"Ich traue den Menschen etwas zu"

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Foto: Screenshot des Blogs von Abini Zöllner bei der Berliner Zeitung abinizoellner.berliner-zeitung.de

BERLIN. (hpd) Anfang Januar hat das Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem musikalischen Programm "Weltblech und der Sprung über Grenzen" seine Aktivitäten im Jahr 2014 aufgenommen. In diesem Jahr jedoch beeindruckte besonders eine Rede von Abini Zöllner.

Mittlerweile hat es schon Tradition, dass das Forum Berlin das neue Jahr mit Darbietungen des internationalen Ensembles "Weltblech" beginnt.

Zeigte sich das Publikum von den musikalischen Darbietungen schon sehr beeindruckt – den Ausführungen der Berliner Schriftstellerin und Journalistin Abini Zöllner lauschten die Anwesenden dermaßen gebannt, dass man in dem überfüllten Saal eine Stecknadel hätte fallen hören können. Abini Zöllner sprach darüber, welches Europa eigentlich von den Menschen gewollt würde, welche Werte mit Europa verbunden würden – aber auch darüber, welche Rolle Grenzen dabei spielen.

Eindrucksvoll machte ihre Rede, dass sie nicht abstrakte Begriffe aneinanderreihte, sondern das Thema aus ihrer eigenen familiären Sicht anging: beginnend mit ihrer 1925 in Berlin geborenen Mutter, die als Jüdin mit ihren Eltern 1937 emigrierte, in Shanghai die Nazizeit überlebte, 1950 in die DDR kam, wo sie den aus Nigeria stammenden späteren Vater der gemeinsamen Tochter Abini kennenlernte und heiratete. Grenzen überwindend und doch immer wieder (geistige) Grenzen erlebend – etwa, wenn der Parteisekretär, der mit dem Vater gemeinsam auf Parteiveranstaltungen applaudiert hatte, dann aber die Mutter fragte, ob es denn ausgerechnet ein Kind von einem "Neger" hätte sein müssen... So konnte das Publikum eine eindrucksvolle Reise durch Zeit und Raum des letzten Jahrhunderts miterleben und durch diese Art der Darstellung einen anderen Blick auf Europa und dessen grundlegende Werte gewinnen.

Und zwar mittels einer von den Menschen ausgehenden Betrachtung - anders als sonst, wenn Zahlen und Statistiken die Basis der Betrachtung bilden.

Walter Otte

 

Der hpd veröffentlicht im Folgenden und mit Erlaubnis der Autorin die Rede von Abini Zöllner im Wortlaut:


Essay zum Neujahrskonzert Weltblech und der Sprung über Grenzen am 2.1.2014

Europa ist keine Selbstverständlichkeit

Mein Name ist Abini Zöllner – und mein Name klingt heute Abend wie die Ironie des Schicksals: Denn Zöllner stehen normalerweise als Beamte an Landesgrenzen, um eben jene Grenzen zu sichern. Ich aber stehe heute vor Ihnen als Summe mehrerer Identitäten.

Mich würde es nicht geben, gäbe es keine durchlässigen Grenzen.

Meine Mutter, sie war eine echte Berlinerin, kam 1925 in Pankow zur Welt. Sie hatte eine glückliche Kindheit, es gab keinen Grund, etwas an ihren Umständen zu ändern – aber: Die Umstände änderten sich. 1937 emigrierte meine Mutter mit ihren Eltern und ihrem Bruder, denn sie waren jüdisch. Die anderen Verwandten, die hier blieben, hofften auf ein Wunder – doch niemand von ihnen hat Deutschland überlebt.

Die Ausreise war nicht einfach. Die USA hatten lange Wartelisten und wiesen viele Juden ab. Italien, die Schweiz und viele andere Länder verhielten sich damals sehr restriktiv. Nur in Shanghai war eigentlich noch möglich, was sonst die ganze Welt verweigerte: Zuflucht. Mit den Einreisevisa nahm man es dort nicht so genau – und so retteten die Chinesen viele Menschenleben.

Mit der Transsibirischen Eisenbahn kam meine Mutter also in jener letzten Zuflucht an.

Bis hierher – und wie weiter?

Als die vier im August 1937 im Exil eintrafen, war dort gerade der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg ausgebrochen, und es tobte die Schlacht um Shanghai. Die Japaner waren Verbündete von Nazideutschland, die Sowjetunion unterstützte die Chinesen. Zwei Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus und 1941 kämpften dann auch US-amerikanische GIs in China gegen die Japaner.

