noch bevor sie meinen Dialekt gehört haben – würden Sie glauben, dass ich eine waschechte Berlinerin bin?
Ich glaube an Europa. Auch Europa macht noch Erfahrungen, um diese später anwenden zu können. Daher halte ich es heute – wie einst schon meine Mutter: Ich traue den Menschen etwas zu.