Berlin: Neues Wahlpflichtfach "Weltanschauungen/Religion"

Revanche der CDU für die Niederlage von 2009?

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Altes Klassenzimmer

Völlig überraschend für die Öffentlichkeit einigten sich CDU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag 2023 auf die Einführung eines Wahlpflichtfachs "Weltanschauungen/Religionen". Eine auch nur im Ansatz erkennbare relevante politische Bedeutung hatte dieses Thema weder im Wahlkampf 2021 noch im Wahlkampf 2023. Von Seiten der CDU wird offenbar immer noch nicht das Ergebnis des Volksentscheids von 2009 respektiert. Oder geht es ihr in Wirklichkeit doch um etwas Anderes? Geht es (vor allem) um "Staatsknete" für die großen christlichen Kirchen?

Wochenlanges Rätselraten herrschte in Berlin darüber, was die Koalitionäre in ihrer Vereinbarung gemeint haben könnten. Über eine "späte Revanche" für die katastrophale Niederlage der religiös Gesinnten im Jahr 2009 wird ebenso spekuliert wie darüber, dass sich die SPD ohne Not von der CDU habe über den Tisch ziehen lassen, dass es sich aber eigentlich lediglich um eine weitere Kirchenfinanzierung aus Steuermitteln handele; manche - insbesondere aus dem SPD-Spektrum – setzen auf unüberwindliche bürokratische Hürden, die das Vorhaben auf faktischer Ebene letztlich scheitern lassen würden.

Ein Blick auf die Grundrechtslage zum Religionsunterricht: anders als in den meisten Bundesländern gilt Artikel 7 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach ist, in Berlin nicht. Berlin fällt unter die Regelung des Art. 141 des Grundgesetzes (sog. Bremer Klausel), wonach die grundgesetzliche Garantie des Religionsunterrichts in solchen Bundesländern nicht gilt, in denen am 1. Januar 1949 bereits eine andere landesrechtliche Regelung zum Religionsunterricht bestand.

Berlin derzeit: "Ethik" ist Pflichtfach, "Religion" nur freiwillig

Die derzeitige Rechtslage ist seit dem Volksentscheid von 2009 in Berlin eindeutig und übersichtlich: es besteht ein für alle Schüler*innen verbindliches Pflichtfach Ethik; daneben können Religionsgemeinschaften auf freiwilliger Basis Religionsunterricht anbieten, ohne dass dies ein ordentliches Schulfach wäre. Zensuren werden deshalb auch nicht erteilt und das Fach hat keine Versetzungsrelevanz. Ebenso verhält es sich mit dem vom HVD angebotenen Fach "Humanistische Lebenskunde", das nach langen rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen mittlerweile gleichberechtigt mit "Religionsunterricht" behandelt wird.

CDU hat nie das Ergebnis des Volksentscheids 2009 akzeptiert

Die CDU forderte stets ein verbindliches Lehrfach "Religionsunterricht". Sie unterstützte im Jahr 2009 vehement gemeinsam mit den beiden großen christlichen Kirchen und anderen Organisationen aus dem christlichen und islamis(tis)chen Spektrum die Initiative "Pro Reli". Diese Initiative scheiterte bei der Abstimmung zum Volksentscheid jedoch krachend. Eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden lehnte es ab, den Ethikunterricht als Pflichtfach für alle Schüler*innen abzuschaffen und ihnen stattdessen eine Wahl zwischen zwei Wahlpflichtfächern "Ethik" und "Religion" vorzuschreiben. Durchsetzen konnte sich seinerzeit die Initiative "Pro Ethik", unterstützt von Grünen, Linken, SPD, HU, HVD und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, darunter auch religiösen Gruppen. In der Volksabstimmung wurde trotz intensiver Werbung der beiden großen christlichen Kirchen – man denke nur an die umfänglichen Bemühungen des evangelischen Altbischofs Huber, der mit der Einführung des Pflichtfaches Religion sein Lebenswerk krönen wollte – und ihrer politischen Anhängerschaft der Vorschlag "Pro Reli" abgelehnt; nicht einmal das für einen Volksentscheid notwendige Quorum einer Beteiligung von 25 Prozent der Stimmberechtigten wurde erreicht, sondern mit lediglich 14,1 Prozent deutlich unterschritten.

Eine klare auch schmerzhafte Niederlage seinerzeit für die religiösen Kräfte in einem Bundesland, in dem schon 2009 die Bevölkerungsmehrheit konfessionsfrei war.