Die Welt war verrückt geworden. Die größte Herausforderung war es, in diesen Wirren Mensch zu bleiben.

1950 verließ meine Mutter das Exil; viele ihrer Freunde gingen nach Amerika oder nach Israel. Wir fragten meine Mutter später, warum sie sich ausgerechnet für Deutschland entschieden hatte? Deutschland war zu jener Zeit nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt das von allen angefeindete Land gewesen. Meine Mutter antwortete: "Die Menschen waren hier eine Zeit lang einem fatalen Irrtum erlegen. Doch ich traue den Menschen etwas zu. Nämlich nicht nur Erfahrungen zu machen, sondern diese auch anwenden zu können." Und meine Mutter behielt recht.

Sie landete in der DDR, weil Pankow nun mal im Ostsektor lag. Hier errichtete sie sich ein neues Leben, ohne das alte zu verleugnen. Das war kein bequemer Weg. Denn die DDR blendete die historische Verantwortung aller Deutschen aus. Sie war ja nicht der NS-Staat und Antisemitismus war nicht ihre Erfindung. So erklärte die DDR ihre Bürger zu einem Volk von Antifaschisten und sich zur Siegerin der Geschichte. Als hätte sie die guten Menschen gegen die bösen ausgetauscht.

Ich fragte meine Mutter, ob sie das nicht gestört hat? Sie sagte: "Ich ging ja nicht in den deutschen Staat zurück, sondern in die deutsche Heimat. Das ist ein Unterschied!".

15 Jahre nach ihrer Rückkehr lernte meine Mutter, die oft als Dolmetscherin für Chinesisch, Englisch oder Russisch arbeitete, meinen Vater kennen. Er war ein überzeugter Kommunist, ein glühender Verehrer der Sowjetunion und Mitglied der Arbeiter- und Bauernpartei Nigerias. Er kam also aus Westafrika. Mein Vater engagierte sich, lernte russisch, arbeitete im Untergrund und entging nur knapp einer Verhaftung. Er wurde nach Moskau geschleust, wo er die zentrale Parteihochschule "W. I. Lenin" besuchte, kam dann in die DDR, und studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Journalistik. Auch er überwand für seine Überzeugung Grenzen.

Da begegneten sich zwei Schicksale aus zwei völlig unterschiedlichen Welten. Ich muss und ich kann es so sagen: Wenigstens die Liebe kennt keine Grenzen...

Nach zwei Jahren wurde meine Mutter schwanger. Der Chef meiner Mutter war ein strammer Parteigenosse – also von derselben Idee überzeugt wie mein Vater. Auf Parteikongressen hätten er und mein Vater Seit an Seit nebeneinander begeistert geklatscht. Jener Chef also gratulierte meiner Mutter und sagte: "Ich freu mich für dich. Aber muss das Kind ausgerechnet von einem Neger sein?" Die Welt war verrückt geblieben. Meine Mutter wunderte sich kurz über die gedanklichen Grenzen ihres Chefs. Und entschied dann: Es sind seine Grenzen, nicht ihre! Das war mein Glück.

Meine Mutter war Jüdin, mein Vater Yoruba – meine Eltern ließen mich protestantisch taufen. In unserer kleinen Familie gab es also drei Religionen. Ich empfand das als großen Reichtum. So wie ich auch meine Hautfarbe nie als Benachteiligung, sondern immer als großes Kompliment empfand, dass ich meinen Eltern zu verdanken hatte. Ich hatte sozusagen eine recht grenzenlose Menschwerdung.

Mein Vater wurde in der DDR als geistige Elite fachlich, aber auch ideologisch herangezogen, um dann eines Tages entsprechend vorbereitet in sein Heimatland zurückzukehren. Jedoch hat er sich mit den Jahren auch ein eigenes Denken gestattet – und kam zu dem Schluss: "Sozialismus funktioniert nicht, so lange Menschen daran beteiligt sind". Ein ebenso kluger wie entidealisierender Satz.

Vor zwei Jahren hatte ich erstmals die Möglichkeit, Einsicht in seine Stasi-Akte zu nehmen, natürlich wurde er als Ausländer beobachtet. In der Akte attestierte man ihm hervorragende marxistisch- leninistische Kenntnisse, aber man warf ihm vor, dass er "aufgeschlossen gegenüber anderen Meinungen" war. Was für ein absurder Vorwurf...