(hpd) Das "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" liegt in seiner 22. Ausgabe mit zwölf Aufsätzen zu drei Themenkomplexen vor. Es beschreibt die Angst vor einer angeblichen "jüdischen Rache" nach 1945, den Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft und Fallstudien zu historischen Aspekten des Antisemitismus. Alle Beiträge stammen von Kennern der jeweiligen Thematik.
Das "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" versteht sich als Forum für wissenschaftliche Beiträge, die sowohl auf die Feindschaft gegen Juden wie auch gegen andere Minderheiten bezogen sind. Es erschien in den ersten zwanzig Ausgaben unter der Herausgeberschaft des Historikers Wolfgang Benz, dem langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
Die nun vorliegende 22. Ausgabe ist die zweite unter der Herausgeberschaft seiner Nachfolgerin in beiden Funktionen, Stefanie Schüler-Springorum. Inhaltlich und strukturell änderte sich dadurch aber nichts an dem bewährten Konzept, denn das Jahrbuch bleibt sowohl inhaltlich international wie perspektivisch interdisziplinär ausgerichtet. Indessen will Schüler-Sprinorum offenbar einen stärkeren Schwerpunkt auf die geschichtswissenschaftliche Perspektive legen, was die Hervorhebung der "Grundlagen der quellenkritischen historischen Forschung" (S. 8) als Grundlage für das Jahrbuch im Vorwort andeutet.
Die zwölf Beiträge finden sich in drei thematische Schwerpunkte eingeteilt: Im ersten Block werden Beiträge der Sektion "Schuld – Sühne – Recht" auf dem deutschen Historikertag 2012 dokumentiert. Laura Jockusch fragt nach der Rolle des "Jüdischen Weltkongresses" im Kontext der Nürnberger Prozesse, Elisabeth Gallas schildert das Wirken der "Jewish Cultural Reconstruction" nach 1945 und Ulrike Weckel und Mark Roeseman behandeln in ihren jeweiligen Aufsätzen die Furcht vor einer "jüdischen Rache" nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der zweite Block dokumentiert die Beiträge einer Tagung der Reihe "Blickwinkel. Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft". Astrid Messerschmidt erörtert Antisemitismuskritik im Kontext geschlechterreflektierender und migrationsgesellschaftlicher Bildung, Heike Radvan stellt Überlegungen hinsichtlich einer geschlechterreflektierenden Prävention des Antisemitismus an und Barbara Schäuble präsentiert Ergebnisse einer Befragung zum Antisemitismus in der alltäglichen Kommunikation von Jugendlichen.
Der dritte Block beinhaltet unterschiedliche Fallstudien zur Geschichte des Antisemitismus. Dazu gehört etwa eine Darstellung und Einschätzung des judenfeindlichen Agierens des "heiligen" Johannes von Kapistran in Breslau 1453 von Peter Dinzelbacher. Hans Peter Müller geht den "Lehr- und Gesellenjahren" des "Berufsantisemiten" Alfred Roth im "Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband" nach. Den aktuellen Forschungsstand zu den Tätern und dem Verlauf des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941 als Beispiel für die nicht-deutsche Beteiligung am Holocaust bilanziert Grzegorz Rossolinski-Liebe. Marc Grimm geht der Begriffsgeschichte des "Philosemitismus" im affirmativen wie im kritischen Sinne nach. Und Alexander Sedlmaier und Freia Anders widmen sich der von deutschen und palästinensischen Terroristen durchgeführten Flugzeugentführung nach Entebbe von 1976, wobei es zu einer Trennung von jüdischen und nicht-jüdischen bzw. israelischen und nicht-israelischen Geiseln mit bis heute noch nicht restlich geklärtem Hintergrund kam.
Da die einzelnen Beiträge nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Perspektive her unterschiedlich ausgerichtet sind, können sie auch nicht in der Gesamtsschau gewürdigt werden. Ausnahmslos stammen sie von Kennern der jeweiligen Thematik. Mitunter fehlt es ein wenig an analytischen Aussagen in den stark historisch ausgerichteten Abhandlungen. In einigen Fällen bleiben wichtige Fragen offen, was aber nicht notwendigerweise den Autoren, sondern dem Forschungsstand anzulasten ist. Das gilt etwa für den letzten Beitrag zum "Unternehmen Entebbe 1976", wo es heißt: "Jenseits dieser Fakten gibt es verschiedene Narrative, die hinsichtlich der Kriterien, die die Entführer bei der Aufteilung und Freilassung ihrer Geiseln in Anschlag brachten, variieren" (S. 269). Die Antwort auf die Frage, ob es um die jüdische Religionszugehörigkeit oder die israelische Staatsbürgerschaft ging, ist immerhin von zentraler Bedeutung für die Einschätzung dieser terroristischen Aktion als antisemitisch oder nicht. Die Quellenlage ist indessen unklar.
Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd. 22, Berlin 2013 (Metropol-Verlag), 294 S.