Die CDU hat diese Entscheidung bis heute nicht akzeptiert und es nicht aufgegeben, gegen das Ergebnis des Volksentscheides anzugehen, vermutlich auch, um ihrer Klientel das Vitamin "C" im Parteinamen als wirkmächtig vor Augen zu führen und religiös-konservative Stimmen auf sich zu ziehen.

Kommt jetzt die Revanche für die Niederlage 2009?

Jetzt, 14 Jahre nach der Niederlage, konnte die CDU einen wenngleich auch nur teilweisen Erfolg verbuchen. Im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU und SPD heißt es:

"Die Koalition strebt die Einführung eines Wahlpflichtfachs Weltanschauungen/Religionen als ordentliches Lehrfach an. In einem von fachlich ausgebildeten Lehrkräften erbrachten und von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften inhaltlich gestalteten Unterricht können Kenntnisse über Religionen und Weltanschauungen vermittelt werden. Das Fach Ethik bleibt in seiner bisherigen Form bestehen."

Über diese Formulierungen ist in Berlin in den letzten Wochen viel gerätselt worden, was nicht zuletzt an der eigentümlichen Formulierung des Vermittelns von "Kenntnisse(n) über Religionen und Weltanschauungen" gelegen hat. Denn dies hört sich nach bekenntnisneutralem Unterrichtsinhalten an (mit einem Lehrpersonal aus Religionswissenschaftler*innen), was aber im Widerspruch stünde zum ersten Teil dieses Satzes hinsichtlich des "von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften inhaltlich gestalteten Unterricht(s)".

Mittlerweile dürfte es aber hinreichend Klarheit geben: es geht um die Einführung eines Wahlpflichtfaches "Religions- bzw. Weltanschauungsunterricht", das zwar freiwillig von den Schüler*innen gewählt werden könnte, freilich nicht gewählt werden müsste, aber doch benotet und auch versetzungsrelevant sein würde.

Das vorgesehene Wahlpflichtfach erfordert "fachlich ausgebildete Lehrkräfte" und soll inhaltlich von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gestaltet werden: ganz so wie der konfessionelle Religionsunterricht in anderen Bundesländern.

Nicht durchsetzen konnte sich die CDU mit ihrer Forderung nach Abschaffung des obligatorischen Ethikunterrichts.

CDU kann Versprechen des Wahlprogramms nur teilweise umsetzen: "Ethik" bleibt Pflichtfach

In ihrem Wahlprogramm 2023, "Berlin-Plan" genannt, hatte die Union sogar gefordert: "Wahlpflichtfach Ethik/Religion und staatlichen Islamunterricht einführen. Wir werden sicherstellen, dass der Religions- und Weltanschauungsunterricht seinen festen Platz in der Schule hat und ein Wahlpflichtfachbereich Religion/Ethik eingeführt wird. Hierzu muss konsequenterweise auch staatlich verantworteter Islamunterricht gehören."

Aus dieser sprachlich verhunzten Formulierung wird man zunächst nicht so recht schlau, wird doch lediglich gefordert "sicher(zu)stellen", dass "Religions- und Weltanschauungsunterricht seinen festen Platz in der Schule hat". Von welcher "alternativen" Realität dabei ausgegangen wurde, ist unklar, haben doch Religions- und Weltanschauungsunterricht in Berlin ihren "festen Platz in der Schule", was sich bereits aus den Teilnehmendenzahlen an diesem Unterricht ergibt.

Im Ranking des Unterrichtsbesuches schnitten bislang am besten der evangelische Religions- und der Humanistische Lebenskundeunterricht ab. Römisch-katholischer Religionsunterricht liegt zahlenmäßig weit abgeschlagen auf Platz 3. Aktuell liegt der Lebenskundeunterricht sogar auf Platz 1, noch vor dem evangelischen Religionsunterricht.

"Wahlpflichtfachbereich Religion/Ethik", das war das zentrale Begehren der CDU; dies zeigt eindeutig, wohin die Reise rückwärtsgehen sollte: Abschaffung des in Berlin für alle Schüler*innen verbindlichen Pflichtfachs "Ethik". Dieses Ziel konnte die CDU nicht erreichen, denn, wie bereits erwähnt, bleibt es laut Koalitionsvertrag beim Pflichtfach "Ethik".

Katholische Siegesmeldungen

Aus römisch-katholischer Sicht wird allerdings ein großer Erfolg gemeldet: "Wie ein später Triumph der Bürgerinitiative Pro Reli" titelte "domradio" ("Der gute Draht nach oben"). Es heißt dort: "Es ist ein unerwartetes Versprechen im Koalitionsvertrag. CDU und SPD in Berlin wollen den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach machen. Damit würde eine langjährige Forderung der Kirchen umgesetzt." Zwar sieht auch Domradio, dass das Vereinbarte sich doch deutlich von den Zielen der damaligen Initiative PRO Reli unterscheidet, da das Pflichtfach Ethik nicht abgeschafft wird, sondern bleibt. Doch dieses Manko aus römisch-katholischer Sicht wird geschönt mit der Behauptung, dass dieser Unterschied "aus Sicht der Bürgerinitiative aber weniger ins Gewicht fallen dürfte. Ihr kam es vor allem darauf an, den Religionsunterricht aus der Ecke eines unverbindlichen Angebots an randständiger Stelle des Stundenplans zu holen." Stimmt zwar so nicht, klingt aber ganz hübsch. So produziert man Fake News.

Auffällig an dem gesamten Vorgang ist, dass dem Vernehmen nach die evangelische Richtung in Berlin von dieser Vereinbarung im Koalitionsvertrag überrascht gewesen sein soll. Natürlich wird von dort das Ergebnis nicht abgelehnt, aber die von römisch-katholischer Seite verbreitete Euphorie bleibt aus.

Leiter des katholischen Büros lässt die Katze aus dem Sack: Mehr Staatsknete

Geht es überhaupt oder lediglich auch um Revanche? Vielleicht geht es zumindest auch um etwas ganz anderes?

Gregor Engelbreth, Leiter des Katholisches Büros in Berlin/Brandenburg, hat es ausgeplaudert: In einem Interview mit Domradio hat er die Koalitionsaussage begrüßt, wusste aber eigentlich angesichts des breiten Angebots an Berlins Schulen auch nichts Plausibles zur Notwendigkeit eines Wahlpflichtfaches auszuführen und erwähnte lediglich, dass Religionsunterrichts derzeit "letztlich nur auf dem Niveau eines Angebots" liege.

Dann aber kommt es, zwar nur mit dürren Worten, denn Forderungen nach mehr Staatsknete aus der römisch-katholischen Organisation kommen – derzeit jedenfalls – nicht gut an. Nicht nur, aber jedenfalls wegen des sturen Festhaltens an den historischen Staatsleistungen aus der napoleonischen Zeit, die eigentlich einem Verfassungsauftrag entsprechend seit gut hundert Jahren abgelöst sein sollten, und wegen der Missbrauchsfälle sexualisierter Gewalt und deren zögerlicher Aufarbeitung.

Engelbreth wörtlich: "Letztlich ist es natürlich auch die Frage des Geldes." Da ist die Katze aus dem Sack. Hierzu muss man wissen, so Engelbreth zutreffend weiter: "Der Staat unterstützt zwar den Weltanschauungs- und Religionsunterricht mit Teilbeträgen, aber die Kirchen müssen einen wesentlichen Teil selbst dazu tragen."

Zum freiwilligen Religionsunterricht erhalten die Kirchen zwar Zuschüsse des Landes Berlin, müssen aber die Kosten des Unterrichts (einschließlich Personalkosten) grundsätzlich selbst aufbringen. Hierbei geht es um nicht geringe Millionenbeträge. Ganz anders wäre es, wenn Religionsunterricht Wahlpflichtfach würde: in dem Fall müssten sämtliche Kosten von den Steuerzahlenden aufgebracht werden. Ein enormer finanzieller Vorteil für die Kirchen.

Soll der HVD-Weltanschauungsunterricht ausgetrocknet werden?

Ein weiteres kommt hinzu. Nicht übersehen werden sollte – käme es zu der in Aussicht genommenen Gesetzesregelung –, dass ein unliebsamer Teilnehmer am weltanschaulichen Angebot in Schulen weitestgehend ausgeschaltet würde. Der Humanistische Lebenskundeunterricht müsste auch von "fachlich ausgebildeten Lehrkräften" durchgeführt werden, das heißt sie müssten ein Lehramtsstudium absolviert haben. Daran aber mangelt es, während die großen Kirchen nötigenfalls auch fachlich gerüstete Bewerber*innen aus anderen Bundesländern einsetzen könnten. Der "Heidenunterricht" in Berlin würde geschrumpft, was allerdings die Kirchen auch nicht stärker als jetzt füllen dürfte.

Kritik der Fachverbände: Welchen Kuhhandel hat die SPD betrieben?

Kritik kommt unterdessen von den Fachverbänden Ethik und Philosophie. In deren kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Presseerklärung wird gefragt: "Was hat die SPD sich bloß dabei gedacht? Oder besser: welchen Kuhhandel hat sie betrieben, als sie der CDU in den Koalitionsverhandlungen anbot, das Fach Religion als staatliches Schulfach an die Oberschulen zu holen?"

Die Verbände stellen aus fachlicher Sicht fest, dass das einzurichtende Schulfach gar nicht über genügend Lehrkräfte verfügen würde: "Konkret bedeutet das für die Schulen: Sie müssen einen neuen Wahlpflichtbereich bilden, für den es nicht nur so gut wie keine Lehrkräfte gibt (vgl. TSP vom 11.4.23) – es fehlt auch an Fächern, die zur Wahl stünden. Der Plural in "Religionen" ist Augenwischerei, denn allein für den christlichen Religionsunterricht stünden überhaupt Lehrkräfte, wenn auch zu wenige, zur Verfügung – staatlich ausgebildete Lehrkräfte für den Islam, den Buddhismus usw. derzeit nicht. Und was ist mit "Weltanschauungen" gemeint? Bekannt in Berlin ist der Humanistische Verband, der bereits Lebenskunde an den Grundschulen erteilt. Aber darüber hinaus?"

Gefragt wird von den Verbänden auch nach der Ursache für die Koalitionsvereinbarung zum Religionsunterricht: Mit der jetzigen Regelung solle "nun Schluss sein. Aber warum nur? Wer fordert unter Schüler*innen, Eltern, Schulleiter*innen oder Lehrer*innen eine Veränderung? Die Anzahl der Wochenstunden erhöhen will niemand. Forderungen nach mehr Wirtschaft, mehr IT, auch mehr Nachhaltigkeit sind hörbar.

Aber mehr Religion? Und diese als ordentliches Lehrfach? Das ist nicht nur nicht gesetzeskonform – es wird auch im schulischen Kontext nicht gefordert. Uns jedenfalls ist nichts davon zu Ohren gekommen. Hinter verschlossenen Türen allerdings muss der Partei, die das C in ihrem Namen trägt und die damals vor dem Volksentscheid von 2009 die Initiative "PRO RELI" unterstützte, wieder eingefallen sein, dass sie den Kirchen etwas schuldet. Und dass die SPD, was das Fach Ethik betrifft, damals doch eher gespalten war. Der Moment schien gekommen, Verlorenes zurückzufordern. Und die SPD willigte ein – im Tausch wogegen ist bisher nicht bekannt.

"Das Fach Ethik bleibt in seiner bisherigen Form bestehen", heißt es weiter im Koalitionsvertrag. Man will ja keine schlafenden Hunde wecken. Das Kalkül dahinter könnte sein: Neben Ethik wird dieser neue "Wahlpflichtbereich" seitens der Schulen kurzerhand als undurchführbar gelten. Die senatsseitige Antwort wird lauten, dann stehe Religion eben "leider" doch zu "Ethik" in Konkurrenz. Kurzum: Es geht um ein "Bauernopfer". Es ist ein Schritt rückwärts und ein Schritt an den Bedarfen der Berliner Stadtgesellschaft vorbei. Wer Toleranz und Verständigung unter unseren Schüler*innen wirklich fördern will, sollte besser das Stundenkontingent in dem dafür bereits zuständigen Lernbereich Gesellschaftswissenschaften erhöhen – sprich, auch im Fach Ethik."

Koalitionsvertrag: Kampfansage (nicht nur) an Ethiklehrkräfte

In einem Land wie Berlin ist das jetzige im Koalitionsvertrag genannte Vorhaben, Religionsunterricht zum Wahlpflichtfach zu machen, eine reine Provokation und, wie die Verbände es formuliert haben: "Für die Ethiklehrkräfte und für alle, die sich für das säkulare Fach Ethik eingesetzt haben, klingen diese Worte wie eine Kampfansage."

Ja. es ist eine Kampfansage. Es ist davon auszugehen, dass die Berliner Zivilgesellschaft die Revanche für 2009 und das Einverleiben weiterer staatlicher Finanzmittel durch die Kirchen nicht akzeptieren wird.

Der Widerstand formiert sich bereits.

